Zusammenfassung
Im vorliegenden Aufsatz wird aus der Perspektive einer Quereinsteigerin beschrieben, wie sich die Fehlerkultur einer bestimmten Mittelschulbibliothek konkret ausgestaltet. Am Beispiel der biografischen Entwicklung der Verfasserin und der praktischen Erfahrungen sowie Beobachtungen am Arbeitsplatz werden die theoretischen Begrifflichkeiten und Konzepte der Fehlerkulturen dargelegt, wie sie in einschlägiger Fachliteratur beschrieben werden. So zeigt sich beispielhaft die positive Auswirkung eines konstruktiven Umgangs mit Fehlern im Kontext bibliothekarischer Arbeit.
Abstract
This paper describes, from the perspective of a career changer, the error culture of a particular middle school library. Using the example of the author’s biographical development, her practical experiences and observations in the workplace, the theoretical terms, and concepts of error cultures, as described in the relevant literature, are presented. In this way, the positive impact of a constructive approach to errors in the context of librarianship is exemplified.[1]
1 Fehlerkultur – Eine Definitionsfrage
Wörter haben Macht. Vorstellungen, Wünsche, Normen und Werte laden die scheinbar nüchternen Buchstabenfolgen mit Bedeutung auf. Welche Botschaft wir mit ihnen beabsichtigen, wird nicht immer gleich verstanden. Missverständnisse entstehen, wenn unterschiedliche Interpretationen oder Lesarten der Wörter aufeinanderprallen. Spätestens dann müssen sich beide Seiten einer Konversation gemeinsam darüber im Klaren sein, welche Bedeutung die gemeinsam verwendeten Worte haben. Besser wäre es aber, sich am Anfang des Gesprächs diese Definitionsfrage zu stellen.
Auf den folgenden Seiten versuche ich, die Fehlerkultur einer Mittelschulbibliothek in der Schweiz aus der Perspektive einer Quereinsteigerin in Worte zu fassen. Fehlerkultur sowie dessen Wortteile Fehler und Kultur können, je nach Kontext und Interpretation, auf unterschiedliche Art gelesen werden. Jemand, der aus der Unternehmensberatung kommt, versteht sie anders als jemand, der sich von psychologischer Seite dem Thema nähert. Die Bedeutungen der Aussagen können anders gelesen werden, als sie ursprünglich von mir als Autorin beabsichtigt wurden. Um mögliche Missverständnisse bzw. Fehlinterpretationen zu vermeiden, versuche ich in den nächsten Abschnitten, eine für mich in diesem Artikel verwendbare Definition zu finden.
Im Online-Duden wird Fehlerkultur knapp und nüchtern formuliert. So handelt es sich dabei um die Art des Umgangs mit Fehlern und Verfehlungen, wie sie vor allem in Soziologie, Wirtschaft und Politik thematisiert wird.[2] Im Begriff Fehlerkultur versteckt sich der Fehler. Dessen Bedeutung ist schon komplexer:
„Fehler, der
etwas, was falsch ist, vom Richtigen abweicht, Unrichtigkeit […]
irrtümliche Entscheidung, Maßnahme; Fehlgriff […]
schlechte Eigenschaft, Mangel […]
Stelle an einer hergestellten Ware, die nicht so ist, wie sie sein müsste“.[3]
Die Besonderheit der Bedeutung des Begriffs ‚Fehler‘ liegt in der Negativität. Somit gibt es einen idealen Sollzustand – das Richtige – von dem der Istzustand abweicht; der Fehler ist da, sollte es aber nicht sein.[4] Diese negative Definition des Fehlers wird dann spannender, wenn man sich näher mit Lernprozessen und dem Erwerb von Wissen beschäftigt. So haben sich beispielsweise Fritz Oser und Maria Spychiger, beide in der Pädagogik und pädagogischen Psychologie tätig, im Rahmen einer Studie eingehend mit der Theorie des negativen Wissens und der Praxis der Fehlerkultur beschäftigt. Sie beschreiben in ihrer Einleitung, wie negatives Wissen als Abgrenzung zu positivem Wissen – also das, was man nicht wissen muss bzw. soll – dem Erkenntnisprozess hilft. Durch Falsches oder Fehler lernen wir folglich das Richtige kennen. Das negative Wissen erfüllt seinen Zweck in der Abgrenzung zum Positiven bzw. Richtigen.[5] Die Beschäftigung mit Fehlern war den Menschen schon immer sehr wichtig. Während Fehler und ihre Bedeutung ursprünglich in der Philosophie thematisiert wurden, beschäftigten sich auch bald Pädagogen bzw. Pädagoginnen und Psychologen bzw. Psychologinnen mit diesem Thema.[6] Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass Fehler selten die Ursache von Problemen sind, sondern vielmehr am Ende komplexer Kausalketten stehen und somit auf Schwachstellen in Prozessen, Strukturen oder der Kommunikation hinweisen.[7] Weiter charakteristisch für Fehler ist ihre zeitliche Begrenztheit. Das Unerwünschte tritt unverhofft und zeitlich begrenzt ein.[8] Fehler geschehen selten mit Absicht, denn grundsätzlich möchten wir als Menschen die uns auferlegten Aufgaben gut erfüllen.[9]
Dass Fehler entstehen, kann also nicht vermieden werden bzw. muss es auch nicht unbedingt. Wer sich im Kontext der Unternehmen mit diesem Thema beschäftigt weiß, dass der Fokus in der Beratung vielmehr auf den Umgang mit und die Haltung gegenüber Fehlern gelegt werden muss. Wie steht die Kultur des Unternehmens dazu? Kultur ist ein bedeutungsschwerer Begriff, der nicht selten aus dem Kontext gerissen inflationär und missverständlich gebraucht wird. Im Kontext der Kulturwissenschaften wird Kultur sinngemäß nach der ersten Definition im Duden verstanden:
„Kultur, die
Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung […]
Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen“.[10]
Darauf folgt eine personenbezogene Definition der Kultur bzw. der Kultiviertheit als Verfeinerung einer menschlichen Handlung. Spannend ist dieses Verständnis im Kontext unseres Schaffens. Als Fachkräfte in Information und Dokumentation beschäftigen wir uns mit den Produkten, also den Ergebnissen dieser geistigen Leistungen. Wir verwalten sie und machen sie für die Gemeinschaft zugänglich. Vor diesem Hintergrund kann die Fehlerkultur als eine Gesamtheit der geistigen Leistungen gelesen werden, die von einer Gemeinschaft – beispielsweise eines Mittelschulbibliothekteams – geschaffen wurde. Diese Definition macht im Kontext meiner Ausführungen wenig Sinn, weshalb ich auf die dritte Definition der Kultur im Zusammenhang mit Landwirtschaft eingehen werde:
das Kultivieren des Bodens […]
das Kultivieren […]
auf größeren Flächen kultivierte Pflanzen […]
auf geeigneten Nährböden in besonderen Gefäßen gezüchtete Gesamtheit von Mikroorganismen oder Gewebszellen“.[11]
Kultur liest sich hier als Ableitung vom Ackerbau, von der Bearbeitung durch den Menschen, kurz gesagt, was der Mensch gestaltend hervorbringt, im Unterschied zur nicht bearbeiteten Natur.[12] Beim Kultivieren des Bodens wird eine Fläche bzw. ein Nährboden von einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen bearbeitet, mit dem Ziel, darauf etwas zu kultivieren, also anzupflanzen und gedeihen zu lassen. Was heißt das nun für unser Verständnis des Kofferworts ‚Fehlerkultur‘? Fehlerkultur, wie es in den Sozialwissenschaften verstanden wird, beschreibt die „(offene, konstruktive) Art des Umgangs mit Fehlern, Verfehlungen“[sic!].[13]Aus kulturwissenschaftlichem Verständnis stellt sich folglich die Frage, wie die Gesamtheit der geistigen Leistung einer Gesellschaft oder Gruppe mit den nichtidealen Istzuständen umgeht. Dieses Verständnis wird in den folgenden Abschnitten vor allem dann eine Rolle spielen, wenn ich die Werte, Normen und Haltungen von mir oder anderen Personen im Kontext mit Fehlern thematisiere. Ich möchte einen Schritt weitergehen und Kultur im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Bearbeiten eines metaphorischen Feldes lesen, der Mittelschulbibliothek. In diesem Verständnis entsteht Unternehmens- bzw. Fehlerkultur als ein gemeinsam geschaffenes Produkt, das aus der Kooperation unterschiedlicher Parteien entsteht und so seinen bedeutsamen Charakter entfaltet.
Im nächsten Kapitel leiste ich zunächst etwas Vorarbeit am Feldrand und zeige meine persönliche Ausrüstung: Entwicklung meiner eigenen Fehlerkultur; wie ich persönlich als Mensch meine eigene Haltung, Normen und Werte zu den Ereignissen entwickelt habe, die von dem abweichen, wie es eigentlich gewollt ist. Diese Haltungen sind aus persönlichen Lernprozessen entstanden und beeinflussen im Hintergrund meine Arbeitsweise und wie ich mit anderen, fehlermachenden Menschen umgehe.
2 Am Feldrand: Die kurze Geschichte (m)einer Fehlerkultur
Mein Weg zu einer Festanstellung im Feld ‚Information und Dokumentation‘ kam über Umwege zustande. Zunächst studierte ich Kulturwissenschaften. Nach dem erfolgreichen Masterabschluss war ich mir nicht sicher, ob das wirklich der richtige Weg für mich ist und ob ich mich wohl fühlen würde. Ich besann mich auf mein liebstes Hobby, das Lesen. In meinen Augen ist das geschriebene Wort eine der relevantesten Leistungen der menschlichen Kultur.[14] Ich wollte meine Begeisterung und Liebe für Bücher anderen Menschen weitergeben und entschied mich deshalb, mich als Bibliothekarin weiterzubilden. Dank eines Weiterbildungsmasterprogramms in Information und Dokumentation konnte ich mir in einem Jahr das nötige konzeptionelle Wissen aneignen und nebenbei in Praktika erste praktische Erfahrungen sammeln. Am Ende meiner Ausbildung verfügte ich über die nötigen fachlichen Fähigkeiten und ein extensives inhaltliches Wissen, war aber in der Praxis noch unerfahren.
Bewerbungen sind zuallerletzt auch immer Werbung. Ich bewerbe mich um eine Stelle und versuche, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Gleichzeitig will die anstellende Institution für sich werben. Eine Bewerbung hat jedoch noch andere, spannende Effekte: Sie gibt mir die Möglichkeit, mich mit dem eigenen Lebenslauf und der persönlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Ich muss gestehen – und da geht es wahrscheinlich vielen so –, ich habe mich selten so intensiv mit meiner eigenen Geschichte auseinandergesetzt, wie in der Vorbereitung zu den diversen Bewerbungsgesprächen, zu denen ich das Glück hatte, eingeladen zu werden. Dabei wurde mir bewusst, dass zu meiner Qualifikation noch mehr gehört als meine fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse, die ich im Studium erworben hatte. Es galt auch, mich als Person zu bewerben. Wie ich als Mensch heute bin, denke und mich in der Welt gebe, hat viel mit meiner Erziehung und Sozialisierung zu tun. Auch meine eigene Fehlerkultur findet ihren Ursprung in meiner persönlichen Charakterbildung.
Als Kind lernt man in der Regel, dass Fehler negative Konsequenzen haben. Man wird von den Erziehungsbeauftragten, seien es Eltern oder Lehrpersonen, auf die Verfehlungen aufmerksam gemacht und auf deren Folgen hingewiesen. Diese Erfahrungen beeinflussen unser Verhalten und steuern unsere Handlungen. Je nach Erziehungsstil kann es mitunter zu Ängsten führen.[15] Lernen ist schmerzhaft und oft fehlt den Menschen die positive Sichtweise auf Fehler, denn sie haben vor allem die negativen Konsequenzen verinnerlicht. Fehler können aber auch positiv gelesen werden und konstruktiv sein.[16] Entsprechend der negativen Definition der Fehler, dem nichtidealen Istzustand, dienen Verfehlungen dazu, negatives Wissen als Abgrenzung zum Positiven aufzubauen und Normenkenntnisse zu erwerben. Wir erfahren durch Fehler den gewünschten Sollzustand und können Selbstwertgefühl erwerben, wenn Fehler nicht zum Verlust sozialer Akzeptanz führen.[17] Beim Lernen aus Fehlern erwerben wir einen Wissensschatz, der als Schutzwissen dient. Der Sollzustand wird uns durch Erziehung und tradierte Erfahrungen weitergegeben.[18] In der Kontrastierung des Nichtidealen mit dem Idealen verfestigen sich weiter Normen und Werte im Umgang mit Verfehlungen, die uns ein Leben lang begleiten werden, aber nicht statisch und starr sind. Als Teil unseres Wissensschatzes sind sie auch Veränderungen und Weiterentwicklungen unterworfen, wie sich in meiner Biografie zeigt:
So wuchs ich beispielsweise in einer Familie auf, die einen sehr unverkrampften Umgang mit Fehlern praktizierte. Wir wurden für unsere Verfehlungen nie hart bestraft, sondern vielmehr über die Konsequenzen unserer Handlungen aufgeklärt. Wenn wir konnten, halfen wir bei der Richtigstellung unserer Fehler. In meiner Kindheit erwarb ich also meine erste Fehlerkultur:
Persönliche Fehlerkultur 1
Fehler sind nicht schlimm, aber du musst die Konsequenzen deines Verhaltens richtigstellen, sodass du anderen Menschen nicht schadest.
Meine ursprüngliche Fehlerkultur entwickelte sich in der Schule und später an der Universität weiter und wurde unpersönlicher. In der Grundschule gibt es üblicherweise kleineren Klassenverbände, die Betreuung ist näher, man ist als Schüler oder Schülerin mit Persönlichkeit, Verhalten und dessen Konsequenzen sichtbarer. Der Fokus auf Fehler verschiebt sich ebenfalls bzw. erweitert sich. Ungestümes Verhalten, das anderen Personen schaden könnte, wird immer noch mit erzieherischen Maßnahmen geklärt: Die Konsequenzen des Verhaltens werden aufgezeigt und im Gespräch mit den Betroffenen gelöst. Neu hinzu kommt der Fokus auf Fehler bei der Arbeit. Die Schule fungiert nicht nur als Ort der Sozialisierung des Einzelnen, sondern vermittelt grundlegende Kenntnisse, die das Leben in der Gesellschaft erleichtern. Der Wissensschatz, den wir in der Schule erwerben, hilft Schulkindern, später mit Regeln, Gesetzen und Ansprüchen des Lebens etwas anfangen zu können. Eine Schule hat auch die Pflicht, möglichst alle Lernenden in der gleichen Zeit adäquat auszubilden. Die Leistung der Lehrkräfte bedingt die Gegenleistung der Lernenden: Das System setzt voraus, dass wir unsere Aufgaben pflichtbewusst und möglichst ohne Fehler erledigen. Sollte das einmal nicht gelingen, spüren wir direkt die Konsequenzen unserer Fehler: Die Aufgabe muss noch einmal erledigt werden oder die nächste Note besser.
Persönliche Fehlerkultur 2
Die Konsequenzen deiner Fehler spürst vor allem du. Dein Handeln und die Konsequenzen liegen in deiner Verantwortung. Andere bieten dir möglicherweise Hilfeleistung an, aber letztendlich musst du deine Arbeit selbst erledigen.
Diese Fehlerkultur hat mich eine lange Zeit begleitet. Während Betreuung und Unterstützung in der Grundschule noch etwas persönlicher waren, wurde ich während der Sekundar- und Gymnasialbildung sanft zu mehr Selbstständigkeit erzogen. Während meiner Sekundar- und Gymnasialjahre hatte ich meistens bei den gleichen Lehrkräften Unterricht. Sie haben mich und die anderen Lernenden heranwachsen sehen, konnten uns individuell betreuen und gleichzeitig auf das Leben nach der Schule vorbereiten. Mit der Schweizerischen Matura wurde von uns auch eine gewisse Reife erwartet:
Persönliche Fehlerkultur 3
Eure Arbeitsleistung liegt in eurer Verantwortung. Fehler und deren Konsequenzen spürt ihr. Ihr könnt andere zwar um Hilfe bitten, aber die Arbeit müsst ihr selbst erledigen.
Selbstständigkeit und Selbstverantwortung sind Teil der schulischen Reife. Nach der Grundausbildung werde ich in die Welt entlassen, kann und darf mehr machen, aber ich muss auch dafür arbeiten. Diese Haltung zu Fehlern verselbstständigte sich abermals, als ich anfing zu studieren. Losgelöst von der Rigidität eines Stundenplans konnte ich mehr oder weniger selbstständig mein Studium gestalten und Kurse belegen, die mich interessierten. Die Betreuung war gewährleistet, wenn ich darum gebeten habe. Noch mehr als ich zuvor gewohnt war, wurde von mir verlangt, meine Arbeit selbstständig zu erledigen. Fehler konnten nicht mehr so leicht behoben werden, denn deren Beseitigung musste im Zwiegespräch verhandelt werden. Diese Fehlerkultur spiegelte sich auch in vielen Praktika wider, die ich begleitend zum Studium absolvierte. Man gab mir Instruktionen, bemühte sich, diese möglichst detailgetreu und konzis weiterzugeben, versicherte sich, dass ich diese auch verstand, und ließ mich dann selbstständig arbeiten. Als Praktikantin hatte ich gegenüber meiner Rolle als Studierende noch den Vorteil der Unerfahrenheit. Mir wurde deshalb eine besondere Haltung zu Fehlern anerzogen: ehrlich sein und zu meiner Arbeit stehen. Ich sollte mich nicht schämen, um Hilfe zu bitten und offen über meine Fehler reden. Ich wurde nicht ständig kontrolliert, man konnte mir also nur helfen, wenn ich etwas sagte.
Persönliche Fehlerkultur 4
Du bist selbst für deine Arbeit verantwortlich, aber sei dir bewusst, dass du nicht alles wissen kannst und musst. Rede mit deinen Vorgesetzten, frage nach. Habe keine Angst vor deinen Fehlern.
Dieser kurze Umriss wird nicht der enormen Bandbreite der Erfahrungen gerecht, die ich bisher machen konnte. Neben Wissenserwerb und Erziehung im schulischen Kontext haben mich auch diverse Ereignisse in meinem Privatleben, mit meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden geprägt. Werte und Normen werden ebenfalls im Umgang mit Mitmenschen erworben. Aus Gründen der Zeichenvorgabe des Essays und des Datenschutzes verzichte ich an dieser Stelle auf private Ausführungen. Im Kontext der Berufsausübung sind für mich die Auswirkungen meines Bildungsweges interessant sowie die Frage, welche Haltung ich zu Fehlern durch meine Erziehung, Sozialisierung und Bildung erworben habe.
Persönliche Fehlerkultur 5
Fehler sind für mich nichts, wovor ich Angst haben muss, denn sie gehören zum Lernen dazu. Egal wie alt ich bin, man erwartet von mir nicht, fehlerfrei zu arbeiten und alles zu wissen. Ich bin selbst für mein Verhalten und die Konsequenzen verantwortlich. Fehler können aber für meine Mitmenschen Konsequenzen haben, wenn ich sie verheimliche. Nur wenn ich sie anspreche und im Gespräch mit anderen über deren Beseitigung verhandle, komme ich weiter.
Die Lektionen, die ich gelernt hatte, verfestigten sich in einer verinnerlichten Haltung, in meiner eigenen persönlichen Art, an Aufgaben heranzugehen, Probleme zu lösen und mit Fehlern umzugehen. Beim Einstieg ins Berufsleben ging es darum, diese innere Haltung nach außen zu tragen.
3 Die innere Haltung nach außen tragen
In der Regel verlangen Bewerbungsprozesse im ersten Schritt die Zusammenstellung eines aussagekräftigen Bewerbungsdossiers. Ich begann, die nötigen Dokumente zu erstellen und zusammenzustellen. Die vollständigen Bewerbungsunterlagen zeigen auf, welches Wissen und welche Fertigkeiten ich durch Ausbildung und Praktika erworben habe: ‚Hard Skills‘, harte, belegbare Fertigkeiten. Um als Bibliothekarin tätig zu sein, werden beispielsweise Kenntnisse der Landessprachen und mindestens einer Fremdsprache benötigt, die sich durch aussagekräftige Zeugnisse belegen lassen. Im Studium und bei der Weiterbildung erworbene Zertifikate und Diplome belegen derweil grundlegende Kenntnisse des Managements, Rechnungswesens sowie Softwarekenntnisse und Wissen über die relevantesten Entwicklungen und Trends im Feld der Information und Dokumentation. Empfehlungsschreiben ehemaliger Vorgesetzter verweisen zudem auf praktische Erfahrungen im Katalogisieren, strukturierten Arbeiten, Thekendienst, Umgang mit Kundschaft und Vermittlungsarbeit. Bildungsspezifische und berufsbezogene Dokumente belegen in erster Linie meinen Grad an Qualifikation für eine potenzielle Anstellung. Sie beantworten die Frage, wieviel Zeit investiert werden muss, um die erforderten Anforderungen zu gewährleisten.
Neben harten, belegbaren Fakten meiner Bewerbung musste ich auch Einblick in meine eigene Haltung und Persönlichkeit zu diversen Themen geben. Die wenigen Zeilen eines Motivationsschreibens können dem kaum gerecht werden, sie dienen vielmehr dazu, das Interesse der potenziellen Arbeitgebenden zu wecken. Habe ich das Interesse des Gegenübers geweckt, erhalte ich die Möglichkeit, in einem Gespräch mit meinen Fertigkeiten zu werben. Während der verschiedenen Gespräche fiel mir auf, dass mein Gegenüber weniger daran interessiert war, mein Wissen und meine Fertigkeiten abzufragen, da diese in der Regel ausreichend durch die beigefügten Unterlagen belegt wurden. Vielmehr wollten die Arbeitgebenden erfahren, welche Kulturen und Haltungen ich mitbringe und wie ich diese in die bereits etablierte Kultur meines Arbeitsplatzes integrieren will. Da eine Bewerbung auch immer eine Art Werbung beinhaltet, gab ich mir Mühe, meine Kulturen und Haltungen möglichst gut zu verkaufen. Nach einiger Zeit gab es dann eine kaufinteressierte Institution und mir wurde eine Stelle angeboten. Ich begann im Dezember 2021, mitten im zweiten Pandemiejahr, in der Bibliothek bzw. Mediothek einer größeren Schweizer Mittelschule zu arbeiten.[19] Es war eine spannende und anspruchsvolle Zeit. Für mich als Quereinsteigerin war es die erste richtige Arbeitsstelle und für das Team der Mediothek bestand die Herausforderung in dieser außergewöhnlichen Zeit darin, ein neues, noch unbekanntes Mitglied einzuarbeiten. Während der nächsten Monate musste ich beweisen, dass meine Werbung keine leeren Versprechen beinhaltete. In neuen und unbekannten Situationen werden häufig Fehler gemacht. Auf der einen Seite habe ich als neue Mitarbeitende noch wenig Routine bei der Arbeit, andererseits kann Routine mitunter dazu führen, dass Möglichkeiten der Verbesserung am Arbeitsplatz nicht mehr wahrgenommen werden.[20] Des Weiteren handeln Menschen nie isoliert, sondern werden durch verschiedene Umwelteinflüsse, Strukturen oder Personen beeinflusst.[21] Zur Beeinflussung durch äußere Bedingungen kommen noch die Einflüsse der eigenen Wahrnehmung hinzu. Jeder Mensch hat durch die eigene Biografie Erfahrungen, die ihn oder sie prägen, ganz unterschiedliche mentale Modelle. Wahrnehmung ist demnach nie oder selten eine singuläre Realität. Sie ist das, was wir als einzelne Person für wahr halten,[22] denn „die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, wie wir uns selbst wahrnehmen, prägt unser Denken.“[23] Im Umgang mit anderen kollidieren diese verschiedenen mentalen Modelle und Wahrnehmungsmuster. Die Erschütterung des Bekannten muss aber nicht unbedingt negativ sein, auch wenn zunächst Irritationen ausgelöst werden können. Im Austausch mit dem Gegenüber können wir unsere Wahrnehmungsmodelle neu überdenken und verhandeln. Wie in der Einleitung beschrieben, müssen wir uns oft zusammensetzen und deutlich über unsere Ziele und Herangehensweisen kommunizieren. Diese theoretischen Feststellungen kann ich durch meine persönlichen Erfahrungen illustrieren. Beide Seiten konnten die unterschiedlichen Kulturen kennenlernen und versuchen zu integrieren. Das Team, das ich ergänzte, arbeitete bereits seit einigen Jahren zusammen. Sie haben sich folglich aneinander gewöhnt und einiges miteinander erlebt: Umzug der Mediothek, Pandemiejahr, neue Bibliothekssoftware, neues Lehrpersonal etc. Das Team hat sich über die Jahre eingespielt, arrangiert und ausgehandelt. Nun ging es darum, eine Quereinsteigerin ohne Berufserfahrung kennenzulernen. Mögliche Fehler von meiner Seite durch wenig Routine oder Missverständnisse, bedingt durch unterschiedliche Erfahrungen, wurden von beiden Seiten bewusst wahrgenommen. Schließlich mussten wir uns abermals der eigenen Kultur bewusst werden und diese neu verhandeln. Es war an der Zeit, das unbekannte Feld zu betreten.
4 Erste Schritte im Feld: Kulturen verhandeln – System neu denken
Es liegt in der Natur der Kulturen, dass diese nicht starr und unbeweglich sind. In der täglichen Konfrontation mit anderen Menschen lernen wir schnell, uns unserer Haltung bewusst zu werden und neue Ideen zu integrieren. Ich kam in ein Team, das über die Jahre Haltungen und Herangehensweisen kultiviert hatte, die einerseits von vorgehenden Teams vererbt wurden und sich ihrerseits wieder auf den Usus im Bibliothekswesen bezogen. Bibliotheken existieren schon lange und je nach Art der Bibliothek wird auf eine bestimmte Weise gearbeitet, so wie es der jeweiligen Kundschaft dienlich ist. Entwicklungen in Technologie und Ordnungssystematik stellen Bibliotheken immer wieder vor Herausforderungen: Man passt die Systematik sowie Schulungen und Kurse an und man stellt von handschriftlichen Katalogen auf elektronische um, zudem werden Softwareprogramme modernisiert und Inhalte sowie Ansprüche ändern sich. Die Arbeitskultur muss sich anpassen, wobei jede Bibliothek, also jedes Team seinen ganz eigenen Charakter, Typus und Habitus entwickelt. Grundlegende Kenntnisse und Leitbilder bieten die Basis, die eigentliche praktische Umsetzung ist aber in jedem Team anders. Begleitend zu meinem Studium habe ich in diversen Bibliothekstypen mein Praktikum gemacht. Vier davon waren Schulbibliotheken, die im Kanton Basel-Landschaft auf ihre eigene Art und Weise einzigartig waren.[24] Mit Ausnahme von zwei Bibliotheken waren es alle One-Person-Libraries, größtenteils auch geleitet von Quereinsteigern und Quereinsteigerinnen. Jede Bibliothek hatte deshalb ihren besonderen Charakter, auch wenn sie sich grundsätzlich ähnelten. An jedem Ort wurden die Arbeitsweisen an die Bedürfnisse der Kundschaft angepasst. Ganz anders war es in der Öffentlichen Kantonsbibliothek: Das Team war nicht nur größer, die Bibliothek operierte auch im Auftrag der Öffentlichkeit. Es wurde und musste stark strukturiert gearbeitet werden, um das komplexe System aufrechtzuerhalten.
Die Mediothek, in der ich seit Dezember 2021 arbeite, hat wiederum ihren ganz eigenen Charakter. Meine Erfahrungen in den Schul- und Öffentlichen Bibliotheken halfen mir, die grundlegenden Arbeitsweisen und Aufgaben zu verstehen und nachzuvollziehen. In der Umsetzung meiner Aufgaben wurden mir die spezifischen Besonderheiten dieser Arbeitsstelle aber immer wieder vor Augen geführt. So erledigte ich die Aufgaben zwar stets korrekt gemäß Anleitung, am etablierten System wurde dennoch im Kleinen gerüttelt. Ich habe Fehler gemacht, etwas missverstanden und falsch interpretiert. In diesen Momenten zeigte sich die innere, unausgesprochene Haltung des bereits vorhandenen Teams zu Fehlern: Sie wurden nie oder selten als solche bewertet. Negative Konsequenzen gab es selten. Vielmehr wurden die Verfehlungen als Chance gesehen, gewisse Arbeitsprozesse neu zu überdenken. Was für andere Routine war, musste für mich verbalisiert dargelegt werden, damit ich die Prozesse nachvollziehen und verinnerlichen konnte. Die Ausformulierung der Prozesse half wiederum, etwaige Mängel im System aufzudecken und das System neu zu betrachten. Dieser Umgang mit Fehlern ist für beide Seiten konstruktiv. Fehler[25] zeigen neue Lösungswege oder Herangehensweisen an altbekannte Probleme. Der konstruktive Umgang fördert ein angstfreies Klima, was wiederum Agilität und Lernprozesse aller Beteiligten unterstützt.[26] „Bei genauer Betrachtung sind Fehler tatsächlich Störfälle – und exakt in diesen Störungen liegt ihr Wert: Sie erschüttern den Status quo und öffnen neue Wege, die ohne einen Fehler verborgen geblieben wären.“[27]
Neueinführungen von Mitarbeitenden werden nach Möglichkeit schnell durchgeführt, damit die Person zeitnah eigenverantwortlich die eigenen Sachaufgaben übernehmen kann. Dabei bietet sich auch die Chance, dass Neulinge beim Erlernen der Prozesse Dinge bemerken oder durch unbeabsichtigte Fehler aufdecken, die nicht einwandfrei funktionieren.[28] In meiner praktischen Erfahrung bei der Arbeitseinführung ging es nie darum, Fehler als Verfehlungen aufzuzeigen und Fehlverhalten zu bestrafen, sondern vielmehr darum, die eigene Arbeitsweise, Prozessstrukturen und Kultur anzusprechen sowie sich bewusst zu machen und gegebenenfalls neu zu verhandeln. Als frisch ausgebildete Bibliothekarin kam ich nicht nur mit erworbenem Wissen und Kenntnissen der Katalogisierungsmethoden und Recherchestrategien an den Arbeitsplatz, meine harten und weichen Fähigkeiten zeigten auch an anderer Stelle ihren Wert: Ich hatte Einblick in Konzepte und Trends, die gerade in der Welt der Information und Dokumentation aktuell waren. Ich war also nicht ein Störfaktor im System ‚Schulbibliothek‘, sondern jemand, der unbewusst durch bestimmte Verhaltensweisen und Arbeitsstrategien das etablierte und routinierte System etwas aufrüttelte. Diese Tatsache brachte meine Vorgesetzten und Team-Kolleginnen und -kollegen dazu, Systemstrukturen, Arbeitsprozesse und die nach außen praktizierte Kultur neu zu überdenken und zu verhandeln. Diese Arbeit ist für alle Beteiligten wertvoll und kann vor allem dann gelingen, wenn alle sich der eigenen Kultur bewusst werden und bereit sind, offen miteinander zu kommunizieren. Da wir nun alle im Feld sind und es gesehen haben, geht es nun darum, es gemeinsam zu bestellen und ertragreich zu kultivieren.
5 Gemeinsam das Feld bestellen: Offen miteinander kommunizieren
Kommunikation ist zentral für den Erfolg der Verhandlungen. Dafür muss Raum geschaffen werden, in dem der oder die Einzelne sich nicht fürchtet, sich zu äußern und auf Problematiken hinzuweisen. Dieser Raum ist auch abhängig von der Größe des Teams und der Arbeitsorganisation. Meetings helfen, das Team an einen Tisch zu bringen und gemeinsam Lösungen zu finden. Diese direkte Kommunikation war während der Hochphase der Covid-19-Pandemie nicht mehr im gewohnten Rahmen möglich. Im Home-Office mussten wir digital über Video-Chat oder E-Mail kommunizieren. Nicht selten gab es systembedingte Fehlerquellen: Neben technischen Problemen, wie Überlastung veralteter digitaler Systeme, führten auch die Einschränkungen der digitalen Kommunikation zu Missverständnissen, Fehlinterpretationen oder verlorengegangenen Informationen. Gerade in dieser Zeit zeigte sich der Wert konstruktiver Kommunikationsstrategien am deutlichsten. Im Feld der Information und Dokumentation sind die Teams in der Regel klein. Es sind aber nicht immer alle erreichbar, weil viele Angestellte in Teilzeit arbeiten. Somit ist es umso wichtiger, dass die Kommunikationskanäle, seien sie elektronisch oder physisch, offengehalten werden; dies nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Fehlerkultur, denn gerade „die Qualität der Kommunikation in einem Unternehmen ist entscheidend für den Erfolg einer positiven Fehlerkultur.“[29]
Werden Fehler vorzeitig aufgedeckt, können Folgen besser eingegrenzt werden, doch dazu braucht es einen Raum, der angstfreie Kommunikation zulässt. An meiner derzeitigen Arbeitsstelle wurde dies so eingerichtet, dass das gesamte Team an einem Tag in der Woche präsent ist und zusammenkommt. In den Meetings erhalten die Mitarbeitenden die Gelegenheit, sich über Zielsetzungen auszutauschen und in unverkrampfter Atmosphäre über Fehler oder Erlebnisse zu diskutieren.[30] Darüber hinaus praktizieren wir eine Politik der offenen Tür. Sowohl ich als auch meine Vorgesetzten und Teamkolleginnen und -kollegen dürfen sich das Recht herausnehmen, Fragen zu stellen, um Hilfe zu bitten oder auf Fehler hinzuweisen. Die räumliche Freiheit hilft in erster Linie, die Angst vor Fehlern zu nehmen und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Diese Art der Kooperation ist dann fruchtbar, wenn die einzelnen Aufgaben eindeutig delegiert werden. Somit weiß jede Person im Team, welche Aufgaben für diesen Tag anstehen und welche Bereiche von wem abgedeckt werden.[31] Die Delegation erleichtert zudem auch die Ursachenfindung der Fehler. Die richtigen Personen werden angesprochen und können in wenigen Schritten ihre Vorgehensweise darlegen.
Eine weitere Besonderheit dieses spezifischen Teams ist die Art und Weise, wie über Fehler geredet wird. Grundsätzlich erwarten wir voneinander, dass wir aufgrund unserer individuellen Erfahrung und Ausbildung, relevante Grundlagenkenntnisse in der bibliothekarischen Arbeit haben. Wir wissen, wie katalogisiert wird, wir kennen die Software, wir wissen, wie wir mit unserer Kundschaft umzugehen haben. Die Leitung der Mediothek bemüht sich darüber hinaus, die Software zu pflegen und die Arbeitsweise den immer wechselnden Bedürfnissen und Trends anzupassen. Mit sorgfältigen und detaillierten Anleitungen werden wir auf diese Änderungen hingewiesen und können so unser Vorgehen dementsprechend anpassen. Gleichzeitig ist aber die Haltung zu Fehlern klar ausgesprochen und verinnerlicht: Fehler passieren, wo Menschen arbeiten. Menschen sind fehlbar sowie Stimmungen und Emotionen unterworfen.[32] Arbeitsüberbelastung, Störungen, fehlerhafte Zielvereinbarungen, fehlerhafte Selbstorganisation, Routinefehler, Nichtwissen, Nichtwollen, Nichtkönnen, Missverständnisse etc.[33] können zu Fehlern führen. Wir betrachten sie, wie beschrieben, nicht als Unvermögen der Verursachenden, sondern fragen uns vielmehr, wo und wie die Fehler entstanden sind. Diese Herangehensweise ermöglicht es, Systeme und Prozesse anders zu betrachten.[34] Wir sind uns bewusst, dass diese Fragen nur gelöst werden können, wenn wir offen und ohne Aggression über Fehler reden.
Fehler entstehen durch die Verkettung verschiedener Ereignisse.[35] Um diese zu verhindern, werden Mechanismen geschaffen, die jedoch nie perfekt sein werden. Die vorhandenen Lücken sind oft latente Fehler. An manchen Tagen kommen viele Faktoren zusammen und die latenten Fehler kumulieren sich zu aktiven Fehlern. Um die vorhandenen latenten Fehler aufzuspüren, ist es wichtig, die Ursprünge aktive Fehler zu entdecken.[36] Im Kontext mit der Ursprungssuche müssen wir uns mit den verschiedenen Ebenen der Verkettung der Fehler auseinandersetzen. Auf der höchsten Stufe steht die Organisation bzw. das Unternehmen. Dort können bereits Lücken im System vorherrschen. Wenn noch zusätzlich Missstände in der Aufsicht bzw. der Führungsebene vorkommen, kumulieren sich die latenten Fehler bereits. Eine Stufe tiefer befindet sich die Ebene der Umstände. Äußere Einflüsse, Mängel am Arbeitsplatz, Unterbrechungen, Ablenkungen etc. stören die Konzentration bei der Arbeit. Zum Schluss betrachten wir den Menschen selbst. Eine unsichere, unkonzentrierte Handlung löst dann einen aktiven Fehler aus.[37] Bei der Ursachensuche ist es wichtig, alle Ebenen miteinzubeziehen. Diese Vorgehensweise kann ich an meinem Arbeitsplatz beobachten. Dabei läuft die Evidenzsammlung in der Regel rückwärts: Man fragt zunächst bei der fehler-verursachenden Person nach, weshalb der Fehler passiert ist, um im nächsten Schritt nachzuvollziehen, ob äußere Umstände dazu führten. Oft führt dann die Ursachensuche zu latenten Fehlern auf den oberen Ebenen. Einmal aufgedeckt, bemüht sich das Team in der Kooperation, neue Lösungswege für Arbeitsprozesse zu finden. Dafür braucht es viel Empathie, Integrität, sachlich strukturiertes Handeln und auch analytisches Denken,[38] aber auch eine passende Kommunikationsstrategie, ausgehend von der Führungsebene.[39] Führungskräfte haben einen zentralen Einfluss auf die Atmosphäre im Raum, denn erst sie können konstruktive Kommunikation ermöglichen.[40] Im gemeinsamen Umgang miteinander wachsen wir zusammen und überdenken unsere Haltungen neu. Unsere (Fehler-)Kulturen werden immer wieder neu verhandelt, Denk- und Verhaltensweisen offen kommuniziert. Mit der Zeit wächst daraus eine individuelle Art zu denken und zu agieren, die flexibel und unausgesprochen im Hintergrund unser Handeln beeinflusst. So können wir gemeinsam eine Norm schaffen und im Umkehrschluss identifizieren wir dazu abgegrenzt die Fehler. Wie diese Fehler aussehen, kann natürlich für jedes Unternehmen oder jedes System anders definiert werden.[41]
Für mein Essay habe ich mir die Frage gestellt, welche Art der Fehlerkultur an meinem Arbeitsplatz vorherrscht. Bei der Lektüre einschlägiger Literatur bin ich zusätzlich auf die verschiedenen Typen der Fehlerkulturen in Unternehmen gestoßen, wie sie beispielsweise von der Unternehmensberaterin Claudia Brückner in ihrem Buch über Qualitätsmanagement und Fehlerkultur beschrieben werden. In diesen Typen konnte ich viele grundlegende Stile in der Haltung und Handlung der Bibliothek wiedererkennen, die ich hier gerne kurz umreißen würde. An meinem Arbeitsplatz werden Fehler als Teil des Lernprozesses verstanden. Wir betreiben Fehleroffenheit und sind als lernende Organisation bestrebt, Fehler zu analysieren, Ursachen zu ermitteln und Maßnahmen zu generieren.[42] Auf Ebene der Organisation werden Maßnahmen geplant, die mögliche Veränderungen der Umwelt vorwegnehmen sollen und uns als Basis für Spezialisierung, Koordination und Kooperation einzelner Bereiche dienen. Dazu gehört beispielsweise die Anpassung der Bibliotheksordnung, Vorbereitung der Schulungen, Strategien in der Kommunikation mit dem Lehrpersonal, Anpassungen im Katalogwesen etc. Auf Ebene der gemeinsamen Kultur entstehen Werte und Normen, die sich über die Zeit stabilisieren. Dazu gehört natürlich auch die Fehlerkultur. Die Mitarbeitenden werden angemessen geschult, ihre Fähigkeiten gefördert und gefordert. Wir tauschen uns offen und frei über Visionen und Ideen aus.[43]
Durch diese latenten und aktiv gesteuerten Prozesse generieren wir gemeinsam eine Haltung im Umgang mit Fehlern. Im Abschluss des Artikels werde ich diese Haltung in Worte fassen. Dabei geht es weniger darum, eine Form festgeschriebener Regeln zu verdeutlichen, vielmehr möchte ich die Lesenden ermuntern, dies als Anregung zu betrachten, sich die eigenen Kulturen bewusst und so sichtbar zu machen.
6 Fazit: Eine Fehlerkultur – gemeinsam gedacht und ausgeschrieben
Wer eine Fehlerkultur schaffen will, muss sich zunächst im Klaren sein, wie er (oder sie) zum Thema ‚Fehler passieren‘ steht. Das kann – wie bereits erwähnt – für jedes Unternehmen bzw. jedes Team anders sein. Wichtig ist, dass man sich dessen gemeinsam bewusst ist. Wir sehen das folgendermaßen:
6.1 Wir erwarten voneinander, dass wir sorgfältig arbeiten
Wir sind gereift durch unsere Bildung und unsere (schulische) Sozialisierung. Der individuelle berufliche Werdegang befähigt uns, Aufgaben korrekt zu lösen, mit den Ansprüchen der Technologie und Kundschaft umzugehen sowie unsere Pflicht als Bibliothekare und Bibliothekarinnen zu erfüllen. Wir wollen keine Fehler, denn sie kosten Zeit, Nerven und im schlimmsten Fall Geld. Mit dieser Haltung entsprechen wir den meisten Unternehmen, wie es der Unternehmensberater Hans-Jürgen Kratz beschreibt: „Generell freunden wir uns nicht mit Fehlern an, denn durch sie läuft etwas falsch, funktioniert etwas nicht, werden Gesetze oder moralische Normen missachtet mit der Folge, dass negative Auswirkungen erkennbar werden.“[44] Aber Fehler passieren dennoch, denn niemand ist unfehlbar. Diese Erkenntnis ist ebenfalls Teil einer gesunden Fehlerkultur.
6.2 Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass Fehler passieren können
Fehlerquellen können, wie im vorgehenden Kapitel beschrieben, auf unterschiedliche Art und Weise vorkommen. Situationen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, können uns individuell belasten und haben Einfluss auf die Art, wie wir arbeiten. Die Technik kann versagen und die eigene physische Verfassung kann die Konzentration beeinflussen.[45] Wichtig ist dabei, dass wir uns davon nicht irritieren lassen und gemeinsam an den Lösungen arbeiten.
6.3 Wenn Fehler eintreten, versuchen wir herauszufinden, wie und wo sie entstanden sind
Fehler und deren Konsequenzen können nur gelöst werden, wenn wir ihre Entstehungsgeschichte nachvollziehen. Fehlverhalten oder persönlichen Mangel als Grund vorzuschieben, hilft nicht weiter. Wir müssen verstehen, wo wir das System anpassen müssen, so dass ähnliche Fehler nicht wieder vorkommen. Somit erkennen wir den Veränderungsbedarf im System und können Verbesserungen herbeiführen.[46]
6.4 Wir kommunizieren offen und ohne Schuldzuweisungen über Fehler und ihre Quellen
Wir dürfen uns selbst und auch gegenseitig keine Vorwürfe machen. Ein Klima der Angst behindert die Arbeit und macht eine nachhaltige Lösung der Probleme unmöglich. Wir müssen ehrlich und ohne Anklage miteinander kommunizieren. Bei der Schaffung eines konstruktiven Betriebsklimas weist die einschlägige Fachliteratur der Führungsebene eine zentrale Rolle zu, was sich im praktischen Kontext unserer Arbeit verdeutlicht.
6.5 Fehler dürfen uns irritieren, aber nicht erschrecken
Die in den vorgehenden Kapiteln beschriebenen theoretischen Erläuterungen zeigen den Wert der Fehler auf. Nur durch ihre Anwesenheit können wir Mängel in unserem System sichtbar machen und unangenehme Folgen verhindern. Die Erfahrung zeigt, wie Fehler uns aufwecken und die Chance geben, unsere Kultur(en) zu verhandeln und etablierte Systeme neu zu überdenken. Dabei dürfen wir uns nicht aus der Fassung bringen lassen. Die positive Lesart der Fehler ermöglicht es uns als Team, uns zum Besseren zu entwickeln. Durch den sachlichen, pragmatischen Umgang mit Fehlern geben wir uns Raum für Ehrlichkeit und belasten uns nicht gegenseitig mit Schuldgefühlen.
6.6 Schlusswort
Anleitungen, Ratgeber und Schulungen liefern die Basis, mit Fehlern umzugehen. Die theoretischen Konzepte sollen, dürfen und können sich in der eigenen Kultur der inneren Haltung verfestigen. Kulturen dürfen dabei aber nicht starr bleiben, sondern müssen stets neu verhandelt und an personelle und systemische Ansprüche angepasst werden. Gelebte Fehlerkulturen ermöglichen es, gemeinsamen Konsens und Verantwortungsbereiche zu schaffen. Dazu wird auch eine vertrauensbasierte, transparente Kommunikationsstrategie benötigt.[47] Fehlerkultur kann in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Der konstruktive Umgang mit Fehlern setzt ein angenehmes Betriebsklima voraus. Strukturen müssen geschaffen werden, die es erlauben, frei und ohne Angst oder Schuldzuweisungen miteinander zu kommunizieren. Die Fehlerkultur bleibt somit lebendig.
Ich wünsche allen viel Spaß und Freude bei ihrer Arbeit, sowie gutes Gelingen bei der Ausformulierung und Auslebung der eigenen Fehlerkultur. Des Weiteren möchte ich einen herzlichen Dank an das motivierte und motivierende Team hinter, neben und vor der Theke der Mediothek der Kantonsschule Olten aussprechen. Für eure Unterstützung, Geduld und Freude sage ich: Merci.
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Stephanie Affeltranger
Literaturverzeichnis
Brückner, Claudia (2021): Qualitätsmanagement und Fehlerkultur: Mit Fehlern gewinnbringend umgehen. München: Carl Hanser.10.3139/9783446469020.fmSearch in Google Scholar
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© 2023 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Lux, Claudia: Praxishandbuch richtige Lobbyarbeit für Bibliotheken (De Gruyter Reference). Berlin, Boston: De Gruyter, 2022. 383 S. Ill., gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-11-067333-3
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