Jörg Baberowski, Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich. München, C. H. Beck 2024

Dietmar Neutatz

doi:10.1515/hzhz-2025-1234

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Jörg Baberowski, Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich. München, C. H. Beck 2024

Dietmar Neutatz

Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2025

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Aus der Zeitschrift Historische Zeitschrift Band 321 Heft 2

Rezensierte Publikation:

Jörg Baberowski, Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich. 2024 C. H. Beck München, 978-3-406-71420-7, € 48,–

Revolutionen brechen nicht dann aus, wenn die Unterdrückung einer Bevölkerung am größten oder die Not am drückendsten ist, sondern wenn die Herrschenden schwach und unentschlossen sind und von ihren Repressionsinstrumenten keinen rücksichtslosen Gebrauch mehr machen wollen oder können. Diese These steht am Beginn des Buches, in dem der Verfasser einen großen Bogen vom 18. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs zieht. Ihn interessieren die Praktiken von Machterhalt, Unterwerfung und Kooperation, Revolution und Konterrevolution. Wie konnte die Herrschaft der Zaren in Russland über dreihundert Jahre stabil sein und dann 1917 innerhalb weniger Tage zusammenbrechen?

Nach einem kurzen Blick auf die Herrschaft Iwans IV. im 16. Jahrhundert beginnt Jörg Baberowski seine Geschichte mit der Implementierung des absolutistischen Staates in Russland durch Peter I. Er beschreibt die Autokratie als eine Herrschaft, die auf Versprechen und Belohnungen, Drohungen und Strafen und auf Angst beruhte, gleichzeitig aber auch fragil war, weil sie die Ausführung ihrer Befehle nicht kontrollieren konnte. In weiterer Folge schildert er die Einführung einer Territorialverwaltung unter Katharina II., das Eindringen der Ideen der Französischen Revolution, den Aufstand der Dekabristen und die harten Gegenmaßnahmen von Nikolaus I. Hinsichtlich der Reformen Alexanders II. interessieren ihn vor allem die Nebenwirkungen: das Entstehen von Räumen, in denen sich Kritik und Widerspruch entfalten konnte. Aus diesen Freiräumen, nicht aus den Repressionen, so sein Argument, erwuchs die revolutionäre Bewegung. Er zeigt, wie gerade die Einführung unabhängiger Gerichte mit öffentlichen Verfahren den Revolutionären eine Bühne bereitete und damit der Radikalisierung Vorschub leistete.

Ausführlich werden die Terroristen der 1870er Jahre und die Hilflosigkeit der Staatsmacht behandelt. Dabei wird viel Ignoranz und Inkompetenz seitens der Regierenden sichtbar. Positiv hervorgehoben wird General Loris-Melikov, der Interesse für die Verhältnisse vor Ort zeigt, effiziente Maßnahmen trifft und versucht, die Potenziale der Gesellschaft fruchtbar zu machen, aber auch, wo es notwendig ist, hart durchgreift. In dem Moment, als es um die schon in der älteren Literatur behandelte Idee einer Art Verfassung geht, kippt allerdings das Bild: Loris-Melikov erscheint nun als selbstherrlicher Intrigant, der das Vertrauen des Zaren ausnutzt. Auf das Verfassungsprojekt geht Baberowski merkwürdigerweise nur en passant ein.

Einen dramatischen Wendepunkt bildet die Ermordung Alexanders II. Die Wiederherstellung der Autokratie unter seinem Sohn wird als Erfolgsgeschichte erzählt: Zwar ist Alexander III. intellektuell beschränkt, aber er repräsentiert einen starken Autokraten, wie es die Untertanen erwarten und umgibt sich mit fähigen Männern. Die Bilanz, die Baberowski für das Ende seiner Regierungszeit zieht, ist positiver als in anderen Darstellungen: Einige Reformen sind an die Erfordernisse der Autokratie angepasst, der Haushalt ist saniert, der Terrorismus besiegt, Russland auf dem Weg in die Industrialisierung. Diesen Rundumblick benutzt Baberowski, um auch die Schattenseiten des Wandels zu beschreiben: soziales Elend, Schmutz und Gestank in den Städten, die Welt des Dorfes und die Zustände in den nichtrussischen Regionen. Beginnend mit diesem Kapitel entfernt er sich immer wieder weit von seinem eigentlichen Thema und lässt seiner Beschreibungs- und Erzähllust freien Lauf, mit drastischen Schilderungen, wie man sie von ihm gewohnt ist.

Wie andere Historiker vor ihm begreift Baberowski die Hungersnot von 1891 als Katalysator für die Politisierung der Gesellschaft. Nun verdichtet sich die Darstellung fortlaufend. Mehr als die Hälfte des Textes von insgesamt 1128 Seiten (zuzüglich des wissenschaftlichen Apparates) entfällt auf die zwei Jahrzehnte zwischen 1891 und 1911. Nikolaus II. wird als das Gegenbild eines Autokraten beschrieben: höflich, schüchtern, nervös, nicht durchsetzungsfähig und feige. Seine Tagebucheinträge scheinen den Tagesablauf eines Müßiggängers zu protokollieren. Das ist nicht neu, wird aber eindringlicher als bisher beschrieben. Baberowski zeichnet das Bild eines empathielosen Eskapisten, der unter dem Druck litt, der auf ihm lastete, und lieber Tennis spielte. Hinsichtlich der Revolution von 1905 betont der Verfasser die Offenheit des historischen Prozesses. Als entscheidend identifiziert er nicht die sozialen Probleme, sondern den Umstand, dass die Regierung nicht mehr zur Anwendung rücksichtsloser Gewalt bereit war. Nikolaus II. und die Regierung hätten uneindeutig gehandelt. Weder gaben sie die Macht ab, noch verteidigten sie sie mit allen Kräften. „Nicht Repression und Gewalt, sondern Kompromiss und Konsens brachten das Gefüge des Staates aus dem Gleichgewicht“ (S. 723 f.).

Baberowski konstatiert eine Kluft zwischen den Liberalen, die von bürgerlichen Freiheiten träumten, und den Bauern und Arbeitern. Die Wochen nach der Verkündung des Oktobermanifestes von 1905 beschreibt er als „entfesselte Gewalt“ mit Pogromen, Gewaltausbrüchen, Morden, Raubüberfällen, Plünderungen und Brandschatzungen. Die zarische Regierung konnte in dieser Situation, die auch von den Liberalen als unerträglich empfunden wurde, die Initiative zurückgewinnen. Das rücksichtslose Durchgreifen identifiziert Baberowski als den Wendepunkt: Ohne die Skrupellosigkeit des Innenministers Durnovo wäre die zarische Macht im Dezember 1905 zusammengebrochen, konstatiert er. Nicht Kompromisse und Zugeständnisse, sondern Härte und Entschlossenheit hätten den zarischen Staat vor dem Untergang bewahrt. Den Ministerpräsidenten Stolypin beschreibt Baberowski als fähigen Staatsmann, der ein schlüssiges Konzept verfolgte, um die Grundlage einer Bürgergesellschaft zu schaffen. Seine Wahlrechtsänderung von 1907 erklärt er – abweichend von den gängigen Deutungen – als eine Verteidigung des Parlaments gegen seine Abschaffung. Stolypin habe mit seinem Staatsstreich die Duma vor der Selbstzerstörung bewahrt, lautet das provokante Fazit. Obwohl er Stolypin als tatkräftigen Ministerpräsidenten lobt, handelt ihn der Autor vergleichsweise kurz ab, und mit seiner Ermordung 1911 endet etwas überraschend das letzte Kapitel. Es folgt dann noch ein Epilog über die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der wieder die Offenheit der Geschichte betont: Trotz eines unfähigen Zaren und gravierender sozialer Probleme habe es keine Anzeichen für eine nahende Revolution gegeben.

Vieles in diesem Buch ist bekannt, wird aber auf eine neue Art in ein Narrativ von Macht und Herrschaft eingebunden, das den erzählenden Zugriff mit einem kulturgeschichtlichen Blick verbindet. Wenn Baberowski die Revolutionäre behandelt, referiert er nicht programmatische Schriften, sondern nimmt die Leserinnen und Leser mit in die Räume, in denen gestritten wurde, und lässt sie an den Diskussionen teilhaben. Er hat in großer Fülle Memoiren und Tagebücher ausgewertet und zu einer dichten Beschreibung verarbeitet, in der die Akteure zu Wort kommen und handeln. Diese Art der Darstellung ist anschaulich und packend und trotz vieler Dialoge nicht romanhaft, sondern stets quellengestützt – und sie korrespondiert mit dem, was der Autor zeigen will: Geschichte ist abhängig von den Entscheidungen und vom Handeln von Individuen. Das Erzählen nimmt allerdings in der zweiten Hälfte des Buches eine gewisse Uferlosigkeit an. Hier wäre weniger möglicherweise mehr gewesen. War die Sprengung des Umfangs der Grund dafür, dass Baberowski seine Darstellung nicht bis zum Ende der Zarenherrschaft fortgeführt hat? Das abrupte Abbrechen der Erzählung wenige Jahre davor passt nicht so ganz zur Programmatik des Buches. Lesenswert ist es allemal. Nicht alle Wertungen des Autors werden auf Zustimmung stoßen, manche werden seine vielen apodiktischen Lehrsätze stören, die mit „nirgendwo“, „niemand“ oder „niemals“ beginnen, aber eines leistet dieses Buch in jedem Fall: Es regt zum Nachdenken an – und das ist gut für den wissenschaftlichen Diskurs.

Online erschienen: 2025-10-01

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