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Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart, Kohlhammer 2022

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Februar 2025
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Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. 2022 Kohlhammer Stuttgart, 978-3-17-033244-7, € 30,–


Christina Morina, Dirk Oschmann, Ilko-Sascha Kowalczuk und Dutzende weitere mehr: Die Liste an Autorinnen und Autoren, die sich in jüngster Zeit mit der Vereinigungsgesellschaft, dem „Aufbau Ost“ oder der Transformationsphase seit 1990 beschäftigt haben, ist lang und prominent besetzt. Auch Detlev Brunner hat sich nun diesem Gegenstand zugewandt. In seiner Studie, die in der von Michael Schwartz und Hermann Wentker herausgegebenen Reihe „Geteilte Geschichte“ erschienen ist (und diese beschließt), hat sich der Leipziger Historiker zum Ziel gesetzt, ein „möglichst umfassendes Bild des vereinten Deutschlands in den 1990er Jahren zu zeichnen“ (S. 7). Dies ist – so viel sei vorweggenommen – im Großen und Ganzen auch gelungen. Das Buch eignet sich für die Einführung hervorragend, auch wenn oder gerade weil es ambitioniert angelegt ist, das Umfassende dieser Jahre zwischen zwei (schmal angelegte) Buchdeckel zu bringen: „Große“ Fragen wie die nach der „inneren Einheit“ oder solchen nach der „Identität“ werden hier ebenso beleuchtet wie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen sowie kulturellen Effekte der Vereinigung beider deutschen Staaten. Dass dies in Teilen nicht bis in alle denkbaren Details und unter Berücksichtigung aller Perspektiven und Facetten hinein geschehen kann, liegt in der Natur solcher auf Überblick und Orientierung ausgerichteten Arbeiten.

Der Autor beginnt mit einer ereignisgeschichtlich ausgerichteten Hinführung mit den wichtigsten Wegmarken der Jahre 1989 und 1990, ehe er sich der Nationswerdung zuwendet. Auf Basis von zeitgenössischen Umfragen und Statistiken bewertet er die Beschaffenheit des damaligen Nationalgefühls und gleicht dies mit regionalen, teils deutlich abweichenden Identitätsvorstellungen ab. Im anschließenden Teil wendet sich der ausgewiesene Sozial- und Gewerkschaftshistoriker mit der wirtschaftlichen Transformation seinem inhaltlichen Steckenpferd zu. Chronologisch geordnet, von der Währungsunion über die Rolle der Treuhandanstalt hin zur finanziellen Seite der Vereinigung sowie zur Lohn- und Tarifpolitik, entfaltet Brunner hier ein wohltuend nüchtern vorgetragenes Panorama der dramatischen Umbrüche jener Jahre, beschreibt differenziert die teils fehlenden demokratischen Kontrollmechanismen und weist zu Recht darauf hin, dass Arbeitslosigkeit seinerzeit als gesamtdeutsches Problem zu werten ist. Bei der Einordnung der damaligen Tarifkonflikte habe sich der ostdeutsche Weg zwischen einer Nachahmung des Westens und eigenen Wegen bewegt. Neo- und marktliberale Elemente auf der einen und realsozialistische Überhänge auf der anderen Seite hätten einen spürbaren Vertrauensschwund ergeben, der im Osten mehr als im Westen zu einem erheblichen Akzeptanzverlust und gewerkschaftlichen Mitgliederschwund geführt habe. Brunner ist nicht der erste, der die Bedeutung des Ostens als „Laboratorium“ beschreibt, von dem ausgehend übergreifende Prozesse wie Flexibilisierung in unter anderem tariflichen Fragen auch den Westen erreichten. Die gewerkschafts- bzw. organisationsgeschichtliche Perspektive kann dabei vieles plausibilisieren, wenngleich bisweilen die Betroffenen selbst – Stichwort: Arbeitslosigkeit und als Folge baldige Anpassung der Ungleichheits- und Armutsstrukturen an westdeutsche Muster – als Akteure vergleichsweise blass bleiben.

Im Abschnitt zu Demografie und Migration behandelt der Verfasser die wichtigen Punkte des Geburteneinbruchs und der Alterung mit all ihren Folgen besonders, aber nicht nur für den Osten. Wichtig sind die immer wieder eingeflochtenen Hinweise auf regionale Spezifika und Wachstumszentren und die längerfristigen Veränderungen, die nicht mehr zwangsläufig der Logik Ost/West folgen, sondern vielmehr ein komplexeres Bild aus deindustrialisierten und boomenden Regionen nahelegen. Mit „Staat und politische Kultur“ ist ein weiteres Kapitel beschrieben, das zum einen viele wichtige Aspekte politisch-kultureller Wandlungsprozesse abzudecken versucht, dabei aber bisweilen nur mit dickem Pinselstrich zeichnen kann (Verfassung, Verwaltungsaufbau, Elitentransfer, Zivilgesellschaft, Rechtsextremismus, Terror, „Erbe DDR“, Wissenschafts- und Bildungslandschaft). Ein weiteres Kapitel wendet den Blick nach außen und fragt nach den Schritten zur vertieften Europäischen Integration und nach supranationalen bzw. globalen Verflechtungen, wobei insbesondere auch die außenpolitisch zentrale Rolle des wiedervereinten Deutschlands bei Osterweiterung und Kriegen aufgezeigt werden. Im letzten Abschnitt werden verschiedene mentalitätsgeschichtliche und kulturelle Trends in rascher Folge abgehandelt, etwa zur „Ostalgie“-Welle oder zu veränderten Geschlechterverhältnissen wie auch zu musikgeschichtlichen Beobachtungen (wie etwa zum vermeintlichen „Sound der Einheit“: die Loveparade). Ebenfalls Gegenstand sind digitale Innovationen und Aufbrüche sowie Neuerungen in medialen und telekommunikativen Bereichen, ohne dabei tiefgreifende Veränderungen zur Diskussion stellen zu können. Auf diese Weise schafft der Autor es gleichwohl, diese Jahre als eine vielfältige, widerspruchs- und wechselvolle Scharnierzeit zu beschreiben. Das Buch ist damit Ideen- und Stichwortgeber, ja „Appetizer“ für all diejenigen, die von diesen Betrachtungen ausgehend noch weiter in diese Zeit eintauchen möchten.

Online erschienen: 2025-02-01

© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Wann ist ein Mann ein (Ehe-)Mann? Der Nachweis gleichgeschlechtlicher Ehen und der Geschlechtsfluidität in der römischen Kaiserzeit
  4. Dort schafft man die Kronjuwelen fort ... Objekt-Perspektiven auf die 1848er Revolution
  5. Historische Forschung – Archiv – Verwaltung. Eine zu entdeckende Dreiecksbeziehung als Schicksalsgemeinschaft in digitalen Zeiten
  6. Notker Hammerstein (1930–2024)
  7. Im Blick der Historie
  8. Rezensionen
  9. Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Eds.), Historical Culture by Restitution? A Debate on Art, Museums, and Justice. Köln, Böhlau 2023
  10. Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Stuttgart, Klett-Cotta 2023
  11. Simon J. Barker / Christopher Courault / Javier Á. Domingo et al. (Eds.), From Concept to Monument. Time and Costs of Construction in the Ancient World. Papers in Honour of Janet DeLaine. Oxford, Archaeopress 2023
  12. Christian Laes / Irina Metzler (Eds.), „Madness“ in the Ancient World. Innate or Acquired? From Theoretical Concepts to Daily Life. Turnhout, Brepols 2023
  13. Jan-Markus Kötter / Maria Osmers / Dorothea Rohde u. a. (Hrsg.), Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike. Stuttgart, Steiner 2024
  14. Daniel Fallmann, Der Rand der Welt. Die Vorstellungen der Griechen von den Grenzen der Welt in archaischer und klassischer Zeit. (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachbarn, Bd. 220.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  15. Irene F. de Jong / Miguel John Versluys (Eds.), Reading Greek and Hellenistic-Roman Spolia. Objects, Appropriation and Cultural Change. Leiden, Brill 2023
  16. Giustina Monti (Ed.), Alexander the Great. Letters: A Selection. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  17. Ian Worthington, The Last Kings of Macedonia and the Triumph of Rome. Oxford, Oxford University Press 2023
  18. Christian Marek, Rom und der Orient. Reiche, Götter, Könige. München, Beck 2023
  19. Paul V. Kelly, The Financial Markets of Roman Egypt. Risk and Return. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  20. Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
  21. Francisco Pina Polo (Ed.), The Triumviral Period. Civil War, Political Crisis and Socioeconomic Transformations. (Libera Res Publica, Vol. 2. Monografías sobre aspectos institucionales, políticos, sociales económicos, historiográficos, culturales y de género en la Républica romana.) Universidad de Zaragoza 2020
  22. Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
  23. Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
  24. Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Heinz Erich Stiene (Bearb.), Die Gründungsgeschichte der Abtei Brauweiler. Fundatio monasterii Brunwilarensis. Köln, Böhlau 2024
  27. Monumenta Germaniae Historica (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica. Cronica Aule regie. Die Königsaaler Chronik. Hrsg. von Anna Pumprová und Libor Jan unter Mitarbeit von Robert Antonín, Demeter Malaťák, Libor Švanda und Zdeněk Žalud. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 40.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  28. Anna Paulina Orłowska, Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Bd. 77.) Köln, Böhlau 2020
  29. Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
  30. Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
  31. Georg B. Michels, The Habsburg Empire under Siege. Ottoman Expansion and Hungarian Revolt in the Age of Grand Vizier Ahmed Koeprulu (1661–76). Montreal, QC, McGill-Queen’s University Press 2021
  32. Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
  33. Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  34. Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
  35. Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  36. Boris Ganichev, Integrating Imperial Space. The Russian Customs System in the 19th Century. (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Vol. 26.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  37. Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
  38. Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023
  39. Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. (Global- und Kolonialgeschichte.) Bielefeld, Transcript 2024
  40. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München, Beck 2023
  41. Katja Hoyer, Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871–1918. Hamburg, Hoffmann und Campe 2024
  42. Mischa Suter, Geld an der Grenze. Souveränität und Wertmaßstäbe im Zeitalter des Imperialismus 1871–1923. Berlin, Matthes & Seitz 2024
  43. Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023
  44. Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
  45. Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
  46. Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  47. Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
  48. Manfred Görtemaker, Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie. München, Beck 2023
  49. Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen, Wallstein 2021
  50. Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Eds.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. Bielefeld, Transcript 2022
  51. Sebastian Rojek, Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  52. Jacob Tovy, Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949–1953). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  53. Jan Ruhkopf, Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961. Göttingen, Wallstein 2023
  54. Rob Waters, Colonized by Humanity. Caribbean London and the Politics of Integration at the End of Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  55. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
  56. Kyrill Kunakhovich, Communism’s Public Sphere. Culture as Politics in Cold War Poland and East Germany. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  57. Mathieu Dubois, Die liberale Kraft Europas. Die Soziale Marktwirtschaft in der Europapolitik der Bundesrepublik, 1953–1993. Bielefeld, Transcript 2024
  58. Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Berlin, Suhrkamp 2023
  59. Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart, Kohlhammer 2022
  60. Eingegangene Bücher
  61. Eingegangene Bücher
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