Kerstin Brückweh (Hrsg.), Die Wiederbelebung eines „Nicht-Ereignisses“? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Tübingen, Mohr Siebeck 2024

Dominik Geppert

doi:10.1515/hzhz-2025-1290

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Kerstin Brückweh (Hrsg.), Die Wiederbelebung eines „Nicht-Ereignisses“? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Tübingen, Mohr Siebeck 2024

Dominik Geppert

Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2025

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Aus der Zeitschrift Historische Zeitschrift Band 321 Heft 2

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Kerstin Brückweh, Die Wiederbelebung eines „Nicht-Ereignisses“? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. 2024 Mohr Siebeck GmbH & Co.KG Tübingen, 978-3-16-163513-7, € 39,–

Die Art und Weise, wie die deutsche Vereinigung zwischen November 1989 und Oktober 1990 verhandelt und wie die ehemalige DDR in den Jahren danach in das politische und ökonomische System der Bundesrepublik integriert wurde, erfährt derzeit eine Revision. Lange Zeit als Teil der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte verstanden, wird die Entwicklung jetzt vielfach negativer gesehen. Das trifft nicht nur auf die Treuhandanstalt als erinnerungskulturelle „Bad Bank“ der deutschen Einheit zu (Markus Böick). Es gilt auch für die Entscheidung, die Vereinigung über Artikel 23 des Grundgesetzes möglichst rasch zu vollziehen und nicht über Artikel 146, der in einem längeren Prozess eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung mit sich gebracht hätte.

Kritiker beklagten schon Anfang der 1990er Jahre eine „versäumte Gelegenheit“, das gesamtdeutsche Zusammengehörigkeitsgefühl durch eine gemeinsame Verfassungsgebung kollektivpsychologisch zu stärken und symbolisch zu bekräftigen. Seinerzeit blieben das eher Stimmen am Rande. Heute sind sie im publizistischen und wissenschaftlichen Mainstream angekommen. Die Ausdehnung des Grundgesetzes auf die ostdeutschen Bundesländer wird zunehmend als Teil der Kolonisierung des Ostens durch den Westen begriffen.

Die zwölf Beiträge in der interdisziplinären Veröffentlichung des Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur stellen die von der Geschichtswissenschaft bisher wenig beachtete Diskussion auf eine breitere Grundlage, indem sie die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994 aus unterschiedlichen Richtungen beleuchten. Der von Kerstin Brückweh herausgegebene Band kreist dabei vor allem um drei Initiativen: erstens den Verfassungsentwurf, den der Zentrale Runde Tisch der DDR seit Dezember 1989 erarbeitete und den die Volkskammer Ende April 1990 zugunsten eines raschen Beitritts nach Artikel 23 ablehnte; zweitens den Reformvorschlag, den ein deutsch-deutsches „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ im Sommer 1991 vorlegte; und drittens die 1994 vom Deutschen Bundestag diskutierten Ergebnisse der Beratungen einer Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) von Bundestag und Bundesrat, die sich im Januar 1992 konstituiert hatte.

Im Trend der neueren Forschung bewertet die Mehrzahl der Beiträge die ausgebliebene Verfassungsgebung eher kritisch. Die Berliner Rechtswissenschaftlerin Rosemarie Will, selbst als Expertin am Entwurf des Runden Tisches beteiligt, sieht in dessen Scheitern den Grund, warum die Revolution in der DDR „unvollendet“ geblieben sei und die Bundesrepublik bei der Wiedervereinigung keinem Partner „auf Augenhöhe“ gegenübergestanden habe (S. 87). Christopher Banditt und Helena Gand halten es aufgrund ihrer Auswertung zeitgenössischer Umfragen für einen Trugschluss, die Ostdeutschen hätten bei der Volkskammerwahl im März 1990 für eine rasche Vereinigung gestimmt. Ausschlaggebend sei der Wunsch „nach zügiger Einführung der D-Mark und weniger nach einem hohen Vereinigungstempo“ gewesen.

Mit ihrer Entscheidung, nicht den Artikel 146 als Brücke zu einer neuen Verfassung zu nutzen, so der Tübinger Historiker Anselm Doering-Manteuffel, hätten die Eliten der Bonner Republik die Chance vergeben, „der Bevölkerung eine geschmeidig angepasste Grundlage zu verschaffen, von der aus sie sich zu einer gesamtdeutschen Gesellschaft entwickeln konnte“ (S. 247). Ähnlich argumentiert der Berliner Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk, der die These aus seinem 2019 erschienenen Buch über die „Übernahme“ der DDR durch die Bundesrepublik wiederholt: Eine neue Verfassung wäre für die Ostdeutschen „mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen“, und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik „in eine neue Zeit überführt werden“ müsse (S. 277 f.).

Die im Band vertretenen Rechtswissenschaftler kritisieren insbesondere die Arbeit der GVK. Der Kölner Staatsrechtler Christoph Schönberger bemerkt, die wenigen Grundgesetzänderungen, zu denen sich der Bundestag habe verstehen können, hätten sich nicht auf die Wiedervereinigung bezogen. Vereinigungsbedingte Probleme wie die Aufarbeitung von DDR-Unrecht, der Umgang mit belastetem Personal oder ein ökonomischer Lastenausgleich hätten keine Erwähnung in der Verfassung gefunden. Die Göttinger Rechtshistorikerin Eva Schumann beklagt in ihrem Beitrag zur gescheiterten Reform des Verständnisses von Ehe und Familie, dass die „überkommenen Leitbilder der Bonner Republik nicht überwunden und die Lebensentwürfe im Osten sowie der bereits begonnene soziale Wandel im Westen ignoriert“ worden seien (S. 151). Die Hamburger Familienrechtlerin Anne Röthel bedauert, dass die Überlegung, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, in der GVK nicht nur auf Kritik aus der CDU/CSU gestoßen sei, sondern auch auf tiefes Unbehagen gegen alles, was „nur irgendwie Anklänge von ‚mehr Staat‘ im Eltern-Kind-Verhältnis“ enthalten habe (S. 175).

Es finden sich in dem Buch freilich auch Argumente für eine andere Interpretation. Die Leipziger Politikwissenschaftlerin Astrid Lorenz verweist auf den kompensatorischen Effekt der ostdeutschen Landesverfassungen; dort hätten die Vorstellungen des Runden Tisches einen stärkeren Niederschlag gefunden als im Grundgesetz. Der Freiburger Staatsrechtler Matthias Jestaedt erinnert daran, dass die erste Hälfte der 1990er Jahre eine von drei Perioden gewesen sei, in denen das Grundgesetz besonders intensiv fortentwickelt wurde: zum Aufbau der Bundeswehr Mitte der 1950er, für die Notstandsregelungen Ende der 1960er und eben für die konstitutionelle Bewältigung der deutschen Vereinigung Anfang der 1990er Jahre.

Die Mannheimer Zeithistorikerin Julia Angster stellt fest, dass es nicht nur ost-, sondern auch westdeutsche Forderungen nach einer umfassenden Revision des Grundgesetzes gegeben habe, die zumeist in den neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre wurzelten. Bei den Diskussionen um die Verfassungsreform nach 1990 handelte es sich laut Angster somit nicht um eine Auseinandersetzung zwischen „Ost“ und „West“, sondern um einen Streit unterschiedlicher politischer Positionen und biographischer Prägungen sowie gegensätzlicher Gesellschaftskonzepte und Staatsverständnisse, der die deutsch-deutschen Konfliktlinien transzendierte.

Für eine derartige Deutung spricht einiges. Zugleich sollte man den Rückhalt, den die Forderung nach einer Generalüberholung der Verfassung in der Bevölkerung besaß, nicht überschätzen. Die Anliegen, welche der Zentrale Runde Tisch in der DDR und das Kuratorium im vereinigten Deutschland vorbrachten, beschäftigten nur eine politische und gesellschaftliche Minderheit. Ausweislich von Umfragen und Wahlergebnissen war die Mehrheit der Ostdeutschen wie der Westdeutschen zufrieden mit den bestehenden verfassungsrechtlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik bzw. wollte (im Falle der Ostdeutschen) so rasch wie möglich an ihnen teilhaben.

Online erschienen: 2025-10-01

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