Heringer, Hans Jürgen: 100 Jahrhundert Wörter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2023. – ISBN 978-3-8260-8197-2. 144 Seiten, € 18,00.

Anna Chita

doi:10.1515/infodaf-2024-0029

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Heringer, Hans Jürgen: 100 Jahrhundert Wörter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2023. – ISBN 978-3-8260-8197-2. 144 Seiten, € 18,00.

Anna Chita

Published/Copyright: April 16, 2024

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From the journal Informationen Deutsch als Fremdsprache Volume 51 Issue 2-3

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Heringer, Hans Jürgen: 100 Jahrhundert Wörter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2023. – ISBN 978-3-8260-8197-2. 144 Seiten, € 18,00.

Schon zum Millennium wählte eine Jury mit wissenschaftlicher Unterstützung der Gesellschaft für deutsche Sprache 100 für das 20. Jahrhundert besonders bezeichnende und „einprägsame Situationen spiegelnde“ (Schneider 1999: 1) Wörter.^[1]

Fast 25 Jahre später veröffentlicht Heringer in seinem Buch nach den von ihm gesetzten Kriterien andere 100 Jahrhundert Wörter. Für die Auswahl formuliert er folgende Fragen (6): Welche Wörter waren schon mal in? Welche finden in der Kürze des Vorhabens ausreichend Platz? Auf welche Wörter kann er pointiert nach eigenem Ermessen eingehen?

Die Zielsetzung scheint in der Wechselwirkung zwischen Sprachgeschichte und Wortgeschichte und zwischen Wörtern und Geschichtsschreibung zu bestehen, zumal diese durch Wörter geprägt wird und ohne sie Geschichte nicht existieren würde. Anders als bei Lexika, die einer alphabetischen Reihe folgen, wählt der Autor eine chronologische Ordnung und bringt in die Unordnung der Wörter eine historische Ordnung. Und anders als die eher lexikonartigen Einträge der erwähnten Vorgänger-Publikation oder gar in Wikipedia schreibt Heringer zu den ausgewählten Jahrhundertwörtern sprachkritisch betrachtende Essays und weckt somit das Interesse eines jeden Lesers, etwas über Sprachgeschichte, Etymologie, Sprachgebrauch und Sprachwandel zu erfahren, ohne besonderes wissenschaftlich fundiertes Wissen vorauszusetzen.

Die Geschichten der im Mittelpunkt stehenden Wörter vollziehen sich in einer achtteiligen geschichtlichen Reihenfolge. Zentrales Anliegen sind die geschichtlichen, sozialpolitischen und kulturellen Implikationen der Jahrhundertwörter. Das erste Kapitel trägt den Namen Zu Beginn des... und behandelt Wörter wie „Entwelschung“, „Erbfeind“ oder „Schlotbarone“. Grob betrachtet, scheint es zunächst keinen gemeinsamen Nenner zu geben. Bei näherem Hinblick jedoch erkennt man, dass diese hier unter die Lupe genommenen Wörter, angefangen bei der puristischen deutschen Sprachstilkunst, dem gegenseitigen Verhältnis zwischen ewig verhassten Kriegsfeinden bis hin zu neureichen Schwerindustriellen und der psychoanalytischen Revolution Freuds, ihren Platz zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben.

Das zweite Kapitel hat den griffigen Titel Erster Weltkrieg und.... Der Begriff „Trommelfeuer“ z. B. stand damals für eine große Offensive und das kollektive Abfeuern oder Angreifen. Ein Assoziogramm zeigt den Registerwechsel des Begriffs vom Krieg zur heutigen medialen Propaganda und abfälligen Rhetorik. Auch der Begriff „Blindgänger“ hat seine Wurzeln in der Zeit des Weltkriegs. Während damals bei der Zündung versagende Bomben oder Granaten damit bezeichnet wurden, impliziert dieser Begriff heute u. a. einen Taugenichts und arbeitsscheuen Menschen. Es geht also um eine Bedeutungsverschiebung bzw. einen Bedeutungswandel von defizitären Gegenständen zu inkompetenten Menschen.

Der Titel des dritten Kapitels Zeit der Nazis mit... ist prägnant und postuliert per se bereits das Register und die Epoche. Besonderer Fokus wird hier auf die negativen Färbungen und diskriminierenden Konnotationen jener Wörter gelegt, die durch ständig wiederholten Gebrauch das Weltgeschehen zeigen und mitbestimmt haben (z. B. „arisieren“, „Mischehe“).

Das vierte Kapitel trägt den Namen Stunde Null und... und damit wird die Frage aufgeworfen, ob hier das Ende des Zweiten Weltkrieges oder „ein zukunftsorientiertes, politisches Programm, das ja gerade zur Veränderung der Realität aufruft“ (60), suggeriert wird. „Stunde Null“ verweist immer auf ein geschichtliches Kontinuum. Anhand der hier im Mittelpunkt stehenden Wörter wird aufgezeigt, wie die Geschichte bis dato nachwirkt und Einfluss nimmt. Die Geschichten und Konnotationen der Wörter bleiben kontrovers, paradox und böse, auch nach der Tabula rasa der „Stunde Null“, etwa „Unmensch“, „artfremd“.

Das fünfte Kapitel trägt den Titel Hüben.... Den im Mittelpunkt stehenden Wörtern wie z. B. „68er“ oder „Gastarbeiter“ nach zu urteilen, befinden wir uns in den 60er- und 70er-Jahren. Kernpunkte in diesem Kapitel sind Konventionsbrüche zu Altem, Verbalisierungen in verschiedenen Kontexten, Kompositabildungen und deren Wichtigkeit, Implikationen und Assoziationen von Wörtern, die bis dato immer noch Fragen aufwerfen und weiter Analysebedarf haben. Da geht es um Bedeutungsverknappung, -verbesserung oder -erneuerung im Zuge der Vergangenheitsbewältigung.

Im sechsten Kapitel werden Wörter von drüben thematisiert. Es geht um das DDR-Register und den Jargon, der dort Anwendung fand und das politische System und den Alltag mitdefinierte (z. B. „Blauhemden“, „Mauerspechte“). Das vorletzte Kapitel führt den Titel Hüben und drüben .... Hier stehen Bedeutungsverschiebungen, wie z. B. das Zensieren von Wörtern („Antifa“), der Einfluss von Begriffen und Abkürzungen auf das politisch-gesellschaftliche Leben („RAF“ u. a.), Reduplikationen als Abwertung („Schickimicki“) im Mittelpunkt.

Im letzten Teil des Buches verrät der Titel Und jetzt?..., welche Wörter aktuell im Mittelpunkt stehen und Geschichte schreiben und prägen. Hier kann der Leser selbst erkennen, welche Wörter aktuell, z. T. auch unter Berücksichtigung ihres Werdegangs, im Sprachgebrauch zu finden sind. Angefangen bei der „Rechtschreibreform“, die öffentlich Furore machte, ist der Begriff „Plagiat“ so aktuell wie nie, und Sicks Dativ-Genitiv-Konflikt brennt immer noch.

Im Kontext dieses Buches scheint mir der Essay zum Jahrhundertwort „Unwort“ passend. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt jährlich nicht nur das Wort des Jahres, sondern auch das Unwort des Jahres. Schon der Begriff „Unwort“ ist für Heringer ein Unwort. Dem kann nur zugestimmt werden. Es geht der Kommission dabei um „[...] Wörter und Formulierungen aus der öffentlichen Sprache, die sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Unwort; 12.12.2023). So könnten semantische Ladung, Konnotation und Assoziation diskriminieren, Menschen ausgrenzen, Tatsachen verschleiern und verharmlosen. Dabei wird der Schwerpunkt neuerdings zudem auf „die in den Medien unreflektierte Nutzung dieses Wortes“ (131) gelegt. Es sollte aber nicht alleine um Wörter gehen – kontextlos und ohne semiotischen Hintergrund. Oder so, als könnten sie nicht in diversen sprachlichen Handlungen verwendet werden. Als impliziere eine Wortbedeutung nur eine Aussageabsicht. Als spiele Kontext bei der Aussageabsicht keinerlei Rolle. Als gäbe es kein Reiz-Reaktions-Schema, keine kommunikative Interaktion. Als gehe es lediglich um die Stereotypisierung von Begriffen oder Kollektiva. Heringer betont, dass es ein Desideratum ist, sich der sprachlichen Aufklärung zu widmen, um reflektiert und differenziert sprachlich zu handeln.

Den Abschluss bildet das Wort „Sprachgefühl“. Alles wird in diesem Buch sprachuntersucht und sprachgefühlt. Das Sprachgefühl und das Verständnis der Etymologie und des Gebrauchs dieser von Heringer ausgewählten Jahrhundertwörter, die im Register alphabetisch sortiert sind, sollen entwickelt werden. Wort- und Sprachgeschichte sind eng miteinander verflochten, zumal es um die Entwicklung von Wörtern und Sprache im Laufe der Zeit geht.

All dies trägt definitiv dazu bei, dass man durch das in Essays gepackte Kulturvokabular und die kulturellen Hotwords die Tiefe und Vielfalt der deutschen Sprache, Kultur, Geschichte und Sozialgeschichte verstehen und schätzen lernt.

Eingesetzt werden kann dieses transdisziplinäre Werk zur Förderung von Sprache und Länderkunde sowohl im muttersprachlichen als auch im fremdsprachlichen Deutschunterricht, etwa mittels kognitiver Ansätze (z. B. Plakaterstellung oder Vortrag), die ein umfassendes Wissen über Sprache, Gesellschaft und Kultur erzielen, kommunikativer Ansätze (z. B. Dialogarbeit), die Sprachhandlungen fördern, interkultureller Ansätze (z. B. Konventionen vergleichen), die kulturelle Prägungen und Normen aufzeigen.

Literatur

Schneider, Wolfgang (1999): 100 Wörter des Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-04-16

Erschienen im Druck: 2024-03-25

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https://doi.org/10.1515/infodaf-2024-0029