Zusammenfassung
Das Leitbild, dass Teilnehmer eines Bibliothekssymposiums erarbeiteten, ist eine Orientierungshilfe, wie in Bibliotheken mit Misserfolgen oder Fehlentscheidungen umgegangen werden sollte, und zwar präventiv als auch retrospektiv.
Abstract
The mission statement was developed by participants at a library symposium. It provides guidance on how libraries should deal with failures, preventively and retrospectively.
Das Leitbild wurde gemeinsam diskutiert und erarbeitet von den Teilnehmenden des Workshops auf dem 14. Wildauer Bibliothekssymposium am 14.9.2022. Es kann zum Beispiel als Diskussionsgrundlage, als finales Leitbild oder als anpassbare Vorlage für ein Fehlerkultur-Leitbild für die je eigene Bibliothek vor Ort dienen.
1 Wie stehen wir zu Fehlern/Erfolglosigkeit?
Fehler sind normal und nicht zu vermeiden, und zwar bei allen Mitarbeitenden mit und ohne Leitungsverantwortung.
Scheitern ist normal und keine Schande, im Gegenteil: Ohne ist erfolgreiches Arbeiten auch in Bibliotheken ausgeschlossen.
Die Möglichkeit eines Misserfolges ist dem Projektteam und der Bibliotheksleitung bewusst und wird nicht tabuisiert.
2 Wie gehen wir mit bibliothekarischen Perfektionismus um?
Eine Bibliothek ist kein Operationsaal, ist kein Atomkraftwerk, ist kein Raumschiff. Fehlertoleranz kann und sollte hier hoch sein. Das macht und ist menschlich. Besonders in wissenschaftlichen Bibliotheken ist Experimentieren und Scheitern und Optimieren so sehr normal, dass es kaum auffällt: Ihre Kundschaft, Forschende und angehende Forschende forschen genau nach diesem Schema. Mehr Mut! Oder künstlerisch gesagt: Ja, man kann ein Bild auch tot-malen. Im Zweifel beantworten wir uns ehrlich: Was kann im schlimmsten Fall passieren?!
3 Wie soll die Bibliotheksleitung sich gegenüber Projektarbeit grundsätzlich positionieren?
Sie
redet nicht nur mit ihren Mitarbeitenden, wenn sie Zeit hat, sondern sie nimmt sich Zeit, um mit ihnen zu reden.
bestraft Fehler nicht und sucht nicht nach Schuldigen, sondern hilft, nach Ursachen, warum ein Projekt gescheitert ist, zu suchen, und zwar auch dann, wenn sie selbst die Ursache ist.
denkt von Beginn an die Möglichkeit und damit den Nutzen des Projektscheiterns mit.
unterstützt das Projektteam, indem sie es wohlwollend kritisch begleitet (regelmäßiger Zwischenziel-Austausch), ohne dabei ins Mikromanagement zu verfallen.
unterstützt das Projektteam, indem sie die Rahmenbedingungen dafür schafft bzw. Projekte nicht wünscht, wenn die Rahmenbedingungen fehlen, z. B. ausreichend Motivation, Arbeitszeit, Personal und Fachexpertise.
respektiert und beachtet rollen- und hierarchieunabhängig die Zweifel von allen Mitarbeitenden.
hört aufmerksam auf Rückmeldungen von Projektbeteiligten.
stellt ihr Ego zurück, reflektiert selbstkritisch die eigene Rolle (Servant Leadership).
klärt für sich, was es bedeutet, erfolgreich bzw. gescheitert zu sein.
kommuniziert ihre Projekterwartung klar und deutlich.
achtet darauf, dass ihre Projekterwartungen für ihre Mitarbeitenden realistisch sind.
vermeidet Mikromanagement und Kontrolle, schafft Gestaltungsfreiräume für ihre Mitarbeitenden.
sucht nach realistischen Fristerwartungen gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden.
kennt und nutzt Kanäle und Communities, in denen abteilungsübergreifend darüber kommuniziert wird.
kommuniziert zeitnah Informationen ins Team zurück.
verzichtet bewusst darauf, Informationen als Herrschaftswissen einzusetzen.
behält die Übersicht über alle laufenden Projekte und deren Zeit- und Personalressourcenverbrauch und vermeidet, dass die Bibliothek zu viele Projekte gleichzeitig durchführt, indem sie sie priorisiert und darüber alle Mitarbeitenden informiert.
berücksichtigt die Nachhaltigkeit von Projektarbeiten, indem sie von Beginn an absichern hilft, dass ein Projekt in den Regelbetrieb übergehen kann.
hilft allen Mitarbeitenden, auch während des Projektverlaufs das eigentliche Projektziel zu sehen.
4 Wie schaffen wir einen Raum, um angstfrei über alle Hierarchieebenen hinweg Fehler wirkungsvoll ansprechen zu können?
Kritikfähigkeit ist über alle Hierarchieebenen hinweg gewollt, geübt und der Standard.
Kritik und Lob gehören wie Pausen zum Arbeitsalltag.
Kritik wird nicht personen-, sondern prozessorientiert praktiziert.
Voraussetzung ist eine Feedbackkultur, die vor allem von Führungskräften vorbildhaft gelebt werden wird.
Statt einen eben entdeckten Fehler zu behaupten oder Mitarbeitenden vorzuwerfen, formuliert die Führungskraft das Beobachtete als Frage an Mitarbeitende.
5 Woran erkennen wir, dass ein Projekt zu scheitern droht?
Wir achten auf erste Anzeichen wie:
Zunehmend ist zu hören „Man bekommt gar keine Informationen mehr!“
Die Häufigkeit der Meetings zu Projektbeginn mit allen relevanten Projektmitarbeitenden nimmt ab.
Die Projektzielvorstellungen in den Vorstellungen der Projektmitarbeitenden weicht zunehmend ab.
Bitten um Verschiebung von Fristen nimmt zu.
Der Gebrauch von Kraftausdrücken wie „Wir schaffen das!“ beginnt zu nerven.
Die Projektleitenden erhalten zunehmend weniger Fragen aus dem Projekt-Team.
Projektmitarbeitende wünschen, das Projektteam zu verlassen.
6 Was lassen wir, wenn Projekte absehbar scheitern werden?
Wir werden
prüfen, ob das Projektziel angepasst und so dennoch erfolgreich werden könnte.
keine weiteren Ressourcen für das ursprüngliche Projekt binden.
so schnell wie möglich das ursprüngliche Projekt beenden, um ein „Totreiten“ zu verhindern.
so schnell wie möglich uns vom ursprünglichen Projekt emotional lösen.
nicht nach den/die Schuldigen suchen, sondern nach Ursachen und Nutzen des Scheiterns.
verhindern, dadurch weniger mutig zu arbeiten und weiterhin eine Probierkultur zu pflegen.
7 Was tun wir, wenn Projekte gescheitert sind?
Wir starten eine
Fehleranalyse: An welchen Punkten liegen die Ursachen des Scheiterns (z. B. Ressourcen, Projektziel, Kompetenzen) und in welcher Phase ist das Problem aufgetreten? Das Ergebnis machen wir offen zugänglich, um Lerneffekte zu ermöglichen und zu zeigen: Scheitern ist normal.
Erfolgs- und Stärkenanalyse: Welche Dinge sind gut gelaufen und können für zukünftige Projekte genutzt werden?
Teamanalyse: Welche Kompetenzen und Rollen wurden wie eingenommen und waren für die jeweilige Person geeignet?
Offene Kommunikation: Wir gestehen angstfrei und offen zu, dass das Projekt nicht so wie erwartet erfolgreich verlief.
Nutzenanalyse: Was hat uns das Projekt dennoch genutzt? Worin hat es uns bestärkt? Was können und wollen wir für die künftige Projektarbeit bewahren?
8 Wodurch wird die Wertschätzung für schon lang existierende Services genauso spürbar wie für neue?
Dafür hilfreich sind
Nutzungsstatistiken und Rückmeldungen von Nutzenden zu solchen Services stets wach zu halten.
bei Dienstberatungen auch solchen Services und ihren Arbeitsprozessen Raum und Würdigung geben.
Unterstützung und Interesse an der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung solcher Services und Arbeitsprozesse, und es wird von der Bibliotheksleitung glaubwürdig kommuniziert.
About the authors

Jens Ilg

Dr. Oliver Renn
© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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