Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023

Britta von Voithenberg

doi:10.1515/hzhz-2025-1030

Artikel Open Access

Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023

Britta von Voithenberg

Veröffentlicht/Copyright: 1. Februar 2025

Veröffentlicht von

Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Informationen für Autor*innen Erkunden Sie dieses Fachgebiet

Aus der Zeitschrift Historische Zeitschrift Band 320 Heft 1

Rezensierte Publikation:

Andrea Pühringer, Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104. 2023 Böhlau (Köln) Köln, 978-3-412-52588-0, € 50,–

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes basieren auf den Vorträgen der Tagung „Kurstädte in der Neuzeit. Vermeintliche Idylle, wachsende Urbanität und demonstrativer Konsum“, die das Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im März 2021 in Zusammenarbeit mit Andrea Pühringer (Grünberg) und Martin Scheutz (Wien) veranstaltete.

Der Tagungsband hebt die „Kurstadt“ aus ihrem bisherigen Schattendasein in der Stadtgeschichtsforschung und schenkt kleinen Kurstädten Aufmerksamkeit, die bislang nicht auf dem Radar der Forschung waren, weil sie die Kriterien der einstmaligen Größe oder touristischer Relevanz nicht erfüllen. Die Kurstadt wird durch die Autorinnen und Autoren weit gedacht und umfasst Kur-, Luftkur- sowie Badeorte. So gelingt ein umfassender Blick auf die Widersprüchlichkeiten der Kurstädte, die in und mit zahlreichen Spannungsfeldern und Diskursen (etwa: ländliche Idylle und städtische Moderne, reich und arm, Rassismus und Fremdenhass) konfrontiert waren. Mit dem Beitrag von Martin Scheutz zu Kurstädten im Kontext interdisziplinärer Forschungen steht am Anfang des Sammelbandes ein Forschungsüberblick, der den Beginn der historischen Forschungen zu Kurorten in den 1970er Jahren verortet. Viele Teildisziplinen befassen sich seitdem mit Kurstädten, aber nicht immer kommunizieren diese ertragreich miteinander – so Scheutz. Andrea Pühringers Beitrag stellt daran anschließend dar, welch schwierigen Stand die Kurstadt bislang in der Stadtgeschichtsforschung hat. Da alle Typologisierungsweisen für Städte für Kurstädte keine belastbaren Kriterien bereitstellten, fielen diese bislang weitgehend durch das Raster der Stadtgeschichtsforschung. Pühringer legt einen Überblick zu bisherigen Forschungen – etwa zu Stadt-Umland-Beziehungen – vor, die sich durch die Anlage von Kurarealen deutlich änderten. Damit greift sie neue Forschungen auf, die Stadt und Land in neuem Licht sehen, und findet Anknüpfungspunkte für eine neu gedachte Geschichte von Kurorten. Ihr Blick bleibt dabei ein urbaner.

Im Anschluss versammelt der Band diverse Beiträge. Man kann sie grob den Feldern Politik, Kultur, Architektur, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik zuordnen: Alexander Jendorff zeigt in seinem Beitrag zu Diplomatie in Kurorten auf, dass die Bäder wichtig für diplomatische Beziehungen waren, weil sie zwar einerseits Orte der Verbürgerlichung waren, aber andererseits Fürsten und Adel an den Räumen partizipierten. Die bewegte „Diplomatie der Moderne“ findet Jendorff also besonders in Kurstädten. Rainer Hering diskutiert in seinem Aufsatz zu Konfessionskulturen, welche Rolle religiöse Orte und Rituale in der Kurgesellschaft spielten, und stellt heraus, dass Religion auch besonders als ökonomischer Faktor relevant für die Kurstädte war. Mit der quantitativen Analyse der Werbeschaltungen von Kurorten in der österreichischen Badezeitung befasst sich Michael Prokosch und belegt, dass Kurorte sich um gute technische Infrastrukturen bemühten und somit als Katalysatoren moderner Infrastrukturen zu betrachten sind. In diesen Bereich lässt sich auch der Aufsatz von Michael Hascher einordnen, der danach fragt, ob Kurorte als „Hotspots“ der Technikgeschichte gesehen werden sollten. Auch Andreas Tacke unterstreicht mit seiner Studie zur verborgenen Moderne und der Architektur der Kurstädte, dass neueste und modernste Bauchtechniken und -materialien in Kurstädten Verwendung fanden: Von der Orchestermuschel bis zum Schornstein als Schlossturm ließen sich Architekten und Konstrukteure viel einfallen. Im Kurtheater sieht Stefan Hulfeld den klaren Beweis, dass Kurgäste das gewohnte urbane Ambiente auch im Kurort erleben wollten, sodass das Renommee einer Kurstadt (bei Adel und Bürgertum) vom Theaterangebot abhing. Weiterhin stellten Kurstädte bedeutende Orte für die Rezeptionsgeschichte berühmter Musikwerke dar (Thomas Aigner), denn sie boten mit Festivals das passende Ambiente für die Darbietung. Holger Th. Gräf widmet sich Kurstädten als Orte des Kunstmarktes. Kunstkonsum nahm in der gehobenen Gesellschaft der Kurstadt einen großen Stellenwert ein und stellte eine luxuriöse Art des Zeitvertreibs dar. Hier ist auch der Beitrag zur fotografischen Rezeption von Evelyn Reso einzuordnen, denn wer in der Kurgesellschaft etwas auf sich hielt, ließ Erinnerungsfotos von sich am Kurort aufnehmen. Auch in der europäischen Literatur finden sich Romane, die das Image der Kurstädte wirkmächtig im bürgerlichen Publikum verbreiteten. Wynfrid Kriegleder sieht dies besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im europäischen Raum. Auch die Beiträge zu Gärten und Parks (Christina Wanja) und zum Sport (Matthias Marschik) zeigen, dass Kurstädte eine wichtige Position in der Herausbildung moderner (bürgerlicher und gehobener) Freizeit- und Erholungsformen einnahmen.

Mit dieser thematischen Breite gelingt es, die Kurstadt in der Herausbildung der „Moderne“ zu verorten und sie als wesentliches Element des gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens zu kennzeichnen. Wünschenswert wären tiefere Einblicke in die sogenannten Armenbäder gewesen, denn es besteht (auch quellenbedingt) ein Überhang an Untersuchungen zu bürgerlicher und adeliger Kurpraxis. Weiterführend wären auch Blicke auf außereuropäische Kurmöglichkeiten und eine weitere Vertiefung der hier angedachten theoretischen Ansätze denkbar, da viele Beiträge lediglich erste Systematisierungsversuche liefern.

Online erschienen: 2025-02-01

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Artikel in diesem Heft

https://doi.org/10.1515/hzhz-2025-1030

Creative Commons

BY-NC-ND 3.0