Zusammenfassung
Seit dem Jahr 2016 gibt es im Stuttgarter Stadtquartier Europaviertel ein bundesweit einmaliges Kooperationsprojekt zwischen der Stadtbibliothek und der Mobilen Jugendarbeit. Zur Moderation des neben der Bibliothek gelegenen Mailänder Platzes einerseits und zur multiprofessionellen pädagogischen Arbeit mit der Zielgruppe junge Menschen, ihren Lebenswirklichkeiten und Bedarfen andererseits wurde das Projekt initiiert. Der folgende Artikel skizziert die Entwicklung dieses Streetwork-Projekts und der gewonnenen Erkenntnisse in den vergangenen Jahren.
Abstract
Since 2016, there has been a cooperation project between the public library and Mobile Youth Work in Stuttgart’s district Europaviertel that is unique in Germany. The project was initiated on the one hand, to moderate the Mailänder Platz, which is located next to the library, and on the other for multi-professional pedagogical work with the target group of young people, their realities of life and needs. The following article outlines the development of this street work project and the insights gained over the past years.
Die Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Stuttgart arbeitet seit 2016 erfolgreich mit der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart zusammen, um das Geschehen auf dem Mailänder Platz vor der Bibliothek zu moderieren und ihn positiv zu bespielen. Im folgenden Artikel wird das gemeinsame Streetwork-Projekt „Mobile Jugendarbeit im Europaviertel“ skizziert.
1 Quartiersentwicklung des Europaviertels
Die im Oktober 2011 eröffnete Stadtbibliothek am Mailänder Platz sah sich in den folgenden Jahren neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Zunächst als einziges Gebäude im damals neu entstandenen „Europaviertel“ ansässig, gewann das Stuttgarter Stadtquartier mit zunehmender Bebauung an Attraktivität als Freizeitort und öffentlicher Aufenthaltsraum für v. a. junge Menschen. Das speziell an diese Zielgruppe ausgerichtete Einkaufszentrum MILANEO mit 200 Geschäften, Gastronomie- und Dienstleistungsbetrieben, das drei Jahre nach der Stadtbibliothek im Oktober 2014 seine Pforten öffnete, brachte dabei die größte Dynamik der Veränderung des Sozialraums hervor. Fortan war die unmittelbare Nachbarschaft von Shoppingcenter, öffentlichem Platz und großer Kultureinrichtung ein Publikumsmagnet für zahlreiche Personengruppen, besonders auch für Jugendliche. Low-Budget-Shops und Fast-Food-Läden im MILANEO, ein einladender Bestand in der Stadtbibliothek, daneben WLAN und eine ansprechende Architektur für Fotos im Galeriesaal oder auf der Dachterrasse sowie das „Sehen und Gesehen werden“ auf dem Mailänder Platz – unabhängig von der individuellen sozialen Biografie führen diese Faktoren zu einer langen Aufenthaltsdauer beim Besuch des Viertels. Die Menschen kommen, auch dank einer guten Verkehrsanbindung, nicht nur aus der unmittelbaren Umgebung und angrenzenden Bezirken, sondern aus dem gesamten Stuttgarter Raum und besonders am Wochenende zusätzlich aus dem regionalen Umland. Zudem hatte 2015 der Ausbau des in der Nähe befindlichen ehemaligen Bürgerhospitalgeländes zu einer der größten Gemeinschaftsunterkünfte in der Stadt einen signifikanten Anstieg an Quartiers-einwohner*innen zur Folge, was sich direkt auf die Situation auf dem Mailänder Platz auswirkte.
2 Ausgangslage
Das allgemein hohe Personenaufkommen, das sich gleichfalls in der Stadtbibliothek bemerkbar macht, ist zunächst positiv zu bewerten. Als offenes Haus für Alle und einzige nicht kommerzielle Einrichtung im Quartier ergab sich spätestens seit 2015 die Chance, einen hohen Anteil an Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Ziel- und Regelpublikum zu gewinnen. Allerdings gehen solche Prozesse nicht reibungsfrei vonstatten. Junge Menschen eignen sich Orte nach ihren Bedürfnissen an. Spezifische Interessen der Besucher*innengruppen und die unterschiedlichen, voneinander abweichenden Nutzungsweisen der Bibliothek führten zu Spannungen und Konfrontationen. Diese traten sowohl untereinander innerhalb homogener Gruppen auf, ebenso zwischen verschiedenen Cliquen als auch mit Mitarbeitenden der Stadtbibliothek. Die Folge waren bislang ungekannte Konflikte und Regelverstöße. Denn in den Jahrzehnten zuvor war die Zentralbibliothek in ein völlig anderes Setting eingebettet. Beheimatet im ehemaligen Wilhelmspalais in der Innenstadt, umgeben von vielen weiteren Kultureinrichtungen und in direkter Nachbarschaft zur Landesbibliothek und dem Landtag, waren die Rahmenbedingungen für das Bibliothekspersonal deutlich anders. Begegnungen mit jungen Menschen, die die Bibliothek außerhalb des intendierten Nutzungskontextes besuchten, gab es kaum. Der vor der Bibliothek befindliche Charlottenplatz ist aufgrund der Verkehrssituation zudem kein klassischer Sozialraum in der Stuttgarter Innenstadt, den sich Jugendliche für Ihre Bedarfe aneignen. Diese Faktoren änderten sich gravierend mit dem neuen Standort der Zentralbibliothek am Mailänder Platz. Auseinandersetzungen mit vorher im Alltag wenig gekannten Jugendlichen, die nicht nur den Einsatz des Wachdienstes und das Aussprechen von Hausverweisen, sondern teilweise sogar das Einschalten der Polizei und die Erteilung von Hausverboten erforderlich machten, stiegen an und wurden beinahe zur Tagesordnung. Die entstandene Situation konnte ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr allein durch bewährte interne Problemlösungsprozesse nach erprobtem Muster, wie sie noch am vorherigen Standort der Zentralbibliothek funktionierten, geklärt werden.
Die Bibliotheksdirektion stand vor der Entscheidung, massiver und härter zu sanktionieren oder präventiv mit den Zielgruppen Jugendliche und junge Erwachsene zu arbeiten. Das Selbstverständnis der Bibliothek, ein Haus, welches Alle willkommen heißt, zu sein und die Kultur des Miteinanders zu leben und zu fördern, ließ hierbei nur den zweiten Weg als den richtigen zu. Für eine strategisch angelegte Präventionsarbeit mit jungen Menschen und ihren speziellen Bedürfnissen benötigte es jedoch Expertise und fachliche Unterstützung. Darum nahm man noch im Herbst 2015 Kontakt zur Mobilen Jugendarbeit (MJA) Stuttgart auf, die von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V. und vom Caritasverband für Stuttgart e.V. getragen wird. Die MJA mit ihrem Motto „Wir sind da“ setzt sich anwaltschaftlich für junge Menschen ein, die von Benachteiligung betroffen oder bedroht sind. Damit war sie in den Augen der Bibliotheksleitung die ideale Kooperationspartnerin, die es für diese Herausforderung zu gewinnen galt.
Erste Gespräche brachten schnell das große Interesse seitens der Mobilen Jugendarbeit zum Vorschein. Diese arbeitet klassisch stadtteilverortet auf der Straße, weswegen die Stadtbibliothek als Einrichtung und das Europaviertel als künstlich entstandenes Stadtquartier für die MJA keinen öffentlichen, sondern einen „halb-öffentlichen“ Raum darstellt. Dennoch entschied man, sich auf das gemeinsame Experiment in unvertrauter Umgebung einzulassen. Ausschlaggebend hierfür waren besonders die uneingeschränkt positive Haltung der Stadtbibliothek zum jugendlichen Publikum sowie ihre Bereitschaft, durch zielgerichtete, maßgeschneiderte Angebote Perspektiven für dieses zu schaffen und der Wunsch, die Energie der bestehenden Konflikte aufzugreifen und in positive Bahnen zu lenken. Das seitens der Stadtbibliothek formulierte Ziel war es, ohne die Ausweitung von Sanktionen eine nachhaltige Befriedung der Situation zu erreichen und Jugendliche bzw. Jugendcliquen mit ihren spezifischen Bedarfen genauer in den Blick zu nehmen. Diese Zielsetzung entsprach den Prinzipien der Mobilen Jugendarbeit und man einigte sich zunächst auf die Zusammenarbeit im Rahmen eines zeitlich begrenzten Pilotprojekts.
3 Projektphase I
Die Kooperation startete in der ersten Jahreshälfte 2016. Inzwischen hatte die Polizei das Europaviertel und insbesondere den Mailänder Platz aufgrund zunehmender Delikte im Rahmen ihrer „Sicherheitskonzeption Stuttgart“ (SKS) zu einem sozialen Brennpunkt erklärt. Begonnen wurde zunächst mit einer dreimonatigen Ist-Analyse der Situation durch die Streetworker*innen sowie der Ermittlung vorhandener Ressourcen und Angebote. Die größtenteils quantitativen Erhebungen auf dem Platz und in der Stadtbibliothek, begleitet von qualitativen Interviews von Mitarbeitenden und jugendlichen Besucher*innen wurden nach der Datenerfassung durch das Institut für angewandte Sozialwissenschaften (IfaS) an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Stuttgart ausgewertet. Die ausführlichen Ergebnisse sind im Abschlussbericht der Phase I „Freizeitort Europaviertel“[1] nachzulesen. Es konnten u. a. vier Typen von Jugendlichen identifiziert werden, die das Europaviertel besuchen: reguläre Nutzer*innen (der Bibliothek sowie des Shopping-Centers), spaßorientierte Residents, eventorientierte Touristen und Perspektivesuchende. Für letztere ergaben sich laut wissenschaftlicher Begleitung die meisten Anknüpfungspunkte an das Bibliotheksangebot. Der Bericht enthielt zudem Handlungsempfehlungen für eine gemeinsame jugendkulturell-orientierte Öffentlichkeitsarbeit und den Aufbau eines multidisziplinären Teams, weiterhin für Lösungsstrategien und in unterschiedlichen Zeitachsen zu realisierende Vorhaben. Dies war der Startschuss für das Projekt „Mobile Jugendarbeit im Europaviertel“.
4 Mittelakquise und Projektstruktur
Die partnerschaftliche Projektleitung durch die MJA und die Stadtbibliothek erforderte nunmehr eine langfristige und enge Zusammenarbeit. Hierfür galt es allerdings, die notwendigen Ressourcen zu generieren. Deshalb begann noch im Jahr 2016 die gemeinsame Suche nach finanziellen und ideellen Unterstützer*innen und politischem sowie gesellschaftlichem Rückhalt. Bis einschließlich 2017 konnten für die Mittelakquise zur Umsetzung der auf zwei Jahre angelegten Projektphase II die bereits hinsichtlich der Finanzierung des Pilotprojekts geknüpften Kontakte erneut gewonnen werden: zwei örtliche Stiftungen, der städtische Fonds „Zukunft der Jugend“, diverse Geld- und Wohnungsbauinstitute, Unternehmen, Ladengeschäfte und eine Kirchengemeinde aus der Nachbarschaft sowie diverse Einzelpersonen. Das MILANEO stellte außerdem Räume zur Verfügung.
Man verständigte sich auf eine dreistufige Projektstruktur. Neben dem operativen Praxisteam und der übergeordneten Leitungsrunde, jeweils aus beiden Professionen bestehend, wurde eine multiprofessionelle Projektsteuerungsgruppe als dritte Ebene konstituiert, um u. a. weitere Projektpartner*innen zu gewinnen. In der Steuerungsgruppe sitzen diverse Mittelgeber*innen, aber z. B. auch Vertreter*innen des Kultur- und des Jugendamtes sowie der Polizei. Daneben wurde entschieden, das Projekt weiterhin wissenschaftlich zu begleiten, um die gewonnenen Erkenntnisse fachlich fundiert einzuordnen. Hierfür war zunächst, wie in Phase I, das IfaS an der DHBW zuständig.
5 Projektphase II
Das Praxisteam, bestehend aus drei Sozialarbeiter*innen mit einem Stellenumfang von 250 % und einem Jugendbibliothekar in Vollzeit, startete nach Einwerbung aller notwendigen Mittel 2018 mit der operativen Arbeit. Ziele der multiprofessionellen Zusammensetzung aus kultureller Jugendbildung und Jugendsozialarbeit waren und sind die Entwicklung und Erprobung neuer Konzepte für die vom Projekt adressierten jungen Menschen, die Überprüfung, Anpassung und Öffnung des programmatischen Regelangebots der Bibliothek hinsichtlich der Zielgruppe sowie die Eruierung ihrer Bedarfe zur zielgerichteten Vermittlung. Der Jugendbibliothekar erfüllt in dieser Konstellation die Funktion der Schnittstelle zwischen den Systemen Kultur und Soziales. Er ist Brückenbauer und für die Adressat*innen zudem Türöffner und Lotse zu den Dienstleistungen der Bibliothek. Gleichwohl übernimmt er Aufgaben in den Kernbereichen der MJA (Streetwork, Cliquenarbeit, Einzelfallhilfe, Gemeinwesenarbeit), jedoch mit Einschränkungen, um eine beliebige Verwischung der Professionen zu vermeiden. Beispielsweise absolviert er gemeinsam mit den Sozialarbeitenden Streetwork-Rundgänge in der Bibliothek, aber nicht im benachbarten Einkaufszentrum. Er unterstützt junge Menschen im Rahmen der Einzelfallhilfe beim Thema „Übergang Schule/Beruf“, jedoch nicht in Angelegenheiten, die Delinquenz, Sucht oder Aufenthalt betreffen. In der alltäglichen Arbeit unterscheiden die erreichten Jugendlichen allerdings nicht zwischen Streetworker*innen und Bibliothekar, was von allen Projektbeteiligten auch ausdrücklich begrüßt wird.
Die ersten Monate galt es v. a., Kontakte zu jungen Menschen zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen. Obgleich sehr zeitintensiv, schaffen sie die Grundlagen für die weitere Arbeit: Vertrauen, Augenhöhe, Motivation, Interventionsberechtigung. Dieses Setting lässt ein Empowerment mit großer Nachhaltigkeit in Form von individueller, bedarfsgerechter Unterstützung und der Schaffung von Partizipations- und Ausprobiermöglichkeiten zu. Daneben galt das Augenmerk der Netzwerkarbeit. Von bibliotheksinternen Arbeitskreisen über verschiedene Stadtteilrunden bis hin zur Steuerungsgruppe beteiligte sich das Praxisteam im Sinne der Gemeinwesenarbeit in zahlreichen Gremien, um Bedarfe zu streuen, Synergieeffekte zu erzielen und Ressourcen zu ermitteln und zu bündeln. Im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung für die zweite Projektphase werden über 100 Kontakte in sozialraumspezifischen, projekt- und bibliotheksbezogenen Gremien attestiert, fast die Hälfte davon sind beständig.
Anschließend begann die programmatische Arbeit. Mit großer Experimentierfreude wurden unter dem Motto „Positive Begegnungen schaffen“ neue, niedrigschwellige Angebote ausprobiert und in den Bibliotheksbetrieb implementiert. Die Vielfalt reichte von kleinen Aktionen und Workshops (z. B. zu den Themen Social Media, Spiele, Kunst/Handwerk) bis hin zu mehrtägigen Veranstaltungen wie der Hip-Hop-Kulturwoche „edYo!cation“. Die Stadtbibliothek stellt die für diese Arbeit notwendige Infrastruktur und Räumlichkeiten zur Verfügung.

Workshop auf der Ebene Musik (©Stadtbibliothek Stuttgart)
Es stellte sich im Laufe der Arbeit heraus, dass die Errichtung eines in der Pilotphase von Jugendlichen gewünschten Treffpunkts innerhalb der Bibliothek nicht ihrem Bedarf entsprach. Die Anforderungen, die ein solcher „Raum“ zu erfüllen hat, ließen sich draußen in der Öffentlichkeit leichter realisieren. So entwickelte sich die die Bibliothek umgebende Wiese schnell zur eigentlichen Projektanlaufstelle, deren Aufenthaltsqualität mit den einzelnen Projektjahren stetig stieg. Startete man 2018 mit einer Tischgarnitur, ist der „Treffpunkt“ über die Entwicklungsschritte Pavillon, Zelt, Wohnwagen inzwischen zu einem ausgebauten Bauwagen mit angrenzender möblierter Holzterrasse expandiert. Mit jedem Schritt nahm die Mitgestaltung durch die angedockten jungen Menschen und das Bibliothekskollegium zu, weshalb dieser Teil der Wiese vor der Bibliothek inzwischen ein hohes Identifikationspotenzial aufweist. Er wird neben seiner eigentlichen Bestimmung als Ort für Jugendliche vom gesamten Umfeld des Mailänder Platzes, d. h. von Passant*innen, Geschäftsleuten, Tourist*innen, Mitarbeitenden und Anwohnenden als Pausen- und Rückzugsraum angenommen. Neben diesem stark in der öffentlichen Wahrnehmung stehenden Bereich muss es für die besonders vertrauliche Arbeit in der Einzelfallhilfe einen Schutzraum geben. Hierfür eignen sich die Räumlichkeiten (Kabinette) in der Zentralbibliothek hingegen hervorragend.

Häufigkeit der Teilnahme an Angeboten nach Altersgruppen
Inhaltlich wurde von Anfang an eng mit den thematischen Abteilungen der Stadtbibliothek (Ebenen) zusammengearbeitet. Dies begünstigt einerseits die Vermittlung der jeweiligen Themen einer Ebene an die Jugendlichen, andererseits bekommen die Kollegien zur zielgruppenorientierten Optimierung ihres Angebots einen besseren Einblick in die Lebenswirklichkeiten der jungen Menschen mit ihren spezifischen Bedürfnissen. Exemplarisch soll diese Entwicklung am Beispiel der Ebene Musik (= Musikbibliothek) aufgezeigt werden: Die ersten Kontakte zwischen der Mobilen Jugendarbeit und dem musikbibliothekarischen Personal waren eher verhalten. Durch einzelne gemeinsame Aktionen und die Nutzung der Räume auf der Ebene Musik konnten Ressentiments abgebaut und inhaltliche Schnittstellen gefunden werden. Beispiele hierfür sind der Musikexperimente-Nachmittag und die Veranstaltungsreihe „Soundsession“. Im weiteren Projektverlauf wurde eine gute Kommunikationskultur zwischen der MJA und der Musikebene etabliert und somit entstand ein positiver Wechselwirkungsmechanismus. Auf die Idee eines Teams folgte nach gemeinsamer Umsetzung oft ein darauf aufbauender Vorschlag des anderen Teams. Zunächst unabhängig voneinander durchgeführte Veranstaltungen, z. B. die Hip-Hop-Kulturwoche und der „Tag der Musik“, reiften zu partnerschaftlich organisierten und begleiteten Angeboten wie den Balkonkonzerten und dem „Urban Sound of Library“. Im Zuge dessen bildete sich eine gemeinsame Haltung gegenüber der jugendlichen Besucherschaft heraus und die Denkweisen und Arbeitsprozesse verzahnten sich zunehmend.
Das Praxisteam der Mobilen Jugendarbeit im Europaviertel tritt stets anwaltschaftlich für ihr Klientel ein. Bereits früh begann es, ein eigenes Selbstverständnis gegenüber dem Projekt zu entwickeln. Die tägliche Kooperation und hohe Taktung von Besprechungen führte zu einem intensiven Fachdiskurs über Haltungen, Arbeitsweisen und Termini. Logische Konsequenz war zum Ende der zweiten Phase die Erweiterung der Forschungsbegleitung durch eine bibliothekswissenschaftliche Expertin, um die Interdisziplinarität auch auf diesem Level abzubilden. Der Erfolg der praktischen Arbeit, der in der Evaluation „Streetwork im Europaviertel – Projektphase II“ bestätigt wird, zeichnete sich insbesondere durch die Herausnahme des Europaviertels aus der Sicherheitskonzeption Stuttgart und eine von jungen Menschen selbstorganisierte Demonstration zur Weiterfinanzierung des Projekts im Vorfeld der Haushaltslesungen vor dem Stuttgarter Rathaus aus.
6 Projektphase III
Als nach erfolgter Weiterfinanzierung um vier Jahre und den für Phase III gesetzten Zielen „Vertiefung der Multiprofessionalität“ sowie „Vernetzung für die Themen junger Menschen“ nahtlos in identischer Besetzung weitergearbeitet werden konnte, lief das Projekt in die Covid-19-Pandemie hinein. Ein vom Praxisteam organisierter stadtweiter Netzwerktag konnte kurz vor dem ersten Lockdown noch durchgeführt werden. Ab dann traten neue Herausforderungen auf: Einerseits musste der Kontakt zur Zielgruppe aufrechterhalten werden, da Bibliothek und Anlaufstelle für den Publikumsbetrieb geschlossen wurden. Rasch verlagerten sich die Projektaktivitäten ins Digitale, wodurch neue Angebote entstanden, z. B. die Plattform vox711[2], auf der junge Stuttgarter*innen medial-kreativ zu Wort kommen. Die Projektleitung koordinierte andererseits die Kooperation, denn unterschiedliche Vorgaben der zugordneten Ministerien sowie pandemiebedingte Aufgaben innerhalb der Einrichtungen erschwerten die Zusammenarbeit. Die Steuerungsgruppe hingegen wurde in dieser Zeit durch Infobriefe auf dem Laufenden gehalten.
Eine Zäsur stellte die „Stuttgarter Krawallnacht“ dar, in deren Folge sich die Projektstruktur gravierend änderte. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 kam es in der Stuttgarter Innenstadt zu größeren Ausschreitungen und Plünderungen, mutmaßlich durch v. a. junge Menschen. Als Reaktion darauf, wurden von der Stadt in Rekordzeit fünf neue Sozialarbeitsstellen für die Innenstadt geschaffen. Ein ausgereiftes Konzept gab es aufgrund nur weniger Erfahrungen mit dem Innenstadt-Streetwork zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Deshalb wurden die im Kooperationsprojekt mit der Bibliothek gewonnenen Erkenntnisse und positiven Resultate herangezogen und die „Mobile Jugendarbeit im Europaviertel“ floss als eine Art Blaupause in einen weitaus größeren Rahmen einer innerstädtischen Jugendsozialarbeit ein. Im Bestreben nach einer jugendgerechten Stadt agiert das Projekt seitdem mit zusätzlichen, fluide eingesetzten Streetworker*innen und unter neuem Namen: Mobile Jugendarbeit Europaviertel/Innenstadt. Die Stadtbibliothek und der Mailänder Platz stellen einen Sonderstandort mit Vorbildfunktion und erprobten Konzepten für eine gelingende Kooperation zwischen Kultur- und Sozialbereich dar, für den innerhalb dieses Gefüges ein Jugendbibliothekar und zwei Sozialarbeitende hauptverantwortlich sind.

Gespräch im Bauwagen (©Stadtbibliothek Stuttgart)
Mit den ersten Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen nahm die seit Beginn der Pandemie hauptsächlich aus Einzelfallhilfe bestehende Projektarbeit auch im Veranstaltungsbereich zügig wieder Fahrt auf. Aktuell wird sich auf die Verstetigung der gemeinsamen Angebote mit den Themenebenen der Bibliothek konzentriert, um eine langfristige und nachhaltige Zielgruppenorientierung des Regelprogramms qualitativ zu sichern. In Kooperation mit der Ebene Leben, die viele Freizeitthemen abdeckt, wird die Anlaufstelle gemeinsam mit jungen Menschen ausgebaut und begrünt. Partizipieren können im Projekt angedockte Jugendliche auch am Bestandsaufbau der Ebene Welt (u. a. fremdsprachige Literatur), hier bringen sie ihre muttersprachlichen Kenntnisse für ein vielfältigeres Medienangebot der Stadtbibliothek ein. Mit der Ebene Wissen wird beim Thema „Übergang Schule/Beruf“ zusammengearbeitet.
Ein zweiter Fokus ist die Übertragung des Projekts in andere Stadtteile. Überall in Stuttgart, wo Zweigstellen und MJA-Standorte ansässig sind, sollen nach dem Modell im Europaviertel eigene Kooperationsformen entstehen. Den Auftakt dazu bildete ein 2022 von der Forschungsbegleitung und dem Praxisteam durchgeführter Fachtag. Dort wurden in Tandems Begriffe wie Chancengleichheit erörtert, Haltungen gegenüber der Zielgruppe austariert und anhand der Erfahrungen auf dem Mailänder Platz nach Best-Practice-Beispielen stadtteilbezogene Ideen entwickelt. Einige Tandems befinden sich bereits in gemeinsamen Planungen und einer beginnenden Zusammenarbeit.
7 Lessons learned
Was hat sich seit den ersten Befragungen junger Menschen in nunmehr acht Projektjahren am Mailänder Platz verändert? An erster Stelle sind hier die Haltung der Belegschaft der Zentralbibliothek gegenüber der Zielgruppe Jugendliche allgemein und im Besonderen im Kontakt mit Jugendcliquen zu nennen. Gab es noch in den Jahren 2014 und 2015, also nach der Eröffnung des Einkaufszentrums MILANEO Vorbehalte gegen das neue, mit Bibliotheksnutzung wenig vertraute Publikum, herrscht heute breiter Konsens über eine Kommunikation auf Augenhöhe und ein proaktives Entgegenkommen bei Begegnungen mit jungen Menschen. Durch dieses präventive Agieren haben sich auch die Programme der Bibliothek gewandelt. Medienbestände und Vermittlungsarbeit wurden viel mehr an die Bedarfe von Jugendlichen angepasst und die Bewerbung von Angeboten ist näher an ihrer Lebenswelt orientiert. Bereits bei der Veranstaltungsplanung werden die Interessen der Zielgruppe und die Schaffung eines möglichst niedrigschwelligen Zugangs berücksichtigt. In diesem Sinne findet die programmatische Arbeit nicht mehr nur innerhalb der Bibliotheksräume, sondern aufsuchend auch an der Projektanlaufstelle statt. Beispielsweise kommen Kolleg*innen der Ebene Leben an die Terrasse, um gemeinsam mit den Adressat*innen analoge und digitale Spiele auszuprobieren. Mitarbeitende und Publikum treffen sich auf positive Weise außerhalb der Bibliothek. Dies sorgt im Alltag für deutlich weniger Spannungen im Haus, denn beim „Wiedererkennen“ kann man an die gemeinsame Begegnung anknüpfen.
Durch die intensive Zusammenarbeit mit der Mobilen Jugendarbeit, bestehend aus dem alltäglichen Tun auf der operativen und die regelmäßigen Austauschtreffen auf der Leitungsebene, haben sich Arbeitsweisen und Organisationsabläufe deutlich verändert. Die tiefen Einblicke in die Konzeption und die Fachterminologie der Kooperationspartnerin führten zu systemweiten, strukturellen Reflexionsprozessen über die Zielgruppe Jugendliche, über die konzeptionelle Ausrichtung der Zentralbibliothek sowie ihrer Verantwortung für den öffentlichen Raum und zu verschiedenen Kernaufgaben von modernen Bibliotheken im Allgemeinen.
8 Ausblick und Chancen
Die dritte Projektphase endet am 31. Dezember 2023. Für die sich anschließende Phase IV sind im Stuttgarter Doppelhaushalt finanzielle Mittel für nunmehr acht weitere Projektjahre beantragt. Ziele dieser nächsten Phase stehen bereits jetzt fest. Neben der Verstetigung der Kooperation und einer Vertiefung der multiprofessionellen Denk- und Arbeitsweisen ist es besonders der Transfer des Projektgerüsts in einzelne Stadtbezirke, um es vor Ort auf die jeweiligen Bedarfe der von Benachteiligung betroffenen jungen Menschen anzupassen, der für die kommenden Jahre angestrebt wird.
Das größte Potenzial des Projekts „Mobile Jugendarbeit im Europaviertel“ liegt allerdings in seiner Übertragbarkeit – einerseits auf andere Städte und Kommunen, andererseits vor allem aber auf viele von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedrohten Personengruppen, z. B. wohnsitzlose Menschen. Kulturelle Bildung und Sozialarbeit in professioneller Verknüpfung können den in den vergangenen Projektjahren gemachten Erfahrungen nach deutlich zur Chancengleichheit und sozialen Inklusion beitragen.
About the authors

Stefanie Schilling

Peter Marus
© 2023 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Zum Themenschwerpunkt „Fehlerkultur in Bibliotheken“
- Themenschwerpunkt: Fehlerkultur in Bibliotheken
- „Man macht natürlich Fehler“: Interview mit Petra-Sibylle Stenzel
- Lassen Sie uns über das Scheitern bzw. den Umgang mit Misserfolgen sprechen: Ein Interview mit Dietrich Rebholz-Schuhmann
- Lassen Sie uns über das Scheitern bei Projekten mit kommerziellen Partnern sprechen: Ein Interview mit Andreas Degkwitz
- Fehler, Irrtümer und andere Wortklaubereien – Eine notwendige Auseinandersetzung mit Begrifflichkeiten
- Nie zu Ende: Professionelle Dilemmata im Bibliotheksberuf
- Weniger Fehler durch Lern-Lehr-Orientierung in der Wissensarbeit
- Glück im Unglück – wie wird das Scheitern als Lerngelegenheit in deutsch- und englischsprachigen Bibliothekscommunities genutzt?
- Über die Bedeutung des Spaßfaktors in Forschungsprojekten – Ein Erfahrungsbericht
- Quer im Feld? Ein Annäherungsversuch an die Fehlerkultur einer Mittelschulbibliothek aus der Perspektive einer Quereinsteigerin
- Psychologische Sicherheit und ihre Bedeutung für eine gesunde Fehlerkultur
- Fehlerkulturen in Organisationen: Was sie uns sagen und wie wir aus ihnen lernen können
- DH, wir müssen reden! Eine Konversation über das Scheitern in den Digital Humanities
- Fehlerkultur – Leitbild für Bibliotheken
- Eine Bibliografie des Scheiterns im Bibliothekswesen
- Zukunftsgestalter
- Gemeinsam InTakt – mit Veeh-Harfen® die Welt der Musik entdecken
- Mobile Jugendarbeit im Europaviertel
- Kreative Freiräume – Dritte Orte an den Leipziger Städtischen Bibliotheken
- Mit Augmented Reality orientieren, navigieren, vernetzen – eine App für die Zentralbibliothek Düsseldorf im KAP1
- Kommt ein Hund in die Bibliothek: Neuer Lernraumservice
- Fragmentarische Fundstücke – NS-Provenienzforschung in modernen Universitätsbibliotheken
- Sonstige Beiträge
- Die Digitalisierung von kulturellem Erbe am Beispiel von Liebesbriefen
- Aufgabenprofile im Wandel: Bibliotheken in der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur
- Rezensionen
- Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission. Band 5. Im Auftrag der Historischen Kommission herausgegeben von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm: Deutsche Demokratische Republik. Teil 2: Verlage 2. IX, 592 Seiten. Abbildungen und Tabellen. Berlin, Boston: De Gruyter, 2023. ISBN 978-3-11-056529-4, 169,95 €
- Lux, Claudia: Praxishandbuch richtige Lobbyarbeit für Bibliotheken (De Gruyter Reference). Berlin, Boston: De Gruyter, 2022. 383 S. Ill., gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-11-067333-3
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- Titelseiten
- Editorial
- Zum Themenschwerpunkt „Fehlerkultur in Bibliotheken“
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- „Man macht natürlich Fehler“: Interview mit Petra-Sibylle Stenzel
- Lassen Sie uns über das Scheitern bzw. den Umgang mit Misserfolgen sprechen: Ein Interview mit Dietrich Rebholz-Schuhmann
- Lassen Sie uns über das Scheitern bei Projekten mit kommerziellen Partnern sprechen: Ein Interview mit Andreas Degkwitz
- Fehler, Irrtümer und andere Wortklaubereien – Eine notwendige Auseinandersetzung mit Begrifflichkeiten
- Nie zu Ende: Professionelle Dilemmata im Bibliotheksberuf
- Weniger Fehler durch Lern-Lehr-Orientierung in der Wissensarbeit
- Glück im Unglück – wie wird das Scheitern als Lerngelegenheit in deutsch- und englischsprachigen Bibliothekscommunities genutzt?
- Über die Bedeutung des Spaßfaktors in Forschungsprojekten – Ein Erfahrungsbericht
- Quer im Feld? Ein Annäherungsversuch an die Fehlerkultur einer Mittelschulbibliothek aus der Perspektive einer Quereinsteigerin
- Psychologische Sicherheit und ihre Bedeutung für eine gesunde Fehlerkultur
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- DH, wir müssen reden! Eine Konversation über das Scheitern in den Digital Humanities
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- Eine Bibliografie des Scheiterns im Bibliothekswesen
- Zukunftsgestalter
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- Mit Augmented Reality orientieren, navigieren, vernetzen – eine App für die Zentralbibliothek Düsseldorf im KAP1
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- Lux, Claudia: Praxishandbuch richtige Lobbyarbeit für Bibliotheken (De Gruyter Reference). Berlin, Boston: De Gruyter, 2022. 383 S. Ill., gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-11-067333-3