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Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023

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Published/Copyright: February 1, 2025
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Rezensierte Publikation:

Anne-Marie Kilday, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. 2023 Oxford University Press Oxford, 9780198830733, £ 83,–


Ein in der Kriminalitätsgeschichte immer wieder diskutiertes Phänomen ist die Geschlechterdifferenz im dokumentierten strafbaren Verhalten. Diese Differenz war zwar nicht zu allen Zeiten und bei allen Deliktarten gleichermaßen ausgeprägt. Aber gerade für das europäische 19. Jahrhundert verweisen zahlreiche historische Studien ebenso wie zeitgenössische Kriminalstatistiken auf ein zunehmendes Auseinanderklaffen der Kriminalitätsraten von Männern und Frauen: Letztere stellten insgesamt einen deutlich geringeren und im Zeitverlauf weiter sinkenden Anteil an den Bestraften in fast allen Bereichen der Delinquenz. Warum aber dieser Trend und spiegelt er überhaupt eine reale Verhaltensdifferenz? Anne-Marie Kilday und David Nash wollen mit ihrem neuen Buch gängigen Erklärungen entgegentreten und die konventionelle Vorstellung, dass Frauen weniger und anders kriminell gewesen seien als Männer, einer grundsätzlichen Revision unterziehen. Sie werfen der bisherigen Historiographie, und zwar auch ihren neueren gendergeschichtlichen Varianten, vor, hergebrachte Stereotype fortzuschreiben, statt sie zu dekonstruieren. Dagegen wollen sie zeigen, dass sich die Kriminalität von Frauen effektiv weit weniger von jener der Männer unterschieden habe als gemeinhin angenommen.

Dieses Ziel verfolgen sie mittels sieben Fallstudien unterschiedlichen Zuschnitts, die alle in Großbritannien lokalisiert sind. Die erste analysiert die Texte von Balladen entlang der Frage, welche Darstellungen gewalttätiger Frauen sie transportierten und wie diese möglicherweise auf populäre Wahrnehmungen einwirkten. Die zweite Fallstudie fokussiert auf vier Frauen aus dem Umfeld des politischen Radikalismus, die in den 1820er und 1840er Jahren wegen der Verbreitung aufrührerischer und blasphemischer Schriften vor Gericht standen. Das nächste Kapitel befasst sich anhand zweier individueller Beispiele mit dem Kindsmord, einem der wenigen von Frauen dominierten Verbrechenstypen, der doch zugleich besonders drastisch gegen die vermeintliche „weibliche Natur“ verstieß. Die vierte Studie analysiert den Fall einer Giftmörderin, der dazu dient, die eigenverantwortliche Zielstrebigkeit der Täterin gegenüber Klischees von weiblicher Impulsivität oder Fernsteuerung herauszustellen. Das anschließende Kapitel wertet Gerichtsverfahren gegen Diebinnen und Diebe im Wales des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Bemühen aus, die wesentliche Gleichartigkeit der Eigentumsdelinquenz beider Geschlechter zu untermauern. Der sechste Fall ist einem mehrheitlich weiblichen Räuberquartett in Glasgow gewidmet, das eines seiner Opfer handgreiflich zu Tode brachte. Und das letzte Kapitel erzählt die Geschichte einer jungen Aristokratin, die ihren Ehmann systematisch betrog und nach einem spektakulären Scheidungsprozess in der Irrenanstalt endete, wobei allerdings nicht erläutert wird, ob der ihr vorgeworfene Ehebruch überhaupt als Straftatbestand galt.

Die Fallstudien sind alle interessant, manche sogar spannend, und sie illustrieren unbestritten, dass Frauen genauso kriminell wie Männer sein konnten. Aber lösen sie den Anspruch ein, etablierte Annahmen einer Geschlechterdifferenz im Kriminalverhalten zu erschüttern? Das lässt sich bezweifeln, denn dazu sind die präsentierten Mosaiksteine zu disparat. Dass Frauen im Allgemeinen erheblich seltener mit dem Gesetz in Konflikt gerieten als Männer, widerlegen Kilday und Nash jedenfalls nicht, und auch die These eines weiter sinkenden Frauenanteils im Lauf des 19. Jahrhunderts können sie nicht umstoßen. Das einzige Kapitel, das dies aufgrund statistischer Daten beiläufig versucht, ist jenes zur Eigentumsdelinquenz in Wales, welches aber einen zu kurzen Zeitraum abdeckt, um etwas über säkulare Trends auszusagen. Ohnehin hält das Autorenduo nicht viel von Zahlen, kritisiert vielmehr eine Historiographie, die nach regelmäßigen Mustern sucht, und propagiert stattdessen das Studium des Atypischen. Gewiss ist es wichtig, auch Atypisches zu berücksichtigen, nur eignet es sich kaum dazu, Annahmen über das Typische auszuhebeln. Fundamentaler ist ein zweiter Einwand: Warum wollen Kilday und Nash eigentlich beweisen, dass Frauen (potenziell) genauso kriminell wie Männer gewesen seien? Dahinter steht die Prämisse, dass Gesetzeskonformität passiver Unterwerfung unter patriarchale Normen gleichkomme, Kriminalität aber die selbstbewusste Wahl eines autonomen Weges jenseits von festgeschriebenen Verhaltenscodes und Rollenerwartungen bedeute. Deshalb würden konventionelle Narrative dem weiblichen Geschlecht fälschlich die Fähigkeit zu kriminellen Taten absprechen oder nur bestimmte, vermeintlich typisch weibliche Formen der Kriminalitätsbeteiligung zur Kenntnis nehmen. Aber lässt sich Kriminalität wirklich so pauschal mit Autonomie kurzschließen? Bei aller Sympathie für das Anliegen, Stereotype aufzubrechen und Frauen als eigensinnige Akteurinnen hervortreten zu lassen, erscheint diese Grundprämisse des Buches doch etwas unterkomplex.

Online erschienen: 2025-02-01

© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston

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  20. Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
  21. Francisco Pina Polo (Ed.), The Triumviral Period. Civil War, Political Crisis and Socioeconomic Transformations. (Libera Res Publica, Vol. 2. Monografías sobre aspectos institucionales, políticos, sociales económicos, historiográficos, culturales y de género en la Républica romana.) Universidad de Zaragoza 2020
  22. Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
  23. Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
  24. Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  25. Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
  26. Heinz Erich Stiene (Bearb.), Die Gründungsgeschichte der Abtei Brauweiler. Fundatio monasterii Brunwilarensis. Köln, Böhlau 2024
  27. Monumenta Germaniae Historica (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica. Cronica Aule regie. Die Königsaaler Chronik. Hrsg. von Anna Pumprová und Libor Jan unter Mitarbeit von Robert Antonín, Demeter Malaťák, Libor Švanda und Zdeněk Žalud. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 40.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  28. Anna Paulina Orłowska, Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Bd. 77.) Köln, Böhlau 2020
  29. Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
  30. Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
  31. Georg B. Michels, The Habsburg Empire under Siege. Ottoman Expansion and Hungarian Revolt in the Age of Grand Vizier Ahmed Koeprulu (1661–76). Montreal, QC, McGill-Queen’s University Press 2021
  32. Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
  33. Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  34. Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
  35. Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
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  37. Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
  38. Andrea Pühringer / Martin Scheutz (Hrsg.), Die Kurstadt als urbanes Phänomen. Konsum, Idylle und Moderne. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 104.) Köln, Böhlau 2023
  39. Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch. Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. (Global- und Kolonialgeschichte.) Bielefeld, Transcript 2024
  40. Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989. München, Beck 2023
  41. Katja Hoyer, Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871–1918. Hamburg, Hoffmann und Campe 2024
  42. Mischa Suter, Geld an der Grenze. Souveränität und Wertmaßstäbe im Zeitalter des Imperialismus 1871–1923. Berlin, Matthes & Seitz 2024
  43. Benno Gammerl, Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München, Hanser 2023
  44. Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
  45. Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
  46. Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  47. Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
  48. Manfred Görtemaker, Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie. München, Beck 2023
  49. Norman Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im „Dritten Reich“. Göttingen, Wallstein 2021
  50. Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Eds.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. Bielefeld, Transcript 2022
  51. Sebastian Rojek, Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  52. Jacob Tovy, Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949–1953). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  53. Jan Ruhkopf, Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961. Göttingen, Wallstein 2023
  54. Rob Waters, Colonized by Humanity. Caribbean London and the Politics of Integration at the End of Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  55. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
  56. Kyrill Kunakhovich, Communism’s Public Sphere. Culture as Politics in Cold War Poland and East Germany. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  57. Mathieu Dubois, Die liberale Kraft Europas. Die Soziale Marktwirtschaft in der Europapolitik der Bundesrepublik, 1953–1993. Bielefeld, Transcript 2024
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