Home Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
Article Open Access

Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023

  • Kai Struve EMAIL logo
Published/Copyright: February 1, 2025
Become an author with De Gruyter Brill

Rezensierte Publikation:

Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). 2023 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 978-3-525-37054-4, € 70,–


Die Studie untersucht die vielschichtigen polnisch-jüdischen Beziehungen anhand des Verhältnisses des polnischen Militärs und der jüdischen Minderheit. Die polnische Armee der Zweiten Republik erweist sich dabei als ein besonders geeigneter Fall, um Einsichten in verschiedene, oft sehr gegensätzliche Dimensionen des polnisch-jüdischen Verhältnisses zu gewinnen.

Das Buch ist in vier größere Abschnitte gegliedert. In einem ersten Abschnitt behandelt es die Vorgeschichte des Themas in der Teilungszeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Dies ist wichtig, da hier zentrale Deutungsmuster und politische Orientierungen auf polnischer und jüdischer Seite entstanden, die dann auch im unabhängigen Polen einflussreich blieben. Im Zentrum dieses Abschnitts steht die Frage der Beteiligung von Juden an den polnischen Nationalaufständen.

Der zweite größere Abschnitt behandelt dann die Entstehung der polnischen Armee in den Jahren nach 1918 und die verschiedenen Kämpfe um die Grenzen, vor allem im Osten, bis 1921. Das Ereignis, das der Verfasser ins Zentrum dieses Abschnitts stellt, ist die Internierung von mehreren tausend jüdischen Soldaten der polnischen Armee im August und September 1920 in einer Kaserne in Jabłonna bei Warschau. Trotz oder gerade wegen der kritischen Lage der polnischen Armee, als die Rote Armee im August 1920 schnell auf Warschau vorstieß, ordnete die Armeeführung an, den Anteil jüdischer Soldaten in den verschiedenen Einheiten auf höchstens fünf Prozent zu beschränken. Die überzähligen Soldaten wurden in Jabłonna interniert. Dies ging auf die Vorstellung zurück, dass die revolutionären, bolschewistischen Bestrebungen vor allem von der jüdischen Bevölkerung unterstützt würden.

Diese Vorstellung war auch eine Ursache für eine Reihe von Gewalttaten und pogromartigen Ausschreitungen polnischer Militäreinheiten gegen Juden in den Jahren 1919/20 im Zusammenhang mit dem polnisch-sowjetrussischen Krieg. Während es sich hier aber um Exzesse einzelner Einheiten oder Soldaten handelte, ging die Internierung in Jabłonna auf Entscheidungen der Armeeführung zurück. Der Verfasser behandelt dieses Ereignis als ein zentrales Symbol für die Widersprüche im polnisch-jüdischen Verhältnis in der Armee und darüber hinaus, die auch in den folgenden knapp zwei Jahrzehnten der Zweiten Republik nicht überwunden wurden. So forderten wesentliche Teile der polnische Mehrheitsgesellschaft von Juden ein patriotisches Engagement für den neuen polnischen Staat, ohne dass aber die Benachteiligung wirklich endete, wenn sie solch ein Engagement zeigten. So hatten sich nicht wenige der Juden, die in Jabłonna interniert wurden, erst kurz zuvor freiwillig zur Verteidigung von Warschau gemeldet.

Die Widersprüchlichkeit im Verhältnis der Armee zu den jüdischen Soldaten steht auch im Zentrum des dritten großen Abschnitts über die Zeit von 1921 bis 1939. Vorwiegend auf der Basis von Akten der Militärbehörden zeigt Henschel hier, wie die die Armeeführung und die polnische Politik den Militärdienst als Mittel der patriotischen Erziehung der Juden (und anderer Minderheiten) nutzen wollten, aber gleichzeitig an diskriminierenden Praktiken festhielten. So war es für Juden praktisch unmöglich, eine Laufbahn als Berufsoffizier einzuschlagen. Positiv hervorzuheben ist hier, dass Henschel das Verhältnis von Armee und jüdischer Minderheit relativ umfangreich in den Kontext des Umgangs der polnischen Armee und Politik mit anderen nationalen Minderheiten einordnet. Im vierten Abschnitt behandelt die Studie dann die Aktivitäten jüdischer Veteranenorganisationen.

Insgesamt bietet der Band einen dichten Einblick in einen zentralen Aspekt der Politik des polnischen Staates gegenüber der jüdischen Minderheit. Sie stellt einen wichtigen, differenzierten Beitrag zur Geschichte des polnisch-jüdischen Verhältnisses in der Zweiten Republik dar.

Online erschienen: 2025-02-01

© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Wann ist ein Mann ein (Ehe-)Mann? Der Nachweis gleichgeschlechtlicher Ehen und der Geschlechtsfluidität in der römischen Kaiserzeit
  4. Dort schafft man die Kronjuwelen fort ... Objekt-Perspektiven auf die 1848er Revolution
  5. Historische Forschung – Archiv – Verwaltung. Eine zu entdeckende Dreiecksbeziehung als Schicksalsgemeinschaft in digitalen Zeiten
  6. Notker Hammerstein (1930–2024)
  7. Im Blick der Historie
  8. Rezensionen
  9. Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Eds.), Historical Culture by Restitution? A Debate on Art, Museums, and Justice. Köln, Böhlau 2023
  10. Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Stuttgart, Klett-Cotta 2023
  11. Simon J. Barker / Christopher Courault / Javier Á. Domingo et al. (Eds.), From Concept to Monument. Time and Costs of Construction in the Ancient World. Papers in Honour of Janet DeLaine. Oxford, Archaeopress 2023
  12. Christian Laes / Irina Metzler (Eds.), „Madness“ in the Ancient World. Innate or Acquired? From Theoretical Concepts to Daily Life. Turnhout, Brepols 2023
  13. Jan-Markus Kötter / Maria Osmers / Dorothea Rohde u. a. (Hrsg.), Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike. Stuttgart, Steiner 2024
  14. Daniel Fallmann, Der Rand der Welt. Die Vorstellungen der Griechen von den Grenzen der Welt in archaischer und klassischer Zeit. (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachbarn, Bd. 220.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  15. Irene F. de Jong / Miguel John Versluys (Eds.), Reading Greek and Hellenistic-Roman Spolia. Objects, Appropriation and Cultural Change. Leiden, Brill 2023
  16. Giustina Monti (Ed.), Alexander the Great. Letters: A Selection. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  17. Ian Worthington, The Last Kings of Macedonia and the Triumph of Rome. Oxford, Oxford University Press 2023
  18. Christian Marek, Rom und der Orient. Reiche, Götter, Könige. München, Beck 2023
  19. Paul V. Kelly, The Financial Markets of Roman Egypt. Risk and Return. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  20. Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
  21. Francisco Pina Polo (Ed.), The Triumviral Period. Civil War, Political Crisis and Socioeconomic Transformations. (Libera Res Publica, Vol. 2. Monografías sobre aspectos institucionales, políticos, sociales económicos, historiográficos, culturales y de género en la Républica romana.) Universidad de Zaragoza 2020
  22. Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
  23. Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
  24. Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Heinz Erich Stiene (Bearb.), Die Gründungsgeschichte der Abtei Brauweiler. Fundatio monasterii Brunwilarensis. Köln, Böhlau 2024
  27. Monumenta Germaniae Historica (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica. Cronica Aule regie. Die Königsaaler Chronik. Hrsg. von Anna Pumprová und Libor Jan unter Mitarbeit von Robert Antonín, Demeter Malaťák, Libor Švanda und Zdeněk Žalud. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 40.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  28. Anna Paulina Orłowska, Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Bd. 77.) Köln, Böhlau 2020
  29. Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
  30. Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
  31. Georg B. Michels, The Habsburg Empire under Siege. Ottoman Expansion and Hungarian Revolt in the Age of Grand Vizier Ahmed Koeprulu (1661–76). Montreal, QC, McGill-Queen’s University Press 2021
  32. Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
  33. Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  34. Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
  35. Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  36. Boris Ganichev, Integrating Imperial Space. The Russian Customs System in the 19th Century. (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Vol. 26.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  37. Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
  38. Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023
  39. Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. (Global- und Kolonialgeschichte.) Bielefeld, Transcript 2024
  40. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München, Beck 2023
  41. Katja Hoyer, Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871–1918. Hamburg, Hoffmann und Campe 2024
  42. Mischa Suter, Geld an der Grenze. Souveränität und Wertmaßstäbe im Zeitalter des Imperialismus 1871–1923. Berlin, Matthes & Seitz 2024
  43. Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023
  44. Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
  45. Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
  46. Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  47. Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
  48. Manfred Görtemaker, Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie. München, Beck 2023
  49. Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen, Wallstein 2021
  50. Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Eds.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. Bielefeld, Transcript 2022
  51. Sebastian Rojek, Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  52. Jacob Tovy, Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949–1953). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  53. Jan Ruhkopf, Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961. Göttingen, Wallstein 2023
  54. Rob Waters, Colonized by Humanity. Caribbean London and the Politics of Integration at the End of Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  55. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
  56. Kyrill Kunakhovich, Communism’s Public Sphere. Culture as Politics in Cold War Poland and East Germany. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  57. Mathieu Dubois, Die liberale Kraft Europas. Die Soziale Marktwirtschaft in der Europapolitik der Bundesrepublik, 1953–1993. Bielefeld, Transcript 2024
  58. Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Berlin, Suhrkamp 2023
  59. Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart, Kohlhammer 2022
  60. Eingegangene Bücher
  61. Eingegangene Bücher
Downloaded on 3.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/hzhz-2025-1038/html
Scroll to top button