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Blick zurück in der Krise? Wie Deutschland an drei große Demokratiejubiläen erinnert

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Veröffentlicht/Copyright: 1. August 2025
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Zusammenfassung

In den vergangenen beiden Jahren wurden in Deutschland drei große Demokratiejubiläen begangen: 175 Jahre 1848er-Revolution, 75 Jahre Grundgesetz sowie 35 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall. Sie alle standen unter dem Eindruck aktueller Krisendiskurse um Demokratie und Parlamentarismus. Ausgehend davon diskutiert der Essay aktuelle geschichtswissenschaftliche Deutungsangebote sowie prägende Narrative und politisch-gesellschaftliche Dynamiken im öffentlichen Gedenken an diese drei Wegmarken der deutschen Geschichte. Nach einem kurzen Überblick zu den Demokratiejubiläen widmen sich die beiden folgenden Abschnitte zunächst der Erinnerung an 1848/49 sowie anschließend der an 1948/49 in Verbindung mit 1989/90. Das Fazit fragt, was Demokratie gedenken und erinnern im Deutschland der 2020er Jahre über die Zeitgeschichte der Demokratie als Geschichte der Gegenwart aussagt. Wie der Artikel zeigt, kennzeichneten die Demokratiejubiläen drei übergreifende Gemeinsamkeiten: Erstens eine gestiegene Sensibilität für demokratiegeschichtliche Leerstellen und Marginalisierungserfahrungen; zweitens eine größere Aufmerksamkeit gegenüber radikal- und direktdemokratischen Elementen demokratischer Teilhabe; und schließlich, drittens, eine herausgehobene Bedeutung von Bezügen und Kategorien „jenseits des Nationalstaats“, was sowohl lokal- und regionalgeschichtliche als auch transnationale und teils auch globale Perspektiven des Erinnerns einschließt.

Abstract

Three major democratic anniversaries have been celebrated in Germany in the past two years: 175 years of the 1848 revolution, 75 years of the Federal Republic of Germany’s Basic Law, and 35 years of the peaceful revolution and the fall of the Berlin Wall. All of them reflected the actual crisis discourses on democracy and parliamentarianism. Taking this as a starting point, the essay discusses current historiographical interpretations as well as dominant narratives and political-social dynamics in the public remembrance of these three landmarks in German history. After a brief overview of the anniversaries of democracy, the following two chapters are dedicated to the remembrance of 1848/49 and then to that of 1948/49 in connection with 1989/90. The conclusion asks what commemorating and remembering democracy in Germany in the 2020s tells us about the contemporary history of democracy as a history of the present. As the article shows, the democratic anniversaries were characterised by three overarching commonalities: firstly, an increased sensitivity to blank spaces in the history of democracy and experiences of marginalisation; secondly, a greater attention to radical and direct democratic elements of democratic participation; and finally, thirdly, an increased importance of references and categories that go “beyond the nation state”, which included local and regional as well as transnational and, in some cases, global perspectives of remembrance.

Demokratie hat Konjunktur – in der Öffentlichkeit wie in der Geschichtswissenschaft. In dem Maße, wie sich demokratische Werte und Ordnungen in den vergangenen Jahren wachsender Skepsis und teils unverhohlener Ablehnung gegenübersehen, hat sich ebenfalls die historische Forschung der Thematik wieder verstärkt zugewandt. Das gilt insbesondere für die Zeitgeschichte, die damit zugleich zu einem ihrer Kernthemen zurückkehrt, das bei ihrer Disziplinbildung, zumal in Deutschland, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Pate gestanden hatte. Aber Demokratiegeschichte ist auch darüber hinaus en vogue. So erfreut sich das Feld in den vergangenen Jahren einer regen Forschungs- und Publikationstätigkeit, die ebenfalls in einer breiteren Öffentlichkeit auf großes Interesse stößt.[1]

2023/24 waren nun gleich drei Demokratiejubiläen zu begehen und wurden damit verstärkt zum Gegenstand historischer Erinnerung und Einordnung: 175 Jahre 1848er-Revolution und Paulskirche, 75 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz sowie 35 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall auf dem Weg zur Wiedervereinigung. In Zeiten, in denen sich Demokratie ebenfalls in Deutschland fortgesetzten Anfeindungen ausgesetzt sieht, geben diese Ereignisse mehr als genug Anlass für historische Rückschauen und Deutungen im Kontext aktueller Herausforderungen. Das betrifft die Geschichtswissenschaft ebenso wie die historisch-politische Bildung und nicht zuletzt Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Wie wird dieser Ereignisse von unterschiedlicher Seite im Einzelnen, aber auch in der Gesamtschau gedacht? Wie werden sie zueinander in Bezug gesetzt und möglicherweise in übergreifende Narrative eingebettet? Und was verraten diese unterschiedlichen Demokratiegeschichten über den Umgang der deutschen Gesellschaft mit Geschichte und Demokratie heute?

Entlang dieser Fragen und Perspektiven möchte dieser Essay einen Rückblick auf den aktuellen Umgang mit Demokratiejubiläen unternehmen. Dabei konzentriert er sich auf die Wahrnehmungen, Darstellungen und Deutungen in Geschichtswissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. In einem ersten Teil wird ein kurzer Überblick dazu gegeben, wie diese Demokratiejubiläen in den vergangenen beiden Jahren begangen und welche weiteren Jahrestage dabei mal mehr, mal weniger offenkundig mitverhandelt wurden (I). Die folgenden zwei Abschnitte widmen sich dann den einzelnen Demokratiejubiläen, zunächst der Erinnerung an 1848/49 (II) sowie anschließend der an 1948/49 in Verbindung mit 1989/90 (III). Dabei werden geschichtswissenschaftliche Perspektiven, vornehmlich anhand prominenter Neuerscheinungen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mit dominanten Tendenzen und Dynamiken im öffentlichen Gedenken in Bezug gesetzt. Fazit und Ausblick versuchen sich schließlich an einer Gesamtschau und der Frage, was Demokratie gedenken und erinnern im Deutschland der 2020er Jahre über die Zeitgeschichte der Demokratie als Geschichte der Gegenwart aussagt.

I. Demokratie zu Tisch: Aktuelle Demokratiejubiläen und ihre ungebetenen Gäste

Paulskirche, Grundgesetz und friedliche Revolution: Für Politik und Gesellschaft sind die drei genannten Jubiläen zunächst einmal Anlass zum Feiern – im Dreiklang der in der öffentlichen Erinnerung immer wieder bemühten Bezüge untereinander als gemeinsamer demokratiegeschichtlicher Ressource sowie jeweils einzeln und für sich genommen. Das gilt insbesondere für 75 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz sowie 35 Jahre friedliche Revolution in der DDR, mit Abstrichen ebenfalls für die Revolution von 1848/49, der jedoch zugleich immer noch die Geschichte des Scheiterns und des Unvollendeten anhaftet. Diese in die 1848er-Revolution und die Erinnerung an sie gleichsam eingeschriebene Ambivalenz spiegelt sich teilweise ebenso in den anderen beiden Demokratiejubiläen wider, wenn auch weniger deutlich und unter anderen Vorzeichen. Das zeigt sich zum einen in den aus heutiger Perspektive an die historischen Ereignisse herangetragenen Defizitgeschichten mit unterschiedlicher Akzentsetzung, wenn etwa auf die zeitgebundene Beschränktheit ihrer demokratischen Maßstäbe und Dimensionen von Repräsentation hingewiesen wird, auf marginalisierte bzw. ausgeschlossene Gruppen etwa, oder wenn die demokratiehistorischen Ereignisse an ihren mehr oder weniger erfolgreichen Nachgeschichten gemessen werden. Zum anderen und vor allem aber werden die drei Demokratiejubiläen in einem gesellschaftlichen Umfeld begangen, das sich seiner selbst und seiner bisher sicher geglaubten Werte ungewiss geworden ist. Wie wird Demokratiegeschichte erinnert, wenn Demokratie nicht mehr als unwiderruflich Erreichtes mit eingebauter Ewigkeitsgarantie, sondern als zerbrechliches Gut erscheint, das sich Skepsis und Anfeindungen von unterschiedlicher Seite ausgesetzt sieht sowie immer stärker in die Defensive gerät, und das nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo in Europa und der Welt?

Damit kommen zugleich weitere Schlüsseldaten der deutschen Geschichte ins Spiel, die sich kürzlich ebenfalls mehr oder weniger rund jährten. Drei davon werden, vor allem in Politik und Öffentlichkeit, mit den genannten Demokratiejubiläen im Speziellen und Demokratiegeschichte im Allgemeinen meist implizit, teilweise auch explizit mitverhandelt. Das betrifft zunächst zwei Schlüsseldaten der Weimarer Geschichte. Das erste, das hundertjährige Jubiläum von 1918/19, liegt zwar bereits einige Jahre zurück, dennoch hat es die Weimarforschung dynamisiert, und im Kielwasser dieser und anderer Weimarer Jahrestage findet weiterhin eine rege Forschungs-, Publikations- und Veranstaltungstätigkeit statt, nicht zuletzt unter demokratiehistorischen Auspizien.[2] Lässt sich 1918/1919 mit der Erinnerung an Revolution und Republikgründung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg noch vergleichsweise gut in die von 1848/49 über 1948/49 bis 1989/90 reichende Demokratiegeschichte einordnen, wenn auch stets mit der Perspektive ihres Scheiterns vor Augen, so gilt das für das zweite Schlüsseldatum 1923 weit weniger.

Dennoch oder gerade deshalb hat das „Krisenjahr der Weimarer Republik“ anlässlich seiner hundertsten Wiederkehr einen kleinen Publikationsboom in den Geschichtswissenschaften ausgelöst.[3] Eine ganze Reihe neuerer Fach- und Sachbücher nimmt es zum Ausgangspunkt, um von den in ihm komprimierten Ereignissen und Entwicklungen die Geschichte der Weimarer Republik und der Zwischenkriegszeit zu erzählen: in regionaler und nationaler, europäischer oder gar globaler Perspektive, teils in vergleichsweise bekannten Bahnen, teils aber auch mit neuen Akzenten und häufig mit einem Brückenschlag zu aktuellen Krisen und Herausforderungen demokratischer Gesellschaften.[4] Zugleich werden 1923 im Speziellen sowie Weimar und die Zeit zwischen den Weltkriegen im Allgemeinen ebenfalls in öffentlichen Reden und in gesellschaftlichen Debatten immer wieder dann bedeutungsschwer bemüht, wenn Analogien und Resonanzen zwischen den „alten“ und den „neuen“ zwanziger Jahren, jenen des 20. und denen den 21. Jahrhunderts, etabliert werden.

Und schließlich markiert, drittens, bekanntermaßen und dennoch häufig ausgeblendet, 1949 nicht nur das Gründungsjahr der Bundesrepublik, sondern ebenfalls das der DDR: Letzteres spielt in der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung nur eine untergeordnete Rolle. Steht es im Vordergrund, dann nur als Antithese und Kontrast zum mit der Gründung der Bundesrepublik mittel- und langfristig Erreichten. Zugleich wird die erfolgreiche Demokratiegeschichte auf der einen häufig mit einer Art Demokratieersehnungsgeschichte auf der anderen Seite mit der Mauer in Verbindung gesetzt, um im Idealfall in einer gesamtdeutschen Erfolgsgeschichte von Demokratie in Deutschland aufzugehen. Zugleich wird dadurch die Gründung der Bundesrepublik mit der friedlichen Revolution verbunden. Den Kitt bildet das Grundgesetz, dessen Geltungsbereich nun das geeinte Deutschland umfasst.

Paradigmatisch dafür steht die von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an unterschiedlichen Orten vorgetragene Deutung, die eine Linie von 1848/49 über die fragile Weimarer Demokratie bis hin zum Bonner Grundgesetz und der friedlichen Revolution von 1989 zieht. So verwahrte er sich in seiner Rede zum zentralen Festakt 175 Jahre Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main zwar gegenüber einer „geradlinigen Erfolgsgeschichte“. Zur „Wirkungsgeschichte der Paulskirche“ hielt er anhand der dort verabschiedeten, wenn auch nicht in Kraft getretenen Verfassung jedoch fest:

„Die Einigung Deutschlands durch eine bundesstaatliche Verfassung, auf demokratischer Grundlage und mit Grundrechten für das deutsche Volk – damit war die Paulskirche ihrer Zeit voraus. Vieles davon ist, manchmal wörtlich, in die Weimarer Verfassung und unser Grundgesetz übernommen worden.“[5]

Und bereits zwei Monate zuvor, anlässlich eines republikanischen Banketts zu Ehren der Märzrevolution in Schloss Bellevue, bei dem mit Christopher Clark und Hélène Miard-Delacroix ebenfalls zwei bekannte europäische Historiker:innen einen Toast ausbrachten, benannte er diese nicht nur als eines der „wirklich wichtigen Ereignisse unserer Demokratiegeschichte“, sondern schlug gleich auch den großen historischen und europäischen Bogen:

„Und diese Ideale lebten später wieder auf – in der Novemberrevolution von 1918, in der Weimarer Reichsverfassung und der ersten deutschen Republik; im Widerstand gegen die Nazis; nach der Befreiung 1945 in den demokratischen Parteien in der Westzone und im Bonner Grundgesetz; 1989 in den Friedlichen Revolutionen in der DDR, in Polen, Ungarn, im Baltikum und der Tschechoslowakei.“[6]

Nun mag man sich fragen, mit welchen Widersprüchlichkeiten die Erinnerung an revolutionäre Barrikaden und Bankette im staatstragenden Gewand eigentlich einhergeht. „Erstaunlich“, fand etwa Jan-Paul Koopmann in der „taz“, „die nicht nur vom Bundespräsidenten vorgeführte Lust an Aufruhr, Widerstand und Straßenkampf.“[7]

Ungeachtet dessen hatte Steinmeier aber bereits zu Beginn seiner ersten, 2017 begonnenen Amtszeit Demokratie zum Leitthema seiner Präsidentschaft gewählt.[8] Dazu passt ebenso die Einrichtung einer bundeseigenen „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“, die 2021 entstand und ihm besonders am Herzen liegt.[9] Insofern spielen Demokratiejubiläen für die Repräsentations- und Geschichtspolitik des ohnehin als sehr geschichtsaffin geltenden Bundespräsidenten wenig überraschend eine zentrale Rolle. Das wird sich ebenfalls in den folgenden Ausführungen immer wieder zeigen.

II. Früher war mehr Lametta? Die 1848er-Revolution im Windschatten ihres 150-jährigen Jubiläums

Nach der Bedeutung des 175. Jahrestags der 1848er-Revolution für die geschichtswissenschaftliche Forschung haben bereits andere gefragt. So haben etwa Manfred Hettling und Theo Jung in jüngeren Beiträgen zum Thema bestehende Schwerpunkte und neuere Trends in der Forschung konzise herausgearbeitet sowie auf deren erinnerungskulturelle Dimensionen und ihre demokratiehistorischen Implikationen hingewiesen. Legt man ihre Texte nebeneinander, dann kristallisieren sich einige gemeinsame Befunde heraus. Eine geteilte Feststellung ist, dass das aktuelle Jubiläum offenbar nicht dieselbe dynamisierende Wirkung entfaltet wie dasjenige vor einem Vierteljahrhundert zur 150. Wiederkehr der Revolution. Während Hettling in seinem Beitrag für den „Merkur“ ebenso lakonisch wie treffend festhält, dass 1998 „erlebnismäßig mehr los“ war als 2023 und damit auf „vielfältige Erinnerungsveranstaltungen und -feiern“ sowie regelrechte „Revolutionsfolklore“, die das öffentliche Gedenken und Erinnern damals charakterisiert hätten, anspielt[10], notiert auch Jung, dass die Revolutionen von 1848/49 „derzeit nicht sehr hoch im Kurs“ stünden. Auch er unterstreicht stattdessen die große Bedeutung des 150. Jubiläums für die Auseinandersetzung mit 1848/49 in Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft.[11]

Beiden Einschätzungen ist zuzustimmen. Insbesondere auf dem aktuellen Markt der Neuerscheinungen zum Thema finden sich nur wenige genuin neue Darstellungen und Deutungen. Stattdessen ist eine ganze Reihe von Neuauflagen oder überarbeiteten Beiträgen zu verzeichnen, die auf etablierten Klassikern ruhen und meist um neuere Literaturtitel ergänzt worden sind.[12] Hinzu kommen Darstellungen weiterer, im Feld fest etablierter Autor:innen, die mit einflussreichen Monographien bereits in den 1990er Jahren die Forschungslandschaft zu 1848/49 maßgeblich mitgeprägt haben und nun mit erneuten Veröffentlichungen zum Thema aufwarten. Dazu gehört ein publizierter Vortragsband von Gabriella Hauch, einer der Pionierinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, in dem entsprechende Perspektiven auf die Revolution abermals eine wichtige Rolle einnehmen.[13] Ein weiteres Beispiel ist das neue Buch von Rüdiger Hachtmann zu Berlin in der 1848er-Revolution, mit dem er vor allem an seine Habilitationsschrift von 1997 anknüpft[14], aber auch neue Forschungstendenzen, etwa zu europäischen oder geschlechterhistorischen Perspektiven, aufnimmt[15]. Frank Engehausen schließlich widmet sich der Frankfurter Nationalversammlung in all ihren Facetten und damit einer „genuin nationalparlamentarischen Perspektive“, die damit explizit nicht den Anspruch erhebt, eine histoire totale der 1848er-Revolution zu schreiben, nicht ohne jedoch auf sich dadurch zwangsläufig ergebende Auslassungen hinzuweisen.[16]

Unter den originären Neuerscheinungen der vergangenen Jahre sind aus demokratiehistorischer Perspektive insbesondere drei von Interesse, die hinsichtlich ihres Zugangs und Zuschnitts sowie ihrer Zielgruppe sehr unterschiedlich daherkommen. Zwar richten sich alle drei auch an eine breitere Öffentlichkeit, dennoch ist das in der deutschen Übersetzung mehr als tausend Seiten umfassende Buch von Christopher Clark nicht nur vom Umfang her eine Darstellung, die auf dem Markt der Neuerscheinungen ihresgleichen sucht.[17] Mit dem titelgebenden „Frühling der Revolution“ sowie einem Zugriff, der dezidiert europäische und globale Verflechtungen berücksichtigt, knüpft der in Großbritannien lehrende Historiker zwar an etablierte Stichworte und immer wieder eingeforderte Forschungsperspektiven zur 1848er-Revolution an. Auf einer überaus breiten Quellenbasis löst er diese jedoch nicht nur systematisch ein, sondern verknüpft ein komplexes Panorama mit einer packenden Darstellung, die sich an eine breitere Leserschaft richtet, ohne dabei das Fachpublikum aus den Augen zu verlieren.

Anderen Zuschnitts präsentieren sich die weiteren zu nennenden Neuerscheinungen, die erste verfasst von dem Literaturwissenschaftler und (Krimi-)Autor Jörg Bong[18], die zweite von der promovierten Historikerin und freien Autorin Alexandra Bleyer[19]. Bei Bongs Buch handelt es sich um den ersten von insgesamt drei angekündigten Bänden, von denen bereits der vorliegende über 500 Seiten umfasst, obwohl er nur die Vorgeschichte und ersten Monate des Revolutionsgeschehens abdeckt. Bleyer nimmt die gesamte Zeitspanne in den Blick und begnügt sich mit gut der Hälfte des Umfangs. Beide wenden sich dezidiert an ein breites Publikum.

Alle der hier nur kurz präsentierten Darstellungen waren an verschiedenen Orten Gegenstand ausführlicher Rezensionen und Würdigungen.[20] Doch welche neuen oder auch bekannten Facetten fügen sie der Revolutionshistoriographie aus demokratiegeschichtlicher Perspektive hinzu? Was sind gemeinsame oder konträre Deutungsmuster? Und inwiefern spiegelt sich die Gegenwart als Zeithorizont in den jeweiligen Interpretamenten wider?

Drei Aspekte sind hervorzuheben. Das ist, erstens, eine explizite Gegenwartsorientierung, ohne die kaum eine neuere Darstellung auskommt. Besonders deutlich wird das bei Jörg Bong, der sein Buch „den frühen Demokratinnen und Demokraten von 1848/1849“ widmet.[21] Gleich eingangs in seinem „Pariser Prolog“ konstatiert er, dass die Revolutionen von 1848 der „erste große europäische Kampf für Demokratien“ gewesen seien. Die Demokratie führt er als „neue“, „junge Heldin“ in seine Geschichte ein, umgeben von Gegner:innen und Feind:innen, von denen der ärgste die „Konstitutionellen“ gewesen seien, die sich selbst zur „resoluten ‚Ordnungspartei‘“ ernannt hätten.[22] Weit zurückhaltender und differenzierter argumentiert hingegen das Buch von Alexandra Bleyer, obwohl es sich, wie gesehen, gleichfalls an ein breiteres Lesepublikum richtet. Das unterstreicht schon der von ihr gewählte Titel „Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution“. Damit, so hat bereits Dieter Langewiesche hervorgehoben, charakterisiere sie zum einen pointiert die alles andere als geradlinige Wirkungsgeschichte von 1848/49, zum anderen verdeutliche sie, „warum diese Revolution, obwohl sie gescheitert ist, dennoch auf die Haben-Seite der Demokratiegeschichte gehört“.[23] Zwar skizziert Bleyer den Grundrechtekatalog von 1848 ebenfalls als Meilenstein und Vorbild, einen dezidierten Bogen zur Gegenwart und deren politischen Herausforderungen schlägt sie jedoch vor allem im letzten Abschnitt ihres Buches, wo sie festhält:

„Die Wurzeln der Demokratie reichen tief in die Geschichte zurück. Weder entstand sie von heute auf morgen, noch ist sie selbstverständlich; leider ist sie auch nicht unangreifbar. Angesichts gegenwärtiger Attacken durch Verfechter des autoritären Staates ist es umso wichtiger, sich mit ihrer Entstehung zu befassen – mit den Ideen, die ihr zugrunde liegen, und mit den Frauen und Männern, die für sie eintraten.“[24]

Auch Frank Engehausen betont in seiner „Werkstatt der Demokratie“, dass sich analog zu Grundrechtekatalog und Wahlgesetz, mit denen „Standards gesetzt wurden, die nachfolgende Generationen nicht ignorieren konnten“, auch „der von der Nationalversammlung – vor allem in der Anfangsphase lautstark proklamierte Grundsatz der Volkssouveränität“ nicht mehr so einfach beiseiteschieben ließ.[25] Zu einer ähnlichen Einschätzung der revolutionären Nachgeschichte, freilich in seiner breiten europäischen Perspektive, kommt schließlich ebenfalls Christopher Clark, wenn er betont, dass „die Revolutionen von 1848 in Wirklichkeit nicht gescheitert“ seien, denn: „In vielen Ländern bewirkten sie einen zügigen und dauerhaften konstitutionellen Wandel; und das Europa nach 1848 war oder wurde ein völlig anderer Ort.“[26] An der Gegenwart orientiert ist seine Darstellung auch, indem er immer wieder Verweise auf aktuelle Fragen und Herausforderungen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens einflicht, etwa wenn er Analogien zu revolutionären Ereignissen der jüngsten Geschichte, wie dem Arabischen Frühling 2011, aufruft oder darauf hinweist, dass „die Fragen, die die Aufständischen von 1848 stellten, nichts von ihrer Bedeutung verloren“ haben.[27] Das bezieht sich vor allem auf soziale Anliegen, die, so Clark, kaum an Dringlichkeit eingebüßt hätten, adressiert aber ebenso Fragen von Partizipation und politischer Aushandlung:

„Wie lässt sich die langsame Politik der Parlamente mit der schnellen Politik der Demonstrationen, Twitter, Flashmobs und außerparlamentarischen Bewegungen in Einklang bringen? Wann, wenn überhaupt, ist Gewalt eine legitime Form von Politik? Wie kann die Funktionalität liberaler Institutionen optimiert und gleichzeitig der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit oder nach tiefgreifenden – und möglicherweise unpopulären – Veränderungen Rechnung getragen werden, die erforderlich sind, um der Herausforderung des Klimawandels zu begegnen?“[28]

Bemerkenswert an der neueren Literatur ist darüber hinaus, zweitens, dass viele Aspekte, die 1998/99 noch an offizielles Gedenken und Erinnern wie an die historische Forschung programmatisch herangetragen wurden, ein Vierteljahrhundert später zwar nicht vollends eingelöst worden sind, aber doch Eingang in nahezu jede Gesamtdarstellung gefunden haben. Dazu gehören die Partizipation von Frauen sowie die Widerstände, denen sie sich weiterhin, selbst im revolutionären Lager, gegenübersahen, ebenso wie die Geschichte der Juden und Jüdinnen, für die 1848/49 sowohl die Verheißung der Emanzipation als auch die fortbestehende Konfrontation mit antijüdischen Stereotypen und Abwehrreaktionen bedeutete. Unter dem Rubrum solch ambivalenter Emanzipationsgeschichten lassen sich ebenfalls die Perspektiven von Arbeiterschaft und Landbevölkerung subsumieren, die schon in der bisherigen Historiographie eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Christopher Clark wiederum hat diesem Bild weitere wichtige Aspekte hinzugefügt, die er aus seiner breiten, über Europa hinausreichenden Perspektive einfangen kann: race als Kategorie und Sklaverei als Personenstatus, letzteres teilweise noch als innereuropäisches Phänomen, wenn er etwa auf das Schicksal von „Romasklaven“ in Südosteuropa und den Donaufürstentümern hinweist.[29]

Schließlich, und wie bereits mehrfach angeklungen, spielt in vielen Fällen, drittens, die räumliche Weitung und damit oftmals Dezentrierung des Revolutionsgeschehens eine bedeutsame Rolle. Wenn Christopher Clark in seiner Gesamtdarstellung das einlöst, was rund um das 150. Jubiläum 1998/99 zwar ebenfalls diskutiert, aber meist erst in den Jahren danach schrittweise, vor allem durch Einzelstudien, empirisch umgesetzt worden ist[30], hat diese europäische Perspektive samt ihrem Augenmerk für transnationale Ver-, aber auch Entflechtungen ebenfalls demokratiehistorische Implikationen. Dass Clark sich dezidiert vom so lange prägenden Narrativ des Scheiterns abwendet, dessen Wirkmächtigkeit er plausibel mit der Beharrungskraft einer national- und nationalstaatsfixierten europäischen Geschichtswissenschaft begründet, lässt die 1848er-Revolution als „kontinentalen Aufstand“ und als eine Art „Teilchenbeschleuniger im Zentrum des europäischen 19. Jahrhunderts“ erscheinen.[31]

Räumliche Dezentrierung bedeutet jedoch nicht nur Revolutionsgeschichte „jenseits des Nationalstaats“ (Jürgen Osterhammel), sondern ebenfalls eine Aufmerksamkeitsverschiebung innerhalb nationaler Historiographien, nicht zuletzt der deutschen und deutschsprachigen. Einerseits spiegelt sich dies in einer schon 1998/99 erkennbaren Tendenz wider, lokalen Komponenten sowie unterschiedlichen regionalen Ausprägungen der Revolution größeres Gewicht beizumessen. Andererseits geht damit eine Dezentrierung des demokratiehistorischen Orts von 1848/49 sowie eine Weitung der demokratiegeschichtlichen Perspektive einher. Jenseits eines repräsentativen, parlamentarischen Modells rücken damit radikal- und direktdemokratische Aspekte stärker in den Mittelpunkt. Denn lange Zeit und vor allem im Jubiläumsjahr 1998/99 bildete die Paulskirche als Zentrum parlamentarischer Aushandlung und als Bühne des liberalen Bürgertums den Zentralort der Erinnerung. Mit Karlsruhe und Rastatt machte sich zwar seinerzeit bereits eine regelrechte „Süderweiterung“ der Revolutionserinnerung bemerkbar, die in gewisser Weise mit der von Bundespräsident Gustav Heinemann initiierten, 1974 in Rastatt eröffneten Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte ihren Ausgang genommen hatte. 1998/99 hatte dieser Trend jedoch weniger einen programmatischen als einen spezifisch regionalpatriotischen Charakter.[32]

Claudia Gatzka wiederum hat in einem prägnanten Beitrag für die APuZ nicht nur unterstrichen, dass die „Revolution auf deutschem Boden […] diverse Zeiten und diverse Räume“ hatte, die allenfalls in Lokalgeschichten einzufangen seien, sondern auch noch einmal auf die demokratiehistorischen Blindstellen einer primär an Frankfurt ausgerichteten Zentralperspektive verwiesen.[33] Denn

„diese Zentrierung auf die Paulskirche im öffentlichen Gedenken an 1848 und ihre emphatische Gleichsetzung mit Demokratie verzerrt in nicht unerheblicher Hinsicht die historische Realität. Die Demokraten waren in Frankfurt nämlich eine Minderheit und bildeten die linke Opposition – die Mehrheit der Nationalversammlung, also die gemäßigten Liberalen und die konservativen Rechten, beriefen sich gar nicht auf die Volkssouveränität.“[34]

Während die konkrete Bedeutung der sich im Revolutionsgeschehen konstituierenden Exekutiven vor allem ein von Karsten Ruppert herausgegebener Sammelband herausgearbeitet hat[35], argumentiert Rüdiger Hachtmann ähnlich wie Claudia Gatzka. So spricht er in seinem aktuellen Buch zu 1848 in Berlin von der „informellen Hauptstadt Deutschlands“ und betont, dass sich die preußische Nationalversammlung nicht nur „politisch deutlich links von der Paulskirche profilierte“, sondern ebenfalls dezidiert „demokratische Marksteine“ setzte. „[G]erade aus heutiger Perspektive“, so der Berliner Historiker, gehöre die damalige Hauptstadt Preußens „zu den europäischen Revolutionsmetropolen“. Denn: „Auf ‚Berlin 1848‘ und seinen Traditionen basieren wesentlich die deutsche wie die europäische Demokratie.“[36]

Christopher Clark, der, wie gesehen, immer wieder den Bogen ins Heute schlägt, unterstreicht ebenfalls, dass die „Spannung zwischen parlamentarischen und anderen Formen der Repräsentation – zwischen repräsentativen und direkten Formen der Demokratie – […] ein weiteres Merkmal von 1848“ sei, „das noch in der heutigen, politischen Landschaft nachklingt“.[37] Während Clarks Sympathie klar zu den Liberalen und zum Liberalismus neigt[38], lautet Gatzkas These zugespitzt: Mehr Erinnerung an die Revolution wagen! Denn:

„Für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stand der März 1848, im Positiven oder im Negativen, nicht oder nicht nur für parlamentarische Politik, sondern für Volksversammlungen, für Umsturzversuche, für den Geschmack der Revolution. Das Paulskirchenparlament hingegen stand für die Einhegung der Revolution durch den Weg der Reform, und das hieß damals auch nachdrücklich: keine Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie – so wollte es die Mehrheit der Abgeordneten.“[39]

Ganz Ähnliches hat an anderer Stelle Wolfgang Geiger, derzeitiger Vorsitzender des Verbandes Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer, betont. Sein Beitrag in „Geschichte für heute“, der Zeitschrift des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, endet mit einem „Appell an uns Geschichtslehrerinnen und -lehrer, im Zuge einer berechtigten Betonung der Demokratiegeschichte die Vergangenheit nicht zu idealisieren“, indem das herausgestellt wird, was damals minoritär war, eine radikaldemokratische Position.[40] Bemerkenswert ist, dass Gatzka und Geiger an Argumente anknüpfen, die bereits vor 25 Jahren eine Rolle gespielt haben. So hatte schon Rüdiger Hachtmann seinerzeit in seinem großen, zweiteiligen Forschungsüberblick anlässlich des 150. Jubiläums die Überbetonung liberaler, und damit bürgerlicher Perspektiven zum Nachteil demokratischer oder gar sozialistischer Akteur:innen von Teilen der Forschung beklagt.[41] Zugleich hatte er auf die geschichtspolitischen Implikationen der klaren Entscheidung für Frankfurt am Main statt Berlin als erinnerungskulturellem Zentralort verwiesen.[42]

Letzteres, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter demokratiehistorischen Auspizien, soll zum Abschluss dieses Abschnitts noch einmal dezidierter in den Mittelpunkt rücken. Abermals Manfred Hettling hat in seinem im Oktober 2023 erschienenen Beitrag vermutet, dass der regionale Schwerpunkt des Festbetriebs, anders als 1998/99 beim 150-jährigen Jubiläum, dieses Mal eindeutig auf Berlin verweise.[43] Ob man dem nun aus der Rückschau zustimmt, ist sicherlich vom eigenen Standort und Sehepunkt abhängig. Unbestritten ist jedoch, dass Frankfurt und die Paulskirche die geschichtspolitische Debatte auch aktuell markant prägen, allein schon aufgrund der bereits seit einigen Jahren andauernden und weit über die Stadt hinausreichenden Auseinandersetzungen um die Gestaltung und In-Szene-Setzung der Paulskirche und mit ihr der städtebaulichen Frankfurter Stadtmitte.

2017 hatte der Frankfurter Magistrat entschieden, ein Gutachten zum Sanierungsbedarf des in die Jahre gekommenen Gebäudes in Auftrag zu geben. Im selben Jahr trat Benedikt Erenz in der „Zeit“ eine Debatte über dessen beklagenswerten baulichen und erinnerungspolitischen Zustand los.[44] Im Kern ging es darum, ob die Paulskirche wieder in ihren mehr oder minder ursprünglichen Zustand vor 1945 zu versetzen oder an der schlichten, betont nüchternen Architektur des Nachkriegsbaus von Rudolf Schwarz festzuhalten sei. An der sich zunehmend kontrovers gestaltenden Debatte nahmen ganz unterschiedliche Akteur:innen und Institutionen teil. Gewiss handelte es sich zunächst vor allem um eine Diskussion innerhalb Frankfurts.[45] Spätestens mit der Intervention des Bundespräsidenten gewann sie jedoch auch bundespolitische Züge. Angesichts des bevorstehenden 175-jährigen Jubiläums der 1848er-Revolution forderte Steinmeier im März 2019 in einem Namensbeitrag für die „Zeit“ nicht nur finanzielle Unterstützung des Bundes für die Paulskirche, sondern fragte, ganz im Einklang mit dem demokratiehistorischen Leitmotiv seiner Präsidentschaft:

„Warum hat Deutschland nicht den Ehrgeiz, die Paulskirche bis dahin zu einer modernen Erinnerungsstätte für die Demokratie zu machen? Ein authentischer Ort, der an Revolution, Parlamentarismus und Grundrechte nicht nur museal erinnert, sondern zu einem Erlebnisort wird, der Wissen, Bildung und Debatte verbindet?“[46]

Obgleich die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung im November 2019 die „Erhaltung und behutsame Modernisierung der selbst schon Denkmal gewordenen Architektur von Rudolf Schwarz, ergänzt um ein Haus der Demokratie“[47], beschloss, bedeutete dies nicht das Ende der Diskussion. Wichtige Stationen waren die Einsetzung einer ersten dreiköpfigen ad-hoc-Kommission im August 2020 durch den Bundespräsidenten in Schloss Bellevue[48] sowie die Ernennung eines zweiten, größeren Expertengremiums unter Vorsitz des ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder im Jahr darauf, die ihre Ergebnisse dem Bundespräsidenten im April 2023 übergab[49]. Weder die Arbeit der beiden Kommissionen noch der Verlauf der sie begleitenden Debatte soll an dieser Stelle in all ihren Details und Windungen nachgezeichnet werden. Drei durchlaufende Aspekte sind indes aus demokratiegeschichtlicher Perspektive besonders augenfällig.

Das ist, erstens, das Spannungsfeld zwischen Rekonstruktion und Gegenwartsorientierung. Während die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung in ihrem Beschluss davon sprach, „von einer historisierenden Sanierung“ Abstand nehmen zu wollen, trat eine wortmächtige Gruppe rund um den Bundespräsidenten und die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters zunächst dafür ein, „die Aura des authentischen Ortes wiederzubeleben und mit zeitgemäßen Vermittlungsformaten zu verbinden“.[50] In ein ähnliches Horn stieß wiederholt auch Herfried Münkler. Gemeinsam mit dem Direktor des Deutschen Architekturmuseums, Peter Cachola Schmal, und dem damaligen Präsidenten des Bonner Hauses der Geschichte, Hans Walter Hütter, war der Berliner Politikwissenschaftler vom Bundespräsidenten im August 2020 gebeten worden, erste Ideen für eine zukunftsfähige Paulskirche zu entwerfen. Denn mittel- und langfristig, so die Vorstellung Steinmeiers, solle sie zu einem „zentralen Symbol der deutschen Demokratiegeschichte“ werden.[51] Ihre erste Ideenskizze stellten die drei Experten zwei Monate später in der FAZ vor, die sie mit der apodiktischen Feststellung überschrieben, die Paulskirche sei „Ohne Aura“. Darin kritisierten sie die „betont nüchterne Ausgestaltung“ des Baus, die von der „radikalen Bußhaltung der unmittelbaren Nachkriegszeit“ durchdrungen sei, und sprachen von einem erinnerungspolitischen „Desaster“. Denn als Gedenkort besitze die Paulskirche weder ästhetische Evidenz noch eine Aura, „die den Besucher in die zu erinnernde Vergangenheit mitnimmt“. Als Platz der „nachdenklichen Melancholie“ habe sie dennoch das Zeug zum demokratischen Gründungsort mit „nationaler Strahlkraft“. Denn als Ermöglichungsraum eines „Neben-, Mit- und (friedlichen) Gegeneinanders unterschiedlicher Sichtweisen“ bilde sie nicht nur den Ausgangspunkt dessen, „was man heute als reflexiv-deliberative Demokratie bezeichnet“, sondern sei eine „Verbindungslinie, die von der Frankfurter Nationalversammlung bis zur politischen Verfasstheit Deutschlands in der Gegenwart reicht“. [52]

Scharfen Gegenwind erhielt diese Position von Philipp Oswalt im „Merkur“, in dem er sich 2021 einen dreiteiligen Schlagabtausch mit Herfried Münkler lieferte. „Was ist falsch daran“, fragte der Kasseler Architekturtheoretiker in einem ersten Beitrag, „dass man damals (1948) die Erinnerung an die Zeit von 1933 bis 1945 und die damit einhergehende Zerstörung des Bauwerks nicht übergehen wollte?“[53] Zwar bedürfe es fraglos einer Sanierung und Weiterentwicklung des Gebäudes, aber im Sinne einer aktualisierten Fortschreibung der Nachkriegsarchitektur von Rudolf Schwarz. Münklers Replik folgte postwendend in einer der nächsten Ausgaben[54], Oswalt reagierte abermals[55]. Inhaltlich blieb es im Wesentlichen bei den bereits ausgetauschten Argumenten. Programmatisch hatte sich die Debatte über die architektonische Zukunft der Paulskirche aber spätestens zu diesem Zeitpunkt auf den Dualismus „1848“ versus „1948“ verengt. Damit stand die Erinnerung an eine erfolgreiche Demokratiegeschichte bundesrepublikanischer Prägung der Neuentdeckung von 1848/49 als auratischem Ereignis mit gesamtdeutschen Sinnstiftungspotential gegenüber.

Den vorläufigen Schlusspunkt der Diskussionen bildete jedoch der Bericht, den die Kauder-Kommission im April 2023 vorlegte.[56] Darin plädierte sie unter anderem für eine „Modernisierung der Paulskirche auf Basis der seit 1948 überlieferten Substanz“, bei gleichzeitiger „Ablehnung materieller Rekonstruktion älterer Bauabschnitte“.[57] Mit dem dezidierten Bekenntnis „zum Erhalt der überlieferten Form des Wiederaufbaus von 1948“[58] schloss sie sich im Grunde der Einschätzung an, zu der die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung bereits 2019 gekommen war. Beide stellten sich damit bewusst in die bundesrepublikanische Erinnerungstradition der Paulskirche. Dem tiefen Einschnitt von NS-Gewaltherrschaft und Zivilisationsbruch soll damit auch künftig architektonisch Ausdruck verliehen werden.

Ungeachtet der unterschiedlichen Positionen in puncto historisierender Restaurierung waren sich die Debattenteilnehmer:innen jedoch, zweitens, in einem anderen Punkt einig: der drohenden Vereinnahmung der Paulskirche sowie von 1848 durch Kräfte von Rechtsaußen, die es zu verhindern gelte.[59] Das betrifft insbesondere unterschiedliche Versuche der AfD, sich in die Tradition der Paulskirche zu stellen. Diese gipfelten in Plänen der AfD-Bundestagsfraktion, ihren Fraktionssaal im Berliner Reichstag nach der Paulskirche zu benennen, was von der Bundestagsverwaltung und ebenso dem Ältestenrat, damals noch unter Vorsitz Wolfgang Schäubles, zunächst abgelehnt wurde. Entsprechende Wandbilder hatte die Fraktion dort bereits anbringen lassen. Neben anderen Stationen deutscher Geschichte aus den vergangenen zweihundert Jahren bemühen diese ebenfalls dezidiert das politische Erbe von Paulskirche und 1848er-Revolution, wohingegen die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ ebenso ausgeklammert bleiben wie die Gründung der Bundesrepublik oder die Zeit der DDR.[60] Das wirft die fortbestehende und in Zukunft vermutlich noch einmal virulenter werdende Frage auf, wie sich eine Vereinnahmung und Umdeutung demokratischer Traditionen von rechts verhindern lässt, wie sie bereits bei der versuchten Aneignung von Schwarz-Rot-Gold oder der friedlichen Revolution von 1989 beobachtet werden konnte.

Schließlich prägte, drittens, ein weiteres Argument die Debatte: Der nicht von der Hand zu weisende Vorwurf, dass die Erinnerung an Preußens Glanz und Gloria in den vergangenen Jahren größeren restauratorischen Ehrgeiz erfahren habe als viele Orte der Demokratiegeschichte. „Während in Potsdam die Garnisonkirche als Landmarke einer neokonservativen Sehnsuchtstopografie neu entsteht, mit Segen des Bundespräsidenten und viel Geld aus Berlin“, so bemängelte Benedikt Erenz bereits 2017, „scheint das Interesse der Nation an der Paulskirche erloschen.“[61] Diese Kritik griff Steinmeier in seinem bereits erwähnten Gastbeitrag für die „Zeit“ im März 2019 auf.[62] Dennoch wunderte sich Christian Staas auch 2023 noch, als er nach der Übergabe des deutlich weniger pathetisch und historisierend-restaurativ ausgefallenen Berichts der Kauder-Kommission an den Bundespräsidenten monierte:

„[A]ngesichts der Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses (vor dem im März 1848 preußische Soldaten auf Demokraten schossen) und der NS-belasteten Garnisonkirche in Potsdam erscheint die noble Zurückhaltung der Paulskirchen-Experten in einem unfreiwillig trüben Licht. Während das autoritäre Preußen fröhlich aufersteht, herrschen Skrupel, wenn es um die Freiheit geht?“[63]

Wenn wiederum an anderer Stelle der Historiker und Frankfurter CDU-Stadtrat Bernd Heidenreich fürchtete, die Frankfurter Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr könnten zur „Projektionsfläche für eine einseitige politische Agenda“ werden, indem Themen wie Klimawandel, Kosmopolitismus und Globalisierung sowie Formen direkter Demokratie einen großen Platz im Programm einnähmen, dann wird abermals das weiter oben adressierte Spannungsverhältnis von Demokratiegeschichte, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik dies- und jenseits des Nationalstaats deutlich.[64] Zugleich klingt dabei ein zunehmend auch in der bürgerlichen Mitte anzutreffendes Unbehagen gegenüber Themen und Werten an, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums als woke diffamiert werden. Auch in diesem Sinne spiegelt die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 im 175. Jahr ihrer Wiederkehr die unsichere Suche und (Neu-)Verortung der deutschen Demokratiegeschichte zwischen zwei erinnerungskulturellen Polen wider: Einerseits wurde der viel zitierte „Abschied vom Nationalstaat“ ebenfalls in politischen Debatten bereits vielerorts unternommen, andererseits besteht im vermeintlich „postnationalen Zeitalter“ weiterhin Unsicherheit darüber, was geschichtspolitisch an dessen Stelle treten soll – gerade angesichts von allenthalben wieder zunehmenden nationalstaatlichen Denk- und Handlungsmustern sowie immer lauter werdender nationalistischer Diskurse. Demgegenüber scheinen übergreifende Bezugspunkte wie „Europa“ oder ein an gleichfalls unsicher gewordenen universalen Maßstäben ausgerichteter Kosmopolitismus in den vergangenen Jahren, insbesondere in aktuellen Krisenzeiten, nur wenig geschichtspolitischen Halt zu versprechen. Dass umgekehrt auch eine hauptsächlich nationalgeschichtlich gerahmte Rückschau ebenfalls nicht umstandslos zur geschichtspolitischen Selbstvergewisserung taugt, haben umso deutlicher die beiden anderen im Jahr 2024 begangenen Demokratiejubiläen gezeigt: 75 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz sowie 35 Jahre friedliche Revolution.

III. Zerschnittene Tischtücher? Ost-West-Deutsche Demokratiegeschichten zwischen Grundgesetz und friedlicher Revolution

Bereits eingangs war davon die Rede, wie stark die drei 2023/24 begangenen Demokratiejubiläen in Gedenken und Erinnerung aufeinander bezogen werden, insbesondere im politischen Diskurs. Stellvertretend dafür schlug Bundespräsident Steinmeier in zahlreichen seiner Reden und Beiträge ausgehend von 1949 den Bogen nach vorn zur friedlichen Revolution von 1989 und betonte gleichzeitig beider historische Wurzeln in der 1848er-Revolution.[65] 1948/49 wird damit zum Scharniergelenk, das 1848/49 mit 1989/90 verbindet. Im Zentrum steht dabei die Erinnerung an das Grundgesetz, das, wie oben gesehen, in eine Reihe mit dem von der Paulskirche verabschiedeten, aber nicht in Kraft getretenen Grundrechtekatalog gestellt werden kann, ohne dass hierfür größere argumentative Anstrengungen notwendig wären. Zu offensichtlich und unumstritten ist diese Traditionslinie.

Größere Erklärungsmühen sind hingegen gefragt, wenn es darum geht, 1949, die Gründung der Bundesrepublik und die Verabschiedung des Grundgesetzes, mit 1989 in Bezug zu setzen. Die „Frage mancher Ostdeutschen, was diese ‚Westgeschichte‘ denn mit ihnen zu tun“ habe, beobachtete ebenfalls das Staatsoberhaupt ein ums andere Mal mit Sorge.[66] Dem verbreiteten Gefühl, „dass das nicht ihr Jubiläum ist“, setzte Steinmeier deshalb das Schlagwort vom „doppelten Jubiläum“ entgegen. Im „doppelten Jubiläumsjahr“ 2024 gelte es dementsprechend gemeinsam zu feiern, „dass erst 1989 das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für alle Deutschen eingelöst worden“ sei. Schon längst sei das Grundgesetz daher „kein ‚Bonner‘“ mehr.[67] Und zugleich könnten auch die

„vorangegangenen vier Jahrzehnte des Grundgesetzes den Ostdeutschen ebenfalls etwas bedeuten […]. Denn das Grundgesetz formuliert die Freiheitsrechte, nach denen sich viele Menschen in Ostdeutschland sehnten.“[68]

Wenn, wie in diesen und anderen Interventionen, west- und ostdeutsche Erfahrungen im Ringen um Grundrechte geschichtspolitisch eng aufeinander bezogen und miteinander ins Gespräch gebracht werden, dann wird die historische Bilanz – von 1949 und 1989 gleichermaßen – als nahezu uneingeschränkt positiv gezeichnet. Was als direkte Reaktion auf die teilweise und mintunter lautstark in der Öffentlichkeit geführten Debatten über die Defizite der Wiedervereinigungsgesellschaft verstanden werden kann, wirft dennoch die Frage auf, wie stark staatliche Geschichtspolitik auf der einen Seite sowie erinnerungskulturelle Erfahrungen und Diskurse, wie sie zumindest ein Teil der Gesellschaft auf der anderen Seite in Stellung bringt, im Jubiläumsjahr auseinanderklafften.

Wenig überraschend stellt sich die Bilanzierung von 1949 und 1989 auch in der Geschichtswissenschaft distanzierter, differenzierter und detaillierter dar. So werden im 75. Jahr ihres Bestehens einzelne bundesrepublikanische Institutionen mit eigenen Publikationen gewürdigt, wie etwa der Deutsche Bundestag.[69] Und obwohl der Rechtshistoriker Dieter Grimm kürzlich der deutschen Geschichtswissenschaft ins Stammbuch geschrieben hat, die Geschichte des Grundgesetzes sträflich zu vernachlässigen[70], nimmt es im Umfeld seines 75. Jubiläums vor allem in einigen Überblicksdarstellungen einen zentralen Platz ein. Das gilt für Habbo Knochs Buch zu dem gerade für das Grundgesetz so zentralen Konzept der „Würde“[71] oder die Darstellung von Ute Frevert, welche die Geschichte deutscher Verfassungen sowie ihrer Wahrnehmung und Akzeptanz in der Bevölkerung aus einer emotionshistorischen Perspektive untersucht.[72] Der Historiker Friedrich Kießling und der Jurist Christoph Safferling wiederum nehmen das zum Anlass, die langen Linien deutscher Demokratiegeschichte anhand einzelner Themenfelder nachzuzeichnen und mithilfe von acht Denkanstößen zu einer zukunftsorientierten Diskussion darüber anzuregen, „was an der Demokratie verändert werden muss, damit sie bleibt“.[73] Hinzu kommen Sonderhefte zum Thema, wie etwa das der APuZ, dessen titelgebendes Fragezeichen – „In guter Verfassung?“ – einen Ton widerspiegelt, der sich schon in vielen öffentlichen Bekundungen und Feierlichkeiten zum Jubiläum fand: Während die vorangegangenen Jahrestage des Grundgesetzes „meist Hochfeste der liberaldemokratischen Selbstvergewisserung“ gewesen seien, so das Editorial, läge über den aktuellen Feierlichkeiten „ein Schatten“.[74]

Im Unterschied zum politischen und öffentlichen Diskurs steht in der geschichtswissenschaftlichen Forschung jedoch weniger das Grundgesetz im Mittelpunkt[75], sondern meist die Bonner und teils auch die Berliner Republik als Ganze. Anders als vor rund 25 Jahren, zum fünfzigsten Geburtstag der Bundesrepublik[76], schlug sich die zeithistorische Beschäftigung mit dem Jubiläum zumindest bisher weniger in einer Fülle von Neuerscheinungen als vielmehr in zahlreichen Tagungen nieder. Sie bewegten sich zwischen Retrospektive und Neubewertung der Bundesrepublik und suchten damit gleichzeitig, eine kritische Bestandsaufnahme ihrer bisherigen Geschichtsschreibung vorzunehmen.[77]

Auffällig ist, dass nun verstärkt Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Schattenseiten ins Zentrum gerückt werden. Im Sinne einer „BRD noir“[78] geraten damit auch unterschiedliche Defizitgeschichten ins Sichtfeld, auf welche die bisher eindeutiger als Erfolgsgeschichten gerahmten Großnarrative der bundesdeutschen Historiographie lange Zeit den Blick verstellt haben. Denn teleologisch grundierte Ankunftserzählungen, wie „Westernisierung“[79] und „Liberalisierung“[80], die nicht zufällig zur Jahrtausendwende, also rund um den 50. Geburtstag der Bundesrepublik, erschienen sind, waren auch manifester Ausdruck einer sich damals ihrer Erfolgsbilanz sicheren bundes- und im Kern westdeutschen historischen Rückschau. Die zunehmend kritische Positionierung ihrer Ausgangsannahmen und ihrem Grundtenor gegenüber ist zum einen einem Generationswechsel in der deutschen Zeitgeschichtsforschung geschuldet, zum anderen spiegelt sie die stark gewandelte politische und gesellschaftliche Situation wider, in der sich heutzutage in vielerlei Hinsicht weniger selbstsicher und zukunftsoptimistisch auf das Erreichte zurückschauen lässt als ein Vierteljahrhundert zuvor. Und schließlich sind die sich abzeichnenden neueren Zwischenbilanzen zur bundesrepublikanischen Geschichte ganz wesentlich von konzeptionellen Entwicklungen und programmatischen Debatten beeinflusst, welche die Geschichtswissenschaft insgesamt in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten geprägt haben. Sie pochen auf die Berücksichtigung bislang wenig beachteter Akteur:innen und Perspektiven und rahmen „die Bundesrepublik“ als Untersuchungsgegenstand in vielerlei Hinsicht anders als zuvor.

Demokratiehistorisch ist das vor allem mit zweierlei verbunden: Zum einen mit dem Verweis auf das Auf und Ab von gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation, nicht zuletzt vor dem Hintergrund vielfältiger Gewalterfahrungen. Das unterstreicht insbesondere die seit kurzem verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit geratene Zeitgeschichte seit den 1990er Jahren, für die Schlagworte wie „Vereinigungsrassismus“ (Franka Maubach) und „Baseballschlägerjahre“ stehen.[81] Zum anderen machen solcherlei Defizitgeschichten Gruppen als Akteur:innen der bundesdeutschen Geschichte sichtbar, die in Gesamt- und Überblicksdarstellungen bisher allenfalls am Rande vorkamen: Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte oder people of color.[82]

An die Geschichte des Grundgesetzes wurde in den vergangenen Jahren insbesondere eine geschlechterhistorische Perspektive herangetragen. Während die „Mütter des Grundgesetzes“, vier an der Zahl, in der einschlägigen, erstmals 1998 erschienenen und dann 2008 sowie 2019 überarbeitet aufgelegten Studie von Michael Feldkamp nur wenig Raum einnahmen[83], wurde in jüngster Zeit systematischer nach der Rolle von Frauen für die Arbeit des Parlamentarischen Rats gefragt und die dort verhandelten Geschlechterfragen verstärkt ins Zentrum gerückt. Das schlägt sich ebenfalls in aktuellen Jubiläumspublikationen nieder, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richten, etwa in der Darstellung der ehemaligen Journalistin und nunmehrigen Hochschullehrerin Sabine Böhne-di Leo[84] oder einem vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Band zu den weiblichen Abgeordneten in dessen erster Legislaturperiode.[85] Das nimmt einen Trend auf, der die Zeitgeschichtsforschung in den vergangenen Jahren insgesamt geprägt hat. Diese hat nicht nur verstärkt auf entsprechende Blindstellen aufmerksam gemacht, sondern auch eine engere Verschränkung von Geschlechter- und Demokratiegeschichte eingefordert.[86] Den bisher weitgehend verkannten Beitrag konservativer Frauen zur Stabilisierung der Demokratie hat mit Blick auf die frühe Bundesrepublik beispielsweise Martina Steber herausgestellt.[87]

Obgleich frauen- und geschlechterhistorische Fragen an die Demokratiegeschichte nicht bloß für die frühe Nachkriegszeit, sondern zunehmend systematisch darüber hinaus, etwa für die Geschichte sozialer Bewegungen und Proteste[88], gestellt werden, wurden sie mit Blick auf das „doppelte Demokratiejubiläum“, das in den vergangenen beiden Jahren begangen worden ist, vor allem hinsichtlich 75 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz debattiert. Rund um das 35-jährige Jubiläum von friedlicher Revolution, „Wende“ und Wiedervereinigung rücken hingegen andere gruppenspezifische Leerstellen der Demokratiegeschichte in den Vordergrund.

Das sind einerseits die genannten Perspektiven der Migrationsgeschichte, die auch für 1989/90 ebenso nachdrücklich eingefordert werden wie rassismuskritische Fragestellungen. So hat Massimo Perinelli, Historiker bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bereits rund um den 30. Jahrestag der „Deutschen Einheit“ verschiedentlich nicht nur auf die bereits angesprochene Gewaltgeschichte der Wiedervereinigungsgesellschaft hingewiesen, sondern auch an den Rand gedrängte Erinnerungen daran thematisiert. So schreibt er in einem Beitrag für die APuZ [89]:

„Im nationalen Taumel des Mauerfalls gingen ökonomischer Druck, massive Entrechtung und grundlegende Anfeindungen mit alltäglichem sowie strukturellem Rassismus einher, den all jene zu spüren bekamen, die nicht zur ‚nationalen Gemeinschaft‘ gezählt wurden.“[90]

Diese zeitgenössische Marginalisierung schreibe sich, so Perinelli weiter, in einer fortbestehenden geschichtspolitischen, erinnerungskulturellen und auch historiographischen Randstellung fort:

„Eine systematische Geschichtsschreibung zum Mauerfall, die sich der Perspektive von Migrant:innen, von Juden und Jüdinnen, von Rom:nja und Sinti:zze, von ehemaligen Gastarbeiter:innen, von internationalen Studierenden, von Vertragsarbeiter:innen, von Schwarzen Deutschen, von Geflüchteten und Asylsuchenden verschrieben hat, ist bis heute bruchstückhaft.“[91]

Andererseits aber wurde rund um das aktuelle Jubiläum von friedlicher Revolution und Mauerfall ein ganz anderes Defizit gesamtdeutscher Demokratiegeschichte prominent in den Vordergrund gerückt: Die Marginalisierung spezifisch ostdeutscher Erfahrungen. Ein zentraler Aspekt ist dabei der rechtliche Modus der Wiedervereinigung, der nicht nur als entscheidende Wegmarke einer fortgesetzt asymmetrischen Beziehungsgeschichte von Ost und West markiert wird, sondern bis heute hohen symbolpolitischen Charakter hat. Ein Umstand bewegte und bewegt dabei besonders die öffentlichen Gemüter und wurde ebenfalls im Jubiläumsjahr immer wieder als vertane Chance debattiert: dass die DDR nicht nur nach Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten ist, sondern dass das wiedervereinigte Deutschland auch die noch danach bestehende Möglichkeit einer neuen gemeinsamen Verfassung nach Artikel 146 schlussendlich nicht ergriffen hat, trotz intensiver und mehrere Jahre andauernder Debatten darüber. Auch von der zeithistorischen Forschung wird das Thema seit einiger Zeit prominent reflektiert[92] und findet ebenso in aktuellen Neuerscheinungen seinen Niederschlag[93]. Mit Blick auf die mögliche Langzeitwirkung vor allem ostdeutscher Enttäuschungserfahrungen hält etwa Kerstin Brückweh in einem von ihr herausgegebenen Band prägnant fest: „Zur Debatte steht, ob die Verfassungsfrage quasi das Sinnbild für die ungleiche Zusammenführung der beiden deutschen Staaten darstellt.“[94]

Tatsächlich schreibt sich diese Frage in eine allgemeinere Auseinandersetzung darüber ein, was bei der Deutschen Einheit schiefgelaufen sei, welche Langzeitwirkungen dies auf ost-west-deutsche Befindlichkeiten habe und inwiefern darin die Ursache für aktuelle Krisensymptome der bundesdeutschen Demokratie zu suchen sei, die sich vor allem in Ostdeutschland bemerkbar machten. Dazu werden die hohen Wahlerfolge der AfD und, so muss man inzwischen ergänzen, auch des BSW gezählt, ebenso wie ein vermeintlich grundsätzliches Fremdeln „der Ostdeutschen“ mit dem bundes- und damit im Kern westdeutschen liberaldemokratischen Wertekonsens in innen- wie außenpolitischen Fragen – etwa mit „Wie hältst Du es mit Putin und der Ukraine?“.

Ihren publizistischen Niederschlag finden diese auf unterschiedlichen Bühnen ausgetragenen Debatten ebenfalls in einer Reihe viel diskutierter Buchbeiträge, die verschiedenen Formaten und Genres gehorchen und teils sehr unterschiedliche Thesen vertreten, aber bereits allesamt eine große Öffentlichkeit erreicht haben. Am prominentesten und provokantesten war und ist sicherlich die des Germanisten Dirk Oschmann. Sein zunächst auf einer Leipziger Tagung vorgestelltes Postulat vom „Osten“ als der „Erfindung des Westens“ wurde durch einen Beitrag in der FAZ im Februar 2022 auf einen Schlag medial bekannt sowie zugleich intensiv und kontrovers diskutiert.[95] Im Jahr darauf legte er mit einem Buch nach, das im Kern dieselben Ansichten vertrat und nochmals weiter ausholte. Freimütig bekennt sich der in Leipzig lehrende Literaturwissenschaftler darin zur bewussten Zuspitzung: „zorngesättigt und frei“ sei sein Ton. Denn: „Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‚differenzierter Darstellung‘. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht.“[96]

FAZ-Artikel und Buch gleichermaßen verknüpfen die Beobachtung von einer mit dem Fall der Mauer begonnenen und seitdem fortgesetzten Benachteiligung „des Ostens“ durch „den Westen“ mit Warnrufen zum Zustand der Demokratie. Nicht, wie es öffentliche Debatten und Einlassungen häufig nahelegten, der an seiner „Normalisierung“ und Angleichung an den Westen gescheiterte Osten trage die Verantwortung für die allenthalben sicht- und spürbaren Krisensymptome, sondern dessen fortgesetzte Zurücksetzung und Kränkung durch den Westen. Der auch deshalb als „heutiger Vertreter der Ostcolonial Studies“[97] geschmähte Oschmann resümiert:

„Wenn wir aus der Teilung des Landes nicht herausfinden, wird auch das Vertrauen in die Demokratie weiter schwinden und die Gesamtgesellschaft einen Schaden nehmen, der sie längerfristig an den Rand ihres Zusammenhalts führen dürfte.“[98]

Bei näherem Hinsehen lässt sich seine These von der Postvereinigungsmarginalisierung aber auch nochmals stärker generationell und genderspezifisch aufschlüsseln: Vereinigungsverlierer:innen, so das Argument, seien nicht nur vor allem Angehörige jener Generationen, die beim Mauerfall „zu alt“ für die Zumutungen der rasanten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, allen voran der brachialen sozioökonomischen Transformation gewesen seien, sondern vor allem Männer bestimmter Nachkriegsgenerationen. Schon in dem im Februar 2022 veröffentlichten FAZ-Artikel las man:

„Neuere soziologische Studien zeigen, dass eine seit 1990 gesamtgesellschaftlich stark benachteiligte Gruppe die der ostdeutschen Männer der Jahrgänge 1945 bis 1975 ist, das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR. Also präzise diejenigen, die von den überregionalen Medien besonders gern als Wutbürger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten oder einfach als unzurechnungsfähige stammelnde Primaten hergerichtet und zugerichtet werden. Das sind vielfach jene Leute, die sich 1989 in die Mündigkeit und Freiheit gekämpft haben – um dann auf andere Weise sofort wieder entmündigt zu werden, weil sie keine Macht, kein Geld, keine Beziehungen und oft keine Arbeit mehr hatten. Entmündigt, wohlgemerkt, von und in der Demokratie.“[99]

Zur selben Alterskohorte gehört wiederum auch der 1967 geborene Autor selbst. „In dem Zusammenhang“, so schreibt er, „ist es sehr aufschlussreich zu sehen, wie sich […] gerade in meiner Generation seit einiger Zeit immer stärkerer Widerstand gegen das eingeführte Narrativ und die herrschenden Diskursmuster artikuliert.“ Es scheine kein Zufall zu sein, dass „in den letzten Jahren die zweifellos wichtigsten Bücher zur innerdeutschen Frage von Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, und Steffen Mau, Jahrgang 1968, geschrieben wurden“.[100]

Der Versuch, sich mit diesen beiden Autoren gemein zu machen, wurde von den Angesprochenen allerdings in unterschiedlicher Form und Intensität zurückgewiesen.[101] Insbesondere Ilko-Sascha Kowalczuk könnte inhaltlich in dieser Hinsicht kaum weiter von Oschmann entfernt sein. Denn dessen „Grundthese, der Westen habe mit dem Osten gemacht, was ihm beliebte“, so der Historiker, sei „zu einfach und kaum mit historischen Realitäten in Übereinstimmung zu bringen“.[102] In seinem eigenen, 2024 erschienenen Essay „Freiheitsschock“ betrachtet er „Ostdeutschland“ stattdessen als eine Art Laboratorium, in dem sich „all die Kontroversen und Auseinandersetzungen im Kleinen ab[spielen], die es im Großen in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt zu beobachten gibt“. Im Mittelpunkt: „Freiheit versus Unfreiheit. Demokratie versus Diktatur.“[103]

Auch Steffen Mau möchte „das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie West“. In seinem ebenfalls 2024 veröffentlichten Buch „Ungleich vereint“ fragt der Soziologe danach, „warum sich in der Vereinigungsgesellschaft so viele Missverständnisse und Dissonanzen angehäuft haben und woher die ostwestdeutschen Verwerfungen rühren“[104]. Der nach der Einheit weit verbreiteten „Angleichungserwartung“ stellt er die „These sich verstetigender Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland entgegen“.[105] Das Buch schließt mit einer Reflexion über die Möglichkeiten, hergebrachte Modelle demokratischer Repräsentation, in deren Mittelpunkt parlamentarische Verfahren stehen, um neue, direktere Formen der politischen Beteiligung, etwa Bürgerräte, zu erweitern.

Dass solche Überlegungen an zeithistorische Erfahrungen aus dem Vereinigungskontext in Ost wie West anknüpfen könnten, unterstreicht die mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnete Darstellung der Historikerin Christina Morina.[106] Als eine Demokratiegeschichte „von unten“ und in einer integrierten gesamtdeutschen Perspektive setzt „Tausend Aufbrüche“ nicht erst nach der Wiedervereinigung, sondern im West- und Ostdeutschland der 1980er Jahre an und fragt nach den vielfältigen Vorstellungen, Erwartungen an und Sehnsüchten nach Demokratie auf beiden Seiten der Mauer. Vor allem das eindrucksvolle Panorama der zahlreichen Demokratieinitiativen im Umfeld von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung mit ihren vielgestaltigen Vorschlägen und eigenen Formaten von Partizipation und Aushandlung, macht deutlich, dass um 1990 eben nicht nur die Weichen für nachfolgende Enttäuschungsgeschichten gestellt wurden, sondern auch ein demokratisches Potential erkennbar wurde, das Anregungen und Perspektiven für heutige Demokratiedebatten bereithält.

IV. Nach dem Fest. Was bleibt?

Was lässt sich in der Rückschau auf drei Demokratiejubiläen und den Umgang mit ihnen in Geschichtswissenschaft, Öffentlichkeit und Politik festhalten? Angesichts dreier Ereignisse, die mehrere Jahrzehnte voneinander trennen und die in unterschiedlichen historischen Kontexten und Jahrhunderten verortet sind, fällt es schwer, eine glatte Bilanz zu ziehen. Wenig überraschend handelt es sich um einen „Blick zurück in der Krise“: Alle drei Demokratiejubiläen standen unter dem Eindruck aktueller Krisendiskurse um Demokratie und Parlamentarismus, wie sie die Debatten in Deutschland, Europa und darüber hinaus seit einiger Zeit prägen. Auf der einen Seite macht dies ein selbstsicheres Erinnern im Gewand zukunftsgewisser Erfolgsgeschichten schwieriger, als es das vielleicht noch vor 25 Jahren gewesen ist. Auf der anderen Seite wird in Politik und Öffentlichkeit aber gerade unter dem Eindruck einer problembeladenen Gegenwart umso mehr versucht, an positive demokratiegeschichtliche Bezugspunkte der Vergangenheit anzuknüpfen und diese als Projektionsfläche für eine demokratische Zukunft nutzbar zu machen. Das gilt für 1848/49, 1948/49 und 1989/90 gleichermaßen.

Darüber hinaus lassen sich durch die drei großen Demokratiejubiläen drei Schneisen schlagen, die sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten in der Auseinandersetzung mit ihnen zutage fördern.

Das ist, erstens, ein veränderter Umgang mit demokratiegeschichtlichen Leerstellen, der vor allem in der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung auffällt. So wurde zwar bereits zum 150. Jubiläum der 1848er-Revolution die Berücksichtigung weiblicher, jüdischer oder auch ländlicher Perspektiven eingefordert, aber deren konsequente Betrachtung stand seinerzeit noch am Anfang. Das hat sich ein Vierteljahrhundert später geändert. Ähnliches ist bei der Geschichte des Grundgesetzes festzustellen, zumindest was eine zunehmende Beachtung geschlechtergeschichtlicher Perspektiven betrifft, obgleich auch in diesem Bereich noch Luft nach oben ist. Hinsichtlich 1989/90 wiederum lässt sich in dieser Hinsicht fast schon eine gegensätzliche Beobachtung machen, zumindest wenn man auf den spezifischen Bereich der politischen Essayistik blickt. Wenn dort von Nichtberücksichtigung und Marginalisierung die Rede ist, wird nämlich nicht allein die konsequentere Beachtung ostdeutscher Perspektiven in Geschichte und Gegenwart eingefordert, sondern dann erscheinen, zumindest in der zugespitzten Sicht des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, vor allem mittelalte ostdeutsche Männer als Vergessene der Transformationsgeschichte. Auch wenn diese Marginalisierungserfahrung neben anderen empirisch selbstredend eine Berechtigung hat, so fällt doch auf, dass demgegenüber andere Diskriminierungserfahrungen und erinnerungskulturelle Blindstellen weiterhin nur wenig Beachtung erfahren, nämlich migrationsgeschichtliche und rassismuskritische Erfahrungen im Umfeld des Mauerfalls sowie im Kontext der nachfolgenden Transformationsprozesse. Dasselbe lässt sich mit Abstrichen auch für die Erinnerung an 75 Jahre Grundgesetz und Bundesrepublik feststellen. Obgleich die Geschichtswissenschaft insgesamt solchen Perspektiven inzwischen aufgeschlossener begegnet, sind sie im „doppelten Jubiläumsjahr“ zumindest in Erinnerungskultur und Geschichtspolitik doch weitgehend auf der Strecke geblieben.

Eine weitere Beobachtung über die unterschiedlichen Demokratiejubiläen hinweg bezieht sich, zweitens, auf unterschiedliche Formen und Formate demokratischer Repräsentation. Im Jubiläumsjahr 2023/24 haben sowohl radikal- und direktdemokratische Aspekte als auch alternative Modelle demokratischer Teilhabe größere Aufmerksamkeit erfahren. So wurde mit Blick auf 1848/49 verstärkt auf Formen und Akteur:innen von Demokratie jenseits von Paulskirche, Parlamenten und Plenarsälen verwiesen, was sich zugleich, zumindest teilweise, in einer Dezentrierung der Erinnerungskultur niederschlug. Und angesichts aktueller Krisenerscheinungen des demokratischen Systems, die in Politik und Öffentlichkeit häufig als Langzeitfolgen einer verkorksten Wiedervereinigung debattiert werden, ist zudem ein verstärktes Nachdenken über alternative Formen politischer Beteiligung zu beobachten. Zugleich erinnern uns neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen daran, dass mannigfaltige Formen politischen Engagements und demokratischer Partizipation bereits im Umfeld von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung aufblühten, ohne dass diese vereinfacht als wirksame Zaubermittel für den Umgang mit heutigen Herausforderungen demokratischer Aushandlung geltend gemacht werden können.

Ein letzter Aspekt wirft schließlich, drittens, die Frage nach der Bedeutung des Nationalstaats für demokratische Erinnerungskultur auf. Ein in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten in der öffentlichen und mehr noch der intellektuellen Debatte konstatierter Bedeutungsverlust von Nation und Nationalstaat als Bezugsgrößen und Zugehörigkeitsmarker macht sich auch in der Art und Weise bemerkbar, wie in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren Demokratiejubiläen begangen wurden. Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung setzt damit einen Trend fort, der sich auch in anderen historischen Themenfeldern beobachten lässt, indem sie etwa für 1848/49 nicht nur deren europäische Dimensionen, sondern auch ihre globalen Verflechtungen betont. In öffentlicher Erinnerung und Geschichtspolitik wiederum werden vor allem die Revolutionen von 1848/49 und 1989 ganz selbstverständlich im europäischen Kontext verortet. Demgegenüber werden die Arbeit des Parlamentarischen Rats und die Verabschiedung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 in vergleichsweise klassischen räumlichen Bahnen verhandelt, indem sie weiterhin im Kontext des beginnenden Kalten Krieges und der sich verfestigenden deutsch-deutschen Teilung sowie unter pflichtschuldigem Verweis auf alliierte Einflüsse verortet werden. Ob auch in diesem Fall eine Demokratiegeschichte jenseits des Nationalstaats, die stärker gesellschaftliche Dimensionen und bisher wenig berücksichtigte Akteur:innen einbezieht, weiterführende Perspektiven eröffnen könnte, werden zukünftige Forschungen und Debatten zeigen – hoffentlich auch jenseits prominenter Demokratiejubiläen.

Zusammenfassung

In den vergangenen beiden Jahren wurden in Deutschland drei große Demokratiejubiläen begangen: 175 Jahre 1848er-Revolution, 75 Jahre Grundgesetz sowie 35 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall. Sie alle standen unter dem Eindruck aktueller Krisendiskurse um Demokratie und Parlamentarismus. Ausgehend davon diskutiert der Essay aktuelle geschichtswissenschaftliche Deutungsangebote sowie prägende Narrative und politisch-gesellschaftliche Dynamiken im öffentlichen Gedenken an diese drei Wegmarken der deutschen Geschichte. Nach einem kurzen Überblick zu den Demokratiejubiläen widmen sich die beiden folgenden Abschnitte zunächst der Erinnerung an 1848/49 sowie anschließend der an 1948/49 in Verbindung mit 1989/90. Das Fazit fragt, was Demokratie gedenken und erinnern im Deutschland der 2020er Jahre über die Zeitgeschichte der Demokratie als Geschichte der Gegenwart aussagt. Wie der Artikel zeigt, kennzeichneten die Demokratiejubiläen drei übergreifende Gemeinsamkeiten: Erstens eine gestiegene Sensibilität für demokratiegeschichtliche Leerstellen und Marginalisierungserfahrungen; zweitens eine größere Aufmerksamkeit gegenüber radikal- und direktdemokratischen Elementen demokratischer Teilhabe; und schließlich, drittens, eine herausgehobene Bedeutung von Bezügen und Kategorien „jenseits des Nationalstaats“, was sowohl lokal- und regionalgeschichtliche als auch transnationale und teils auch globale Perspektiven des Erinnerns einschließt.

Online erschienen: 2025-08-01

© 2025 The author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Diplomata militaria als serielle Quellen. Einblicke in die Bürgerrechtspolitik und die Administration der römischen Kaiserzeit
  4. Tourismus als Wettbewerb der Moderne. Die (Selbst-)Inszenierung des Deutschen Kaiserreichs auf der Internationalen Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr 1911
  5. Das exkludierende Selbst. Die Moderne als Identitätspolitik in ungleicher Absicht
  6. Winfried Müller (1953–2025)
  7. Blick zurück in der Krise? Wie Deutschland an drei große Demokratiejubiläen erinnert
  8. Rezensionen
  9. Christoph Driessen, Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union. Regensburg, Pustet 2024
  10. Steffen Augsberg (Hrsg.), Verfassungspatriotismus. Konzept, Kritik, künftige Relevanz. Hamburg, CEP Europäische Verlagsanstalt 2024
  11. Edward B. Foley, Ballot Battles. The History of Disputed Elections in the United States. Oxford, Oxford University Press 2024
  12. Christopher J. Fettweis, The Pursuit of Dominance. 2000 Years of Superpower Grand Strategy. Oxford, Oxford University Press 2023
  13. Mark A. Ragan, Kingdoms, Empires, and Domains. The History of High-Level Biological Classification. Oxford, Oxford University Press 2023
  14. Bernhard Maier, Globalgeschichte der frühen Hochkulturen. München, C. H. Beck 2024
  15. Charalampos I. Chrysafis / Andreas Hartmann / Christopher Schliephake u. a. (Hrsg.), Basileus eirenophylax. Friedenskultur(en) und monarchische Repräsentation in der Antike. Stuttgart, Steiner 2023
  16. Lisa C. Nevett, Ancient Greek Housing. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  17. Michael Loy, Connecting Communities in Archaic Greece. Exploring Economic and Political Networks through Data Modelling. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  18. Katharina Wojciech, Wie die Athener ihre Vergangenheit verhandelten. Rede und Erinnerung im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. (KLIO. Beiträge zur Alten Geschichte, Bd. 35.) Berlin/Boston, De Gruyter 2022
  19. Nicolette A. Pavlides, The Hero Cults of Sparta. Local Religion in a Greek City. New York, Bloomsbury Academic 2023
  20. Ronald T. Ridley, Marcus Furius Camillus, fatalis dux. A Documentary Study. (Studien zur Alten Geschichte, Vol. 37.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  21. Jonas Scherr, Die Zivilisierung der Barbaren. Eine Diskursgeschichte von Cicero bis Cassius Dio. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Bd. 156.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  22. Christopher B. Krebs (Ed.), Caesar. Bellum Gallicum. Book VII. (Cambridge Greek and Latin Classics.) Cambridge, Cambridge University Press 2023
  23. José Luís Brandão / Cláudia Teixeira / Ália Rodrigues (Eds.), Confronting Identities in the Roman Empire. Assumptions about the Other in Literary Evidence. New York, Bloomsbury Academic 2023
  24. Anthony Kaldellis / Marion Kruse, The Field Armies of the East Roman Empire, 361–630. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Volker L. Menze, Patriarch Dioscorus of Alexandria. The Last Pharaoh and Ecclesiastical Politics in the Later Roman Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Hubertus Seibert, Geschichte Europas im Mittelalter. Aufbruch in die Vielfalt. Paderborn, Brill/Schöningh 2024
  27. Johanna Jebe, Gutes Mönchtum in St. Gallen und Fulda. Diskussion und Correctio im Spiegel karolingischer Klosterbibliotheken. Freiburg im Breisgau, Herder 2024
  28. Herwig Wolfram, Arnulf von Kärnten (um 850–899). Eine biographische Skizze. (Relectio. Karolingische Perspektiven, Bd. 7.) Ostfildern, Thorbecke 2024
  29. Hannes Engl, Rekonfigurationen regionaler Ordnungen. Die religiösen Gemeinschaften in Lothringen und das Papsttum (ca. 930–1130). (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 49.) Köln, Böhlau 2023
  30. Francesco Massetti, Leo IX. und die papstgeschichtliche Wende (1049–1054). (Papsttum im mittelalterlichen Europa, Bd. 13.) Köln, Böhlau 2024
  31. Joseph P. Huffman, Medieval Cologne. From Rhineland Metropolis to European City (A. D. 1125–1475). Berlin/Boston, De Gruyter 2024
  32. Christos Malatras, Social Stratification in Late Byzantium. (Edinburgh Byzantine Studies.) Edinburgh, Edinburgh University Press 2023
  33. Nils Bock, Geld und Herrschaft um 1300. Finanzielle Verflechtungen zwischen Frankreich, der Kurie und Florenz. (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 257.) Stuttgart, Steiner 2022
  34. Peter Fleischmann (Bearb.), Die Nürnberger Bürgerbücher II. Die Meisterbücher von 1363 bis 1365 und von 1370 bis 1429 und die Papierenen Neubürgerlisten von 1382 bis 1429. (Quellen und Foschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, Bd. 41.) Nürnberg, Stadtarchiv 2022
  35. Rainer Christoph Schwinges, Das Leben des Kölner Magisters Gerhard von Wieringen (1451 bis nach 1501). Mit einer Edition seines Notiz- und Rechnungsbuches. (Repertorium Academicum Germanicum [RAG]. Forschungen, Bd. 5.) Zürich, vdf 2023
  36. Riccarda Suitner, Venice and the Radical Reformation. Italian Anabaptism and Antitrinitarianism in European Context. (Refo500 Academic Studies, Vol. 101.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  37. Brandt C. Klawitter, A Forceful and Fruitful Verse. Genesis 1:28 in Luther’s Thought and Its Place in the Wittenberg Reformation (1521–1531). (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Vol. 269.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  38. Vitus Huber / John F. Schwaller (Eds.), Beyond Cortés and Montezuma. The Conquest of Mexico Revisited. Copublished with the Institute for Mesoamerican Studies, University at Albany. (IMS Studies on Culture and Society Series.) Denver, CO, University of Colorado Press 2025
  39. Paul Griffiths, Information, Institutions, and Local Government in England, 1550–1700. Turning Inside. Oxford, Oxford University Press 2024
  40. Jonas Stephan, Tinte, Feder und Kanonen. Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis am Vorabend des Spanischen Erbfolgekrieges (1701). (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden, Bd. 8.) Münster, Aschendorff 2024
  41. Cathal J. Nolan, Mercy. Humanity in Warfare. Oxford, Oxford University Press 2022
  42. Rainer Maaß / Rouven Pons (Hrsg.), Fürstliche Korrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts. Marburg, Historische Kommission für Hessen 2024
  43. Jörg Ernesti, Geschichte der Päpste seit 1800. Freiburg im Breisgau, Herder 2024
  44. Natalie Cornett, The Politics of Love. Gender and Nation in Nineteenth-Century Poland. Ithaca, NY, Cornell University Press 2024
  45. Miroslav Šedivý, Si vis pacem, para bellum. The Italian Response to International Insecurity 1830–1848. (Internationale Geschichte, Bd. 7.) Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021
  46. Julian Go, Policing Empires. Militarization, Race, and the Imperial Boomerang in Britain and the US. Oxford, Oxford University Press 2023
  47. Yan Slobodkin, The Starving Empire. A History of Famine in France’s Colonies. Ithaca, NY, Cornell University Press 2023
  48. Sarina Hoff, Der lange Abschied von der Prügelstrafe. Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980. (Wertewandel im 20. Jahrhundert, Bd. 8.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  49. Johann Kirchinger, Katholische Frauenkongregationen der Moderne. Stuttgart, Kohlhammer 2022
  50. Dagmar Herzog, Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Berlin, Suhrkamp 2024
  51. Simon Sebag Montefiore, Der junge Stalin. Stuttgart, Klett-Cotta 2024
  52. Sebastian Bischoff / Christoph Jahr / Tatjana Mrowka u. a. (Hrsg.), Belgien, Deutschland und die „Anderen“. Bilder, Diskurse und Praktiken von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. (Historische Belgienforschung, Bd. 10.) Münster, Waxmann 2024
  53. Björn Hofmeister, Anwalt für die Diktatur. Heinrich Claß (1868–1953). Sozialisation – Weltanschauung – alldeutsche Politik. Berlin/Boston, De Gruyter 2024
  54. Julia Schneidawind, Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles. (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd. 34.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  55. Deborah E. Lipstadt, Golda Meir. Israel’s Matriarch. London, Yale University Press 2023
  56. Felicitas Seebacher, Die Leskys. Akademische Karrieren in den Netzwerken der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts. Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2024
  57. Manuel Schwarz, „Übergangsfürsten“. Legitimationsstrategien der letzten Generation ernestinischer Monarchen im Deutschen Kaiserreich (1901–1918). (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Bd. 68.) Köln, Böhlau 2024
  58. Friedrich Cain / Bernhard Kleeberg (Eds.), A New Organon. Science Studies in Interwar Poland. (Studies in the History of Knowledge, Vol. 18.) Tübingen, Mohr Siebeck 2024
  59. Karl-Peter Krauss, Dem Vergessen entrissen. Der „Ostjude“ Simon Leinmann und die Neuapostolische Kirche. Köln, Böhlau 2024
  60. Thomas Köhler / Jürgen Matthäus / Thomas Pegelow Kaplan u. a. (Hrsg.), Polizei und Holocaust. Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men. Unter Mitarbeit von Annika Hartmann und Kathrin Schulte. Leiden, Brill 2023
  61. Wiebke Lisner / Johannes Hürter / Cornelia Rauh u. a. (Hrsg.), Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg. Erfahrungen und Praktiken in Deutschland und im besetzten Europa 1939–1945. (Das Private im Nationalsozialismus, Bd. 5.) Göttingen, Wallstein 2022
  62. Sophie Fetthauer, „Hier muß sich jeder allein helfen“. Paula, Josef und Frieda Fruchter: Briefe einer Wiener Musikerfamilie aus dem Shanghaier Exil 1941–1949. Neumünster, von Bockel 2024
  63. Stephan Pabst (Hrsg.), Buchenwald. Zur europäischen Textgeschichte eines Konzentrationslagers. (Medien und kulturelle Erinnerung, Bd. 9.) Berlin/Boston, De Gruyter 2022
  64. Lutz Kreller / Franziska Kuschel, Vom „Volkskörper“ zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus. Göttingen, Wallstein 2022
  65. Emily Marker, Black France, White Europe. Youth, Race, and Belonging in the Postwar Era. Ithaca, NY, Cornell University Press 2024
  66. Chelsea Schields, Offshore Attachments. Oil and Intimacy in the Caribbean. Berkeley, CA, University of California Press 2023
  67. Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 142.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  68. Eva Pfanzelter / Dirk Rupnow / Éva Kovács et al. (Eds.), Connected Histories. Memories and Narratives of the Holocaust in Digital Space. Berlin/Boston, De Gruyter 2024
  69. Eingegangene Bücher
  70. Eingegangene Bücher
Heruntergeladen am 6.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/hzhz-2025-0022/html
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