Rezensierte Publikation:
Ronald T. Ridley, Marcus Furius Camillus, fatalis dux. A Documentary Study. Studien zur Alten Geschichte, Vol. 37. 2023 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 978-3-949189-81-4, € 80,–
Marcus Furius Camillus ist ohne Zweifel eine der prominentesten Figuren der römischen Geschichte. Mit ihm wird die endgültige Eroberung von Veii und auch die Rache an den plündernden Galliern nach der Niederlage an der Allia verbunden. Doch trotz dieser heldenhaften Konnotationen soll er in der Bevölkerung eher unbeliebt gewesen sein, wie sein Gang ins Exil nach dem Streit über die Beuteverteilung von Veii bezeugt. So kann man feststellen, dass wir zwar eine ungewöhnlich hohe Zahl an Quellen zu seinem Wirken besitzen, diese aber in ihrer Ambivalenz nur schwer zu einem konsistenten Bild zusammenzufügen sind. Diese Konstellation motivierte Ronald T. Ridley, eine Monographie vorzulegen, in der alle antiken Informationen zu Camillus zusammengestellt und die modernen Diskussionen zu den einzelnen Aspekten intensiv beleuchtet werden.
An den Beginn seiner Darstellung hat der Autor ein grundsätzliches Kapitel zur Quellenlage und methodischen Herangehensweise positioniert (S. 15–54). Bevor er mit der dokumentarischen Auflistung beginnt, ist es Ridley ein zentrales Anliegen, Leitsätze für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit antiker Informationen – zumindest für den Kern der Abläufe – zu formulieren (S. 47–52). Hierbei trägt er, basierend auf unterschiedlichen Ansätzen in der Forschung, 15 grundlegende Überlegungen für die Skalierung von Glaubwürdigkeit zusammen, etwa die These, dass eine für die Römer eher negative Erzählung mehr Vertrauen verdiene als eine positive oder dass Variantenreichtum tendenziell auf eine längere Tradition verweise als homogene Erzählungen, die stärker fälschungsverdächtig sein können. Insgesamt erweist sich dieses Kapitel als ein bemerkenswert kluges Destillat aus einer langen und vielfältigen Forschungsdiskussion, das vor einer simplen Vorverurteilung der Glaubwürdigkeit der Quellen warnt.
Die chronologisch aufgebaute Rekonstruktion des Werdegangs von Camillus zeigt eindrücklich, wie wenig wir über seine Anfänge wissen. Unklar bleibt, ob er sich wirklich schon mit ca. 16 Jahren bei der Schlacht am Algidus 431 v. Chr. profiliert hatte und auch seine mögliche Censur von 403 wirft Fragen auf. Erst ab 401 v. Chr. tritt er regelmäßiger als Amtsinhaber auf, ohne allerdings besonders hervorzustechen. Seine besondere Bedeutung als Dictator bei der Eroberung von Veii wird in der antiken Literatur geradezu eruptiv herausgestellt. Das kontroverse Agieren des Protagonisten bei der Eroberung von Veii (S. 71–102), die anschließende Auseinandersetzung (S. 103–126) und der ihm zugeschriebene herausragende Erfolg nach der Gallierkatastrophe (S. 127–164) bilden erwartungsgemäß den zentralen Teil des Buches. Dann folgen die 80er Jahre des 4. Jahrhunderts v. Chr., die eher im Windschatten der antiken Überlieferung liegen und zu denen daher nur bruchstückhafte Informationen vorliegen (S. 165–194). Den Abschluss der Darstellung bilden dann die Reformen von 367 v. Chr., in deren chronologischem Umfeld Camillus zwar mehrere politische Funktionen zugeschrieben werden, ohne dass er aber in den Quellen direkt mit den Neuerungen verbunden wird (S. 195–214). Eine resümierende Zusammenstellung der Fakten beschließen die Ausführungen (S. 215–240).
Das vorliegende Buch ist in seiner Konzeption konsequent puristisch angelegt. Der Leser erhält tatsächlich – wie im Titel angekündigt – ausschließlich eine Liste der überlieferten Lebensdaten des Protagonisten und aller Varianten, die sich in der antiken Literatur finden. Zudem hat der Autor in einem weiten Bogen die relevanten Interpretationen in der modernen Forschung seit dem 18. Jahrhundert zusammengetragen und stellt sie in knapper Form additiv vor. Ridley bleibt dabei immer in der Position eines neutralen Beobachters, der nur selten seine Präferenzen verrät. Diese Anlage als „Dokumentation“ einer antiken Figur ist ein ungewöhnlicher historiographischer Ansatz, der auch die Erwartungshaltung des Lesers etwas irritiert. Doch im Laufe der Lektüre des Buches erweist sich die Sinnhaftigkeit der Konzeption. Dem Autor gelingt es, die vielfältigen und nicht selten widersprüchlichen Informationen und Deutungen sorgsam zusammenzutragen. Da er sich dabei konsequent auf seinen Untersuchungsgegenstand konzentriert, werden die Brüche und Lücken in der Rekonstruktion der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr., mit denen wir konfrontiert sind, besonders deutlich. Zwar erhält der Leser keine neue Interpretation der Gesamtentwicklung, doch wird er dafür auf eine provokant nüchterne Art mit den Gegebenheiten unserer Wissensbestände konfrontiert und dazu angeregt, scheinbare Sicherheiten, die sich aus den uns selbstverständlich gewordenen Überbrückungen der Lücken ergeben, neu zu überdenken.
Doch die Qualitäten des Buches liegen nicht nur in der genauen Dokumentation unserer Informationsgrundlage. Das einleitende Methodenkapitel, in dem der Autor kluge und konzise Überlegungen zur Einordnung und Überprüfung der Glaubwürdigkeit der antiken Darstellungen formuliert, erweist sich als eine entscheidende Stellungnahme zugunsten einer methodisch reflektierten Nutzung der antiken Historiographie. Mit dieser beeindruckenden Aufstellung gelingt es ihm, ein Statement gegen den in den zurückliegenden Jahrzehnten dominant gewordenen, überzogenen Skeptizismus zu formulieren, der faktisch zur Aufgabe der historiographischen Aufarbeitung dieser Epoche geführt hat. An seine Stelle setzt er ein Plädoyer für eine vorsichtige und umsichtige Gewichtung der antiken Informationen. So hat Ronald T. Ridley ein Buch geschrieben, das die gedämpfte Erwartungshaltung, die sein minimalistischer Aufbau zunächst hervorruft, hinter sich lässt und wichtige Anregungen für eine „Rückkehr“ in die frühe Republik gibt. Dass der Leser sich diese Erkenntnis durch die Zurückhaltung des Autors selbst erarbeiten muss, ist etwas bedauerlich, mindert aber den Wert des vorliegenden Bandes nicht.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
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- Friedrich Cain / Bernhard Kleeberg (Eds.), A New Organon. Science Studies in Interwar Poland. (Studies in the History of Knowledge, Vol. 18.) Tübingen, Mohr Siebeck 2024
- Karl-Peter Krauss, Dem Vergessen entrissen. Der „Ostjude“ Simon Leinmann und die Neuapostolische Kirche. Köln, Böhlau 2024
- Thomas Köhler / Jürgen Matthäus / Thomas Pegelow Kaplan u. a. (Hrsg.), Polizei und Holocaust. Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men. Unter Mitarbeit von Annika Hartmann und Kathrin Schulte. Leiden, Brill 2023
- Wiebke Lisner / Johannes Hürter / Cornelia Rauh u. a. (Hrsg.), Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg. Erfahrungen und Praktiken in Deutschland und im besetzten Europa 1939–1945. (Das Private im Nationalsozialismus, Bd. 5.) Göttingen, Wallstein 2022
- Sophie Fetthauer, „Hier muß sich jeder allein helfen“. Paula, Josef und Frieda Fruchter: Briefe einer Wiener Musikerfamilie aus dem Shanghaier Exil 1941–1949. Neumünster, von Bockel 2024
- Stephan Pabst (Hrsg.), Buchenwald. Zur europäischen Textgeschichte eines Konzentrationslagers. (Medien und kulturelle Erinnerung, Bd. 9.) Berlin/Boston, De Gruyter 2022
- Lutz Kreller / Franziska Kuschel, Vom „Volkskörper“ zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus. Göttingen, Wallstein 2022
- Emily Marker, Black France, White Europe. Youth, Race, and Belonging in the Postwar Era. Ithaca, NY, Cornell University Press 2024
- Chelsea Schields, Offshore Attachments. Oil and Intimacy in the Caribbean. Berkeley, CA, University of California Press 2023
- Jenny Baumann, Ideologie und Pragmatik. Die DDR und Spanien 1973–1990. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 142.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
- Eva Pfanzelter / Dirk Rupnow / Éva Kovács et al. (Eds.), Connected Histories. Memories and Narratives of the Holocaust in Digital Space. Berlin/Boston, De Gruyter 2024
- Eingegangene Bücher
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