Rezensierte Publikation:
Gabriele Anderl, Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. 2022 Transcript Verlag Bielefeld, 978-3-8376-5927-6, € 40,–
Anfang 1943 schrieb Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „We Refugees“: „Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.“ Nur wenige Monate zuvor war sie dem berüchtigten französischen Internierungslager Gurs entkommen, wie Christoph Jahr in seinem kenntnisreichen Beitrag schildert. Der Satz könnte als Motto für diesen Sammelband dienen, denn er legt die Frage nahe, wie wir Internierungs- und Konzentrationslager voneinander unterscheiden. Das Beispiel Gurs ist paradigmatisch für zwei weitere Eigenschaften von Lagern, die Jahr benennt: ihr Potential für Funktionswandel und ihre Rolle als globale lieux de mémoire.
Es ist daher zu begrüßen, dass das Phänomen der Flüchtlingsinternierungslager sowohl aus geschichts- als auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive untersucht wird. Zu oft reden die beiden Fachdisziplinen aneinander vorbei. Kommen sie hier miteinander ins Gespräch? Leider kaum. Zu unterschiedlich sind die Parameter, Grundannahmen und Ansätze, von historisch-kritisch bis unreflektiert-einseitig, zudem erscheint die Auswahl der 18 Beiträge beliebig. Bereits die Einleitung ist problematisch. Die Herausgeber behaupten, dass in den Beiträgen Lager ausschließlich als Haftorte für Geflohene definiert werden. In mehreren Beiträgen ist das jedoch nicht der Fall (Matthew Stibbe/Kim Wünschmann, Michel Agier, Jean-Michel Turcotte, Marilyn G. Miller). Die Herausgeber sprechen von „incarceration“ und „custody“ (Einsperrung, Haft) (S. 10), die in der heutigen Welt allgegenwärtig geworden seien, sowie von der staatlichen Politik, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von der Hilfeleistung abzuhalten. Auf viele europäische Länder, auch Deutschland, trifft das nicht oder nur in begrenztem Ausmaß zu. Zudem werden die Mindeststandards in Flüchtlingsunterkünften in Zusammenarbeit mit UNICEF und einer langen Liste von NGOs festgelegt. Eine „incarceration“ ist das nicht, eine „Überwachung“, um Menschen „unter Kontrolle“ zu halten, ebensowenig.
Für die Herausgeber ist es axiomatisch, dass wir „in einer Ära der Zwangsmigration leben, einem ‚Jahrhundert der Lager‘ (Zygmunt Bauman)“ (S. 9). Um Ersteres zu belegen, wären historische Daten erforderlich, die hier aber fehlen. Letzteres ist trotz der unbestrittenen Bedeutung der Institution Lager eine maßlose Übertreibung: Weltweit leben nur 22 Prozent der Flüchtlinge (UNHCR 2024) in Lagern. Zudem werden hier die Kategorien Flucht und Migration vermischt.
Matthew Stibbe und Kim Wünschmann weisen in ihrer souveränen Darstellung der Internierungspraxis in beiden Weltkriegen nach, dass das Scheitern der völkerrechtlichen Bemühungen zum Schutz der Zivilbevölkerung nach 1918 nicht zwangsläufig zur Verschlechterung der Behandlung von Zivilinternierten führte. In manchen Fällen schützte das Gegenseitigkeitsprinzip vor Misshandlung. Die Entwicklung rechtlicher Normen hinkt politischen und kulturellen Faktoren meist hinterher und sollte daher nicht überbewertet werden – eine wichtige Erkenntnis. Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass die Internierung von Feindstaatenausländern im Zweiten Weltkrieg oft mit der Inhaftierung in Konzentrationslagern einherging, daher wurden die unterschiedlichen Entwicklungspfade in der Forschung bisher nicht ausreichend gewürdigt. Die Ungleichheiten in der Internierungspraxis in Bezug auf Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft, die bereits 1914–1918 bestanden, wurden im Zweiten Weltkrieg radikalisiert. Zum Teil galt noch das Gegenseitigkeitsprinzip, und der Humanitarismus war in seiner Bedeutung sogar gewachsen. Die zunehmende Rolle von humanitären Organisationen – und in diesem Fall von einer resoluten jungen Frau – schildert Lilly Maier in ihrer Darstellung der Rettung von 400 jüdischen Kindern im französischen Lager Rivesaltes (1941/42), bevor es für deren Eltern zum „Vorhof von Auschwitz“ (S. 109) wurde.
Michael Mayer weist nach, wie die bundesdeutschen Behörden in den frühen 1950er Jahren eine pragmatische und liberale Politik zur Überprüfung von Asylsuchenden entwickelte, die schließlich auf die Zwangsinternierung verzichtete. Jean-Michel Turcottes Aufsatz zu den vergessenen Zivilinternierten in Südkorea (1950–1953) ist ein beachtlicher Gewinn für die Forschung. Die als „Verbrecher“, „Flüchtlinge“, oder „Kriegsgefangene“ (S. 125) Inhaftierten wurden im Kontext des Kalten – und gerade in Korea heißen – Krieges als gefährliche Kommunisten und Verräter betrachtet und grausam behandelt. Gegen die Missachtung des humanitären Völkerrechts (vor allem der Genfer Konventionen von 1949) durch die südkoreanischen und amerikanischen Behörden vermochte sogar das Internationale Rote Kreuz kaum durchzudringen, mit der Folge, dass Elend, Folter und Hinrichtungen noch jahrelang das Schicksal von Tausenden waren.
Fazit: Die von den Herausgebern in Aussicht gestellte systematische vergleichende Analyse wird nur im genannten Beitrag zu den Lagern in den Weltkriegen geleistet; die anderen historischen Beiträge bieten allerdings ebenfalls einen Erkenntnisgewinn. Die „contemporary perspectives“ des Titels dagegen verbleiben auf dem Niveau eines Sammelsuriums von Fallstudien mit begrenzter Aussagekraft.
© 2025 by Walter de Gruyter, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.
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- Frontmatter
- Aufsätze
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- Notker Hammerstein (1930–2024)
- Im Blick der Historie
- Rezensionen
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- Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA. Stuttgart, Klett-Cotta 2023
- Simon J. Barker / Christopher Courault / Javier Á. Domingo et al. (Eds.), From Concept to Monument. Time and Costs of Construction in the Ancient World. Papers in Honour of Janet DeLaine. Oxford, Archaeopress 2023
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- Christian Marek, Rom und der Orient. Reiche, Götter, Könige. München, Beck 2023
- Paul V. Kelly, The Financial Markets of Roman Egypt. Risk and Return. Liverpool, Liverpool University Press 2023
- Christian Meier, Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilfried Nippel und Stefan Rebenich. Bd. 1: Zur römischen Geschichte. Stuttgart, Steiner 2024
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- Anthony A. Barrett / J. C. Yardley, The Emperor Caligula in the Ancient Sources. Oxford, Oxford University Press 2023
- Guy MacLean Rogers, For the Freedom of Zion. The Great Revolt of Jews against Romans, 66–74 C. E. London, Yale University Press 2021
- Clare Rowan, Tokens and Social Life in Roman Imperial Italy. Cambridge, Cambridge University Press 2023
- Andrew Wilson / Nick Ray / Angela Trentacoste (Eds.), The Economy of Roman Religion. Oxford, Oxford University Press 2023
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- Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hrsg.), Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639–1671). Marburg, Historische Kommission für Hessen 2022
- Marc A. Forster, Keeping the Peace in the Village. Conflict and Peacemaking in Germany, 1650–1750. Oxford, Oxford University Press 2024
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- Jane Webster, Materializing the Middle Passage. A Historical Archaeology of British Slave Shipping, 1680–1807. Oxford, Oxford University Press 2023
- Manja Quakatz, Osmanische Kriegsgefangene im Römisch-deutschen Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
- Martin Biersack, Geduldete Fremde. Spaniens Kolonialherrschaft und die Extranjeros in Amerika. (Campus Historische Studien, Bd. 82.) Frankfurt am Main, Campus 2023
- Martin Jeske, Ein Imperium wird vermessen. Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919). Berlin/Boston, De Gruyter 2023
- Boris Ganichev, Integrating Imperial Space. The Russian Customs System in the 19th Century. (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Vol. 26.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
- Anne-Marie Kilday / David Nash, Beyond Deviant Damsels. Re-evaluating Female Criminality in the Nineteenth Century. Oxford, Oxford University Press 2023
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- Horst Möller, Deutsche Geschichte – die letzten hundert Jahre. Von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie. München, Piper 2022
- Martin Platt (Hrsg.), Auf der Suche nach Sicherheit? Die Weimarer Republik zwischen Sicherheitserwartungen und Verunsicherungsgefühlen. (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 23.) Stuttgart, Steiner 2024
- Christhardt Henschel, Jeder Bürger Soldat. Juden und das polnische Militär (1918–1939). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
- Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 4: Institute und Hochschulen für Leibesübungen 1925–1933. (Studien zur Geschichte des Sports, Bd. 29.) Münster, Lit 2023
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- Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte. München, Hanser 2023
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