Startseite Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
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Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Februar 2025
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Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. Campus Historische Studien, Bd. 82. 2023 Campus Verlag GmbH Frankfurt am Main, 9783593517018, € 54,–


Das spanische Kolonialreich in Amerika war ein geschlossenes System, zu dem Ausländer und Menschen ohne „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre) keinen Zutritt hatten – so die Theorie. Die Praxis, das weiß die Forschung seit langem, sah anders aus. Die Dekrete der spanischen Krone, so detailliert sie auch sein mochten, waren nur selten an die Realität in den fernen Kolonien angepasst. Ebenso selten wurden sie wortgetreu eingehalten. Die Phrase „Obedézcase, pero no se cumpla“ wurde im 14. Jahrhundert in Kastilien geprägt. Später fand die Formel im spanischen Amerika Verwendung, um eine vom König erlassene Vorschrift unwirksam zu machen, wenn diese gegen die Rechtsprechung oder die traditionellen Gepflogenheiten eines Ortes verstieß. Die Erkenntnis der relativen Autonomie, die sich für die Kolonien daraus ableitete, ist ein entscheidender Faktor dafür, dass sich die Geschichtsschreibung zum kolonialen Amerika schon seit langem von ihrem ursprünglich vorherrschenden Fokus auf die gesetzlichen Regularien des Mutterlands gelöst hat.

Das ist auch und gerade im Fall der Ausländerpolitik notwendig. Die Quellen lehren uns, dass es während der mehr als dreihundertjährigen Herrschaft nicht nur „extranjeros“ nach Amerika schafften, sondern dass es auch nebulös blieb, was eigentlich Ausländer und was Spanier in den protonationalen Kontexten des frühneuzeitlichen Amerika waren. In seiner Münchner Habilitationsschrift wendet sich Martin Biersack diesen Aushandlungsprozessen zu. Er folgt der von Tamar Herzog vorgegebenen Frage nach den zeitgenössischen „Kategorien, mit denen die Zugehörigkeit ausgedrückt wurde“ (S. 22). Die klassische Top-down-Perspektive will er mit der in der neuen Forschung verbreiteten Bottom-up-Perspektive verbinden, um die Heterogenität der Prozesse zu erfassen, an denen zahlreiche Akteure wie Staat, Migranten, lokale Autoritäten etc. teilhatten. Das ist ein interessanter Ansatz, weil er staatliche Vorgaben wieder stärker mit in die Betrachtung einbezieht.

Biersack analysiert sieben Ausweisungskampagnen im 18. Jahrhundert, das auch den Untersuchungszeitraum absteckt (der Buchtitel ist leicht irreführend). Es gibt gute Gründe für die Wahl dieser Phase, denn unter den Bourbonen erhielten die Gesetze mehr Wirksamkeit. Die Gründe für die Kampagnen waren handelspolitische Interessen der ortsansässigen Kaufleute, die sich der Konkurrenz entledigen wollten, sowie Bedrohungslagen wie Kriege oder Revolutionen, auf die die Krone reagierte. Das Ergebnis war ernüchternd. Nur sehr wenige, nämlich 238 „extranjeros“ wurden tatsächlich ausgewiesen. Der Verfasser argumentiert, dass der große bürokratische Aufwand, den die frühneuzeitliche Verwaltung betrieb, dennoch Sinn hatte, da der Exklusionsmechanismus durch seine Latenz wirkte und die Ausländer zu Anpassung und Integration drängte.

Regional setzt die Studie Schwerpunkte dort, wo besonders viele Ausländer anzutreffen waren: am Rio de la Plata, in Hochperu, Chile, Kuba und Mexiko-Stadt. Neben den üblichen spanischen Archiven wurden die Archive aus besagten Ländern ausgewertet. Biersack geht praxeologisch vor und konzentriert sich auf eine Auswahl von Einzelfällen, an denen er die Aushandlungsprozesse studiert. In den ersten sechs Kapiteln geht es um Faktoren wie Zugehörigkeit, Immigration und Integration. Die politischen Leitlinien werden unter kommerziellen, religiösen, sicherheits- und bevölkerungspolitischen Aspekten untersucht. Auch die Aufnahme von Revolutionsflüchtlingen findet hier Beachtung. Die koloniale Rechtsordnung und ihre Akteure erhalten ein eigenes Kapitel. Interessant sind zudem die Kapitel zu den Ausweisungskampagnen und den Rechtspraktiken der Duldung. Die beiden abschließenden Kapitel bilden einen zweiten Teil der Arbeit, denn sie berichten von den Veränderungen, die die atlantischen Revolutionen hervorriefen. Insgesamt handelt es sich um ein sehr lesenswertes, gründliches Buch, das ein altes Thema in neuem Licht erscheinen lässt.

Online erschienen: 2025-02-01

© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Wann ist ein Mann ein (Ehe-)Mann? Der Nachweis gleichgeschlechtlicher Ehen und der Geschlechtsfluidität in der römischen Kaiserzeit
  4. Dort schafft man die Kronjuwelen fort ... Objekt-Perspektiven auf die 1848er Revolution
  5. Historische Forschung – Archiv – Verwaltung. Eine zu entdeckende Dreiecksbeziehung als Schicksalsgemeinschaft in digitalen Zeiten
  6. Notker Hammerstein (1930–2024)
  7. Im Blick der Historie
  8. Rezensionen
  9. Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Eds.), Historical Culture by Restitution? A Debate on Art, Museums, and Justice. Köln, Böhlau 2023
  10. Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Stuttgart, Klett-Cotta 2023
  11. Simon J. Barker / Christopher Courault / Javier Á. Domingo et al. (Eds.), From Concept to Monument. Time and Costs of Construction in the Ancient World. Papers in Honour of Janet DeLaine. Oxford, Archaeopress 2023
  12. Christian Laes / Irina Metzler (Eds.), „Madness“ in the Ancient World. Innate or Acquired? From Theoretical Concepts to Daily Life. Turnhout, Brepols 2023
  13. Jan-Markus Kötter / Maria Osmers / Dorothea Rohde u. a. (Hrsg.), Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike. Stuttgart, Steiner 2024
  14. Daniel Fallmann, Der Rand der Welt. Die Vorstellungen der Griechen von den Grenzen der Welt in archaischer und klassischer Zeit. (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachbarn, Bd. 220.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  15. Irene F. de Jong / Miguel John Versluys (Eds.), Reading Greek and Hellenistic-Roman Spolia. Objects, Appropriation and Cultural Change. Leiden, Brill 2023
  16. Giustina Monti (Ed.), Alexander the Great. Letters: A Selection. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  17. Ian Worthington, The Last Kings of Macedonia and the Triumph of Rome. Oxford, Oxford University Press 2023
  18. Christian Marek, Rom und der Orient. Reiche, Götter, Könige. München, Beck 2023
  19. Paul V. Kelly, The Financial Markets of Roman Egypt. Risk and Return. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  20. Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
  21. Francisco Pina Polo (Ed.), The Triumviral Period. Civil War, Political Crisis and Socioeconomic Transformations. (Libera Res Publica, Vol. 2. Monografías sobre aspectos institucionales, políticos, sociales económicos, historiográficos, culturales y de género en la Républica romana.) Universidad de Zaragoza 2020
  22. Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
  23. Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
  24. Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Heinz Erich Stiene (Bearb.), Die Gründungsgeschichte der Abtei Brauweiler. Fundatio monasterii Brunwilarensis. Köln, Böhlau 2024
  27. Monumenta Germaniae Historica (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica. Cronica Aule regie. Die Königsaaler Chronik. Hrsg. von Anna Pumprová und Libor Jan unter Mitarbeit von Robert Antonín, Demeter Malaťák, Libor Švanda und Zdeněk Žalud. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 40.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  28. Anna Paulina Orłowska, Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Bd. 77.) Köln, Böhlau 2020
  29. Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
  30. Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
  31. Georg B. Michels, The Habsburg Empire under Siege. Ottoman Expansion and Hungarian Revolt in the Age of Grand Vizier Ahmed Koeprulu (1661–76). Montreal, QC, McGill-Queen’s University Press 2021
  32. Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
  33. Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  34. Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
  35. Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  36. Boris Ganichev, Integrating Imperial Space. The Russian Customs System in the 19th Century. (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Vol. 26.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  37. Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
  38. Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023
  39. Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. (Global- und Kolonialgeschichte.) Bielefeld, Transcript 2024
  40. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München, Beck 2023
  41. Katja Hoyer, Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871–1918. Hamburg, Hoffmann und Campe 2024
  42. Mischa Suter, Geld an der Grenze. Souveränität und Wertmaßstäbe im Zeitalter des Imperialismus 1871–1923. Berlin, Matthes & Seitz 2024
  43. Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023
  44. Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
  45. Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
  46. Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  47. Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
  48. Manfred Görtemaker, Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie. München, Beck 2023
  49. Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen, Wallstein 2021
  50. Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Eds.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. Bielefeld, Transcript 2022
  51. Sebastian Rojek, Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  52. Jacob Tovy, Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949–1953). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  53. Jan Ruhkopf, Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961. Göttingen, Wallstein 2023
  54. Rob Waters, Colonized by Humanity. Caribbean London and the Politics of Integration at the End of Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  55. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
  56. Kyrill Kunakhovich, Communism’s Public Sphere. Culture as Politics in Cold War Poland and East Germany. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  57. Mathieu Dubois, Die liberale Kraft Europas. Die Soziale Marktwirtschaft in der Europapolitik der Bundesrepublik, 1953–1993. Bielefeld, Transcript 2024
  58. Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Berlin, Suhrkamp 2023
  59. Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart, Kohlhammer 2022
  60. Eingegangene Bücher
  61. Eingegangene Bücher
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