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Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Februar 2025
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Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. 2023 Hanser, im Carl-Hanser Verlag München, 978-3-446-27607-9, € 24,–


Wahrscheinlich zu allen Zeiten, aber ganz besonders in der Belle Époque, konnten es sich reiche homosexuelle Männer durchaus gutgehen lassen. Gepaart mit einer zeittypischen „Sehnsucht nach dem Süden“ war man um 1900 als schwuler Mann in Italien, Griechenland und Ägypten weitgehend sicher und konnte sich ausleben. Der Skandal um Krupp auf Capri 1902 war gerade deshalb so sensationell, weil er die Ausnahme von der Regel darstellte.

Elitismus und Klassismus, kosmetischer Schönheits- und Jugendkult und kapitalistischer Konsumwahn sind bis heute Faktoren, die im Bereich der Sexualität gerne ausgeblendet werden. Als SexualpartnerInnen scheinen – zumindest in den westlichen Gesellschaften – alle irgendwie gleich zu sein, je nach Attraktivität eben. Es scheint inzwischen ziemlich fair und gerecht zuzugehen. Auf dieses Phänomen weist auch Benno Gammerl in seinem Büchlein „Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute“ hin. Der Text ist eher ein launiger Essay denn ein wissenschaftliches Werk. Als ein „Who is who“ der verschiedenen Persönlichkeiten und Bewegungen auf dem Feld der sexuellen Liberalisierung (und Diskriminierung) in Deutschland ist er gut zu lesen und sticht durch manch pointierte Betrachtung hervor. Geboten wird weitgehend eine Geschichte der „Bewegung“, daher sind Aspekte wie Klassismus und Elitismus besonders wichtig, um hin und wieder an die nicht so schöne Welt der Grabenkämpfe und Diskriminierungen innerhalb der verschiedenen queeren Communities zu erinnern und nicht allein hochidealistischen Forderungen nachzugehen, die der Realität nicht standhalten konnten und können.

Was Gammerl unter „queeren“ Menschen versteht, wird leider nicht ganz deutlich. Der Text spricht immer wieder von „gleichgeschlechtlich begehrenden und gender-nonkonformen Menschen“. Wer aber ist eigentlich gender-konform? Und über welche Zahlenverhältnisse sprechen wir? Der letzte Punkt ist bis heute unklar: Wie viele „andersgeschlechtlich“, wieviele „gleichgeschlechtlich“ begehrende Menschen gibt es eigentlich im heutigen Deutschland, wie viele in Europa? Die Ergründung dieser Frage, mit der sich bereits der frühe Sexualwissenschaftler und Vorkämpfer für die Rechte Homosexueller Magnus Hirschfeld beschäftigte, wäre heute für jedes demoskopische Institut ein Kinderspiel.

Die Schattenseiten der „queeren“ Bewegung scheinen bei Gammerl nur am Rande auf. Etwa die eugenischen Überzeugungen von Magnus Hirschfeld oder Johanna Elberskirchen im späten Kaiserreich. In der Weimarer Republik wird die Gemengelage noch undeutlicher: Denn „die“ Linke, vor allem die Kommunisten, war keineswegs einheitlich für die Liberalisierung des berüchtigten Strafparagraphen 175, der beischlafähnliche Handlungen unter Männer mit Zuchthaus bedrohte, bevor er unter den Nationalsozialisten verschärft und zu vieltausendfachen KZ-Einweisungen missbraucht wurde. Die traurige Wahrheit ist: Selbst unter den Aktivisten der sexuellen Liberalisierung in Deutschland waren alle politischen Strömungen anzutreffen, inklusive der Antisemiten. Umgekehrt besaß der Nationalsozialismus eine erhebliche Liberalisierungswirkung im Bereich der (Hetero-)Sexualität, wie Dagmar Herzog in vielen Studien nachgewiesen hat. Solche – irritierenden – Erkenntnisse kommen bei Gammerl viel zu kurz, da sie nur schlecht oder gar nicht in Bewegungsgeschichten passen, die gerne auf positive Kontinuitäten verweisen möchten.

Was der Verfasser zumindest ein paar Mal hervorhebt, sind die markanten Gegenläufigkeiten in der Geschichte der Sexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert. Es gibt beinahe immer die Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung. Eine gesellschaftliche Gruppe kann sich durchaus auf Kosten anderer mehr Freiheiten verschaffen, so geschehen während des Eulenburg-Skandals 1906–1909 oder nach der Röhm-Affäre 1934, die als Katalysatoren heterosexueller Liberalisierung auf Kosten der Homosexuellen betrachtet werden können. Aber auch heute wird das ideale schwule Ehepaar, am besten mit Kindern, die perfekte lesbische Regenbogenfamilie und der schöne und attraktive Transmann immer auf Kosten derjenigen idealisiert, die diesen Ansprüchen nicht genügen können oder sich nicht in Schemata bürgerlich-kapitalistischer Ordnungsvorstellungen pressen lassen wollen. Hier springt besonders der Nachteil fehlender Belege ins Auge, wodurch der Essay zwar unterhaltsam zu lesen, aber wissenschaftlich nicht nutzbar ist: Von welchen Forscherinnen und Forschern Gammerl zahlreiche Erkenntnisse übernommen hat, wird nirgendwo deutlich gemacht. Seine Quellen hätte er im Text selbst durchaus benennen können.

Zu kurz kommt leider auch die unheimlichste Schattenseite der sexuellen Aufklärung und Liberalisierung in Deutschland, die auch in den Communities immer noch tabuisiert wird: Die vielen bis in die Gegenwart reichenden personellen und strukturellen Verbindungen zu Pädophilen und Pädo-Aktivisten, vor allem in den den 1970er und 1980er Jahren entstanden, sind bis heute nicht aufgedeckt und erforscht. Im Text finden sich Hinweise dazu auf nur einer knappen Seite. Dies macht einmal mehr deutlich, dass gleichberechtigte Sexualität ohne Machtgefälle unter Menschen ein schöner Traum ist, sexuelle Freiheit aber nie ganz ohne strafrechtliche Einschränkungen auskommen wird.

Online erschienen: 2025-02-01

© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Wann ist ein Mann ein (Ehe-)Mann? Der Nachweis gleichgeschlechtlicher Ehen und der Geschlechtsfluidität in der römischen Kaiserzeit
  4. Dort schafft man die Kronjuwelen fort ... Objekt-Perspektiven auf die 1848er Revolution
  5. Historische Forschung – Archiv – Verwaltung. Eine zu entdeckende Dreiecksbeziehung als Schicksalsgemeinschaft in digitalen Zeiten
  6. Notker Hammerstein (1930–2024)
  7. Im Blick der Historie
  8. Rezensionen
  9. Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Eds.), Historical Culture by Restitution? A Debate on Art, Museums, and Justice. Köln, Böhlau 2023
  10. Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Stuttgart, Klett-Cotta 2023
  11. Simon J. Barker / Christopher Courault / Javier Á. Domingo et al. (Eds.), From Concept to Monument. Time and Costs of Construction in the Ancient World. Papers in Honour of Janet DeLaine. Oxford, Archaeopress 2023
  12. Christian Laes / Irina Metzler (Eds.), „Madness“ in the Ancient World. Innate or Acquired? From Theoretical Concepts to Daily Life. Turnhout, Brepols 2023
  13. Jan-Markus Kötter / Maria Osmers / Dorothea Rohde u. a. (Hrsg.), Zum Umgang mit Enttäuschungen in der Antike. Stuttgart, Steiner 2024
  14. Daniel Fallmann, Der Rand der Welt. Die Vorstellungen der Griechen von den Grenzen der Welt in archaischer und klassischer Zeit. (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachbarn, Bd. 220.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  15. Irene F. de Jong / Miguel John Versluys (Eds.), Reading Greek and Hellenistic-Roman Spolia. Objects, Appropriation and Cultural Change. Leiden, Brill 2023
  16. Giustina Monti (Ed.), Alexander the Great. Letters: A Selection. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  17. Ian Worthington, The Last Kings of Macedonia and the Triumph of Rome. Oxford, Oxford University Press 2023
  18. Christian Marek, Rom und der Orient. Reiche, Götter, Könige. München, Beck 2023
  19. Paul V. Kelly, The Financial Markets of Roman Egypt. Risk and Return. Liverpool, Liverpool University Press 2023
  20. Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
  21. Francisco Pina Polo (Ed.), The Triumviral Period. Civil War, Political Crisis and Socioeconomic Transformations. (Libera Res Publica, Vol. 2. Monografías sobre aspectos institucionales, políticos, sociales económicos, historiográficos, culturales y de género en la Républica romana.) Universidad de Zaragoza 2020
  22. Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
  23. Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
  24. Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Heinz Erich Stiene (Bearb.), Die Gründungsgeschichte der Abtei Brauweiler. Fundatio monasterii Brunwilarensis. Köln, Böhlau 2024
  27. Monumenta Germaniae Historica (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica. Cronica Aule regie. Die Königsaaler Chronik. Hrsg. von Anna Pumprová und Libor Jan unter Mitarbeit von Robert Antonín, Demeter Malaťák, Libor Švanda und Zdeněk Žalud. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 40.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  28. Anna Paulina Orłowska, Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Bd. 77.) Köln, Böhlau 2020
  29. Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
  30. Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
  31. Georg B. Michels, The Habsburg Empire under Siege. Ottoman Expansion and Hungarian Revolt in the Age of Grand Vizier Ahmed Koeprulu (1661–76). Montreal, QC, McGill-Queen’s University Press 2021
  32. Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
  33. Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  34. Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
  35. Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  36. Boris Ganichev, Integrating Imperial Space. The Russian Customs System in the 19th Century. (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Vol. 26.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  37. Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
  38. Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023
  39. Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. (Global- und Kolonialgeschichte.) Bielefeld, Transcript 2024
  40. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München, Beck 2023
  41. Katja Hoyer, Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871–1918. Hamburg, Hoffmann und Campe 2024
  42. Mischa Suter, Geld an der Grenze. Souveränität und Wertmaßstäbe im Zeitalter des Imperialismus 1871–1923. Berlin, Matthes & Seitz 2024
  43. Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023
  44. Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
  45. Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
  46. Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  47. Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
  48. Manfred Görtemaker, Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie. München, Beck 2023
  49. Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen, Wallstein 2021
  50. Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Eds.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. Bielefeld, Transcript 2022
  51. Sebastian Rojek, Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  52. Jacob Tovy, Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949–1953). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  53. Jan Ruhkopf, Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961. Göttingen, Wallstein 2023
  54. Rob Waters, Colonized by Humanity. Caribbean London and the Politics of Integration at the End of Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  55. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
  56. Kyrill Kunakhovich, Communism’s Public Sphere. Culture as Politics in Cold War Poland and East Germany. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  57. Mathieu Dubois, Die liberale Kraft Europas. Die Soziale Marktwirtschaft in der Europapolitik der Bundesrepublik, 1953–1993. Bielefeld, Transcript 2024
  58. Stefan-Ludwig Hoffmann, Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Berlin, Suhrkamp 2023
  59. Detlev Brunner, Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart, Kohlhammer 2022
  60. Eingegangene Bücher
  61. Eingegangene Bücher
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