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Über die Bedeutung des Spaßfaktors in Forschungsprojekten – Ein Erfahrungsbericht

  • Jutta Bertram

    Prof. Dr. Jutta Bertram

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Published/Copyright: December 8, 2023

Zusammenfassung

Der Bericht bezieht sich auf ein Forschungssemester, das die Relevanz und Zukunft der Inhaltserschließung zum Gegenstand hatte. Er beschreibt den Verlauf des Semesters zwischen Wunsch und Wirklichkeit und erörtert Fehler, die in den verschiedenen Phasen des Projekts gemacht wurden. Aus der Beschreibung wird deutlich, dass Motivation, Leidenschaft und vor allem Spaß wichtige Voraussetzungen dafür sind, dass Forschung gelingt bzw. als gelungen erlebt werden kann.

Abstract

The report refers to a research semester that focused on the relevance and future of indexing and abstracting. It describes the course of the semester between desire and reality and discusses mistakes made in the different phases of the project. From the description it becomes clear that motivation, passion, and above all fun are important conditions for research to succeed or to be experienced as successful.

1 Das Forschungssemester

Zunächst die Fakten: Ich bin Professorin im Studiengang Informationsmanagement an der Hochschule Hannover; von Haus aus bin ich Soziologin. Zu meinen Lehrgebieten gehören unter anderem Empirische Nutzerforschung und Inhaltserschließung. Im Wintersemester 2020/21 hatte ich ein Forschungssemester, in dem ich mich eingehender mit der Frage befassen wollte, inwieweit (besonders die intellektuelle) Inhaltserschließung heute überhaupt noch relevant ist und wie sie sich künftig entwickeln wird. Dazu führte ich mit Expertinnen und Experten aus Hochschule und Berufspraxis leitfadengestützte Online-Interviews und wertete sie aus. Konzept, methodisches Vorgehen und Ergebnisse dokumentierte ich später in einem internen Forschungsbericht.

1.1 Was war meine Motivation?

Ich lehre die Inhaltserschließung seit nunmehr zwanzig Jahren und überlege schon länger, meine Lehrmaterialien dazu, die ich über diesen Zeitraum angesammelt und fortlaufend weiterentwickelt habe, in ein nachnutzbares (Buch-)Format zu überführen. Angetrieben wird diese Ambition von dem Verlag, bei dem ich vor einer gefühlten Ewigkeit ein Einführungsbuch zur Inhaltserschließung publiziert habe, und der bis vor einigen Jahren in regelmäßigen Abständen um eine neue Auflage ersuchte. Außerdem stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass es immer noch Menschen gibt, die dieses Buch kaufen oder mir rückmelden, dass sie es für ihre Arbeit hilfreich finden. Mir schwebte nun aber ein echtes Lehrbuch vor, mit deutlich abgespeckter Theorie, dafür angereichert mit selbsterklärenden Übungen und Musterlösungen. Es sollte Lehrenden ermöglichen, meine Lehrmaterialien umstandslos nachzunutzen; Studierende wiederum sollten damit in der Lage sein, sich den Stoff auch autodidaktisch anzueignen. Die Motivation, dieses Buch zu schreiben (ein Konzept und die ersten Kapitel existierten bereits) war ebenso groß wie die Zweifel, ob eine solche Publikation noch zeitgemäß wäre: Ist angesichts immer intelligenter werdender maschineller Erschließungsverfahren ein grundlegendes Verständnis intellektueller Inhaltserschließung wirklich noch nötig?

Außerdem hatte ich mich mit Inhaltserschließung Zeit meiner Berufsausübung an unterschiedlichen Hochschulen nur noch auf der Seite der Lehre auseinandergesetzt und mich von ihrer Praxis entsprechend weit entfernt. Auch deshalb schien es mir an der Zeit, die berufspraktische Relevanz dieses Fachs auszuloten, vor allem in seiner intellektuellen Ausprägung.

Neben dem normalen Lehrbetrieb fehlte mir die Zeit, diesen Fragen auf systematische Art nachzugehen. Somit lag es nahe, dafür ein Forschungssemester zu beantragen. Dabei freute ich mich auch auf die Aussicht, nach elf Jahren, in denen ich in Hannover durchgängig unterrichtet hatte, einfach mal eine Verschnaufpause von der Lehre zu haben und mich ganz auf eine Sache konzentrieren zu können.

1.2 Wie hätte ich mein Forschungssemester gern gefüllt? Wie habe ich es gefüllt?

Meine Forschungsfrage zur Relevanz der (intellektuellen) Inhaltserschließung beschäftigte mich also sowohl in Bezug auf meine Lehrtätigkeit als auch im Hinblick auf das geplante Lehrbuch. Als dann aber das Forschungssemester begann, hätte ich allen inhaltlichen Zweifeln zum Trotz am liebsten die gesamte Zeit auf die Weiterarbeit an dem Buch verwandt. Wie paradiesisch wäre es gewesen, sich einmal ganz auf die Arbeit an etwas konzentrieren zu können, das mir erstens großen Spaß macht und von dem ich mir zweitens einbilde, dass es mir liegt. Und wie weit hätte ich damit kommen können in sechs Monaten.

Stattdessen habe ich getan, was mir die Vernunft gebot, und die Untersuchung durchgeführt, für die ich schließlich auch das Forschungssemester beantragt und bewilligt bekommen hatte. Anders ausgedrückt: Ich beschäftigte mich nicht mit dem, was ich eigentlich tun wollte, sondern mit den Voraussetzungen dafür.

2 Die Fehler

Im Folgenden betrachte ich Fehler, die ich in meinem Projekt gemacht habe. Dabei handelt es sich weniger um „gute“ und lehrreiche Fehler als vielmehr um solche, die ich möglicherweise hätte vermeiden können, wenn ich mehr Spaß an der Sache gehabt hätte. Sie lagen im Wesentlichen in der Konzeption und Planung des Projekts, also dort, wo Fehler stets die weitreichendsten Konsequenzen haben.

2.1 Ich habe Fragestellung und Zielgruppe nicht konkret genug bestimmt

Die Fragestellung hat sich im Laufe der Interviews immer weiter verschoben: vom Stellenwert der Inhaltserschließung allgemein hin zu der Frage, wie maschinelle und intellektuelle Methoden aktuell und künftig so zusammenwirken können, dass die Vorteile beider Verfahren nutzbar werden. Mit einer weniger monumentalen Fragestellung zu Beginn hätte ich meine Zielgruppe konkreter umreißen können.

Denn ich wollte wissen, was Praktikerinnen und Praktiker zu meinem Thema zu sagen haben, und zwar vor allem jene aus den beiden Bereichen, die in Sachen Erschließungsmethoden Pionierarbeit leisten: Informationseinrichtungen und Medienanstalten. Zugleich schloss ich in meine Zielgruppe auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Hochschulbereich ein, die sich in Forschung und/oder Lehre mit Inhaltserschließung befassen. Mit dieser Teilgruppe, so dachte ich mir, könnte ich dann auch gleich Lehrerfahrungen austauschen. Dieser Zuschnitt hatte erhebliche Auswirkungen auf weitere Aspekte des Forschungsprojekts, die ich so nicht bedacht hatte: Er beeinflusste die Entwicklung des Leitfadens, die Freiheit bzw. Unfreiheit, mit der ich die Interviews führte, die Fülle der erhobenen Daten und die Vergleichbarkeit der Antworten.

Mit einer von vornherein konkreteren Fragestellung hätte ich innerhalb der Institutionen, die ich als Forschungskontexte auserkoren hatte, zudem meine Gesprächspartnerinnen und -partner gezielter auswählen können. Dadurch wären Interviews mit zwei oder drei Personen vermeidbar gewesen, die sich im Vergleich zu den Einzelinterviews als weniger ergiebig erwiesen. Denn in diesen Interviews war ich vor allem darum bemüht, allen Befragten ungefähr gleich viel Raum zu geben bzw. die unterschiedlichen Räume auszutarieren, die sich die Befragten selbst nahmen. Dies ging letztlich zulasten der inhaltlichen Substanz und ließ in den Interviews kaum die Möglichkeit für vertiefende Nachfragen.

2.2 Ich habe die Literaturrecherche im Vorfeld vernachlässigt

Was predige ich meinen Studierenden stets? Keine Empirie ohne Theorie. Selbstredend enthielt der Antrag für das Forschungssemester eine für diesen Zweck in Quantität und Qualität angemessene Literaturliste, aber für die Interviews erwies sich diese Basis als nicht ausreichend. Die zu wenig differenzierte Recherche war teilweise ein Reflex meiner zu wenig fokussierten Fragestellung, die erst im Laufe des Forschungssemesters an Profil gewann, zugleich war sie natürlich aber auch Ursache dafür. Zeitmangel in der Phase der Antragstellung und dass ich nicht richtig brannte für mein Vorhaben, waren dafür maßgeblich verantwortlich. Als Folge sichtete ich nicht nur parallel zur Datenerhebung, sondern auch noch während der Datenanalyse Quellen und wertete sie aus, womit die Quellenbasis am Ende teilweise den Charakter einer Ex-post-Legitimation annahm.

2.3 Ich habe einen überladenen Interviewleitfaden entwickelt

Eine Folge meines diffusen Erkenntnisinteresses war ein überladener Interviewleitfaden. Beispielsweise schlichen sich durch den unzureichenden Fokus auf Nice-to-know-Elemente in den Leitfaden ein (etwa der kollegiale Austausch über Lehrerfahrungen, der zur eigentlichen Untersuchungsfrage wenig beitragen konnte, so interessant er auch war). Zudem hatte ich im Vorfeld verschiedene Varianten des Leitfadens produziert (eine summarische als Vorabinformation für die zu interviewenden Personen, eine ausführliche für den Einsatz im Interview selbst, Fragevarianten je nach Subgruppe). Dies erwies sich in der Praxis als aufwendig, fehleranfällig und umständlich, sodass ich mich wiederholt in den verschiedenen Versionen verhedderte. Insgesamt bescherte es mir die lehrreiche Erfahrung, wie eine zu hohe Komplexität den eigentlichen Sinn eines Leitfadens, nämlich dem Gespräch Orientierung und Struktur zu geben, ins Gegenteil verkehrt. Wirklich systematisch habe ich nur die ersten und letzten Fragen gestellt, ansonsten die Interviews weitgehend frei geführt. Dies hat der inhaltlichen Substanz im Großen und Ganzen sicher nicht geschadet, minderte aber die Vergleichbarkeit der Antworten, die durch meine unterschiedlichen Zielgruppen ohnehin schon eingeschränkt war.

2.4 Ich war als Interviewerin innerlich nicht frei

Angesichts der Überschaubarkeit der Fachcommunity führte der Zuschnitt meiner Zielgruppe dazu, dass ich zu meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern teilweise nicht die nötige Distanz hatte. Die Personen aus der Berufspraxis konnte ich innerlich weitgehend frei interviewen, waren sie mir doch kaum oder gar nicht bekannt. Bei den Hochschulangehörigen indes handelte es sich quasi um Kolleginnen und Kollegen. Diese Nähe hemmte mich beim Interviewen eher, als dass sie dafür förderlich war (und das hätte ich vorhersehen können und müssen). Gefühlt bewegte ich mich dabei auf einem schmalen Grat von Kooperation und Konkurrenz, stets mit der Befürchtung, es könnte sich zeigen, dass die Interviewten in der Sache kompetenter sind als ich oder dass ich auf das Gespräch mit ihnen unzureichend vorbereitet bin. Und beides hat sich zum Teil auch bestätigt.

2.5 Ich habe eine offene Methode praktiziert, ohne wirklich offen zu sein

Ein weiteres Problem betraf die innere Haltung, mit der ich die Interviews führte: Wollte ich das, was ich zum Gegenstand meiner Interviews machte, wirklich wissen? Hing nicht mein Herz an der intellektuellen Inhaltserschließung, sie zu praktizieren wie auch zu lehren? Wollte ich im Worst Case wirklich erfahren, dass sie für obsolet erklärt wird? (Was im Übrigen keine der interviewten Personen tat, selbst die entschiedensten Verfechterinnen und Verfechter maschineller Verfahren vertraten eine solche Ansicht – noch – nicht.) Nicht zuletzt fürchtete ich die Konsequenzen für mein Lehrprofil: Bewährte Lehrveranstaltungen würden möglicherweise ebenfalls obsolet; was würde an ihre Stelle treten?

Am Ende der Datenerhebungsphase durfte ich aber noch erleben, wie es ist, Interviews innerlich frei und offen zu führen (gerade deshalb kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich es vorher nicht war). Freier wurde ich in dem Maße, wie die Interviewten von meinem eigenen beruflichen Umfeld entfernt waren. Offener und gelassener wiederum wurde ich, je mehr Interviews ich führte. In meinen letzten Interviews kam beides zusammen, ab da begann mir die Sache richtig Spaß zu machen: Ich sprach mit zwei Personen (nacheinander, wohlgemerkt, ich hatte mittlerweile ja dazugelernt), die weder in Hochschulen noch in Medienanstalten oder Bibliotheken beheimatet sind, sondern im Bereich Patentinformation arbeiten, wo vollständige und präzise, gezielte und schnelle Recherchen eminent wichtig sind. Solche Recherchen wiederum setzen effektiv erschlossene bzw. erschließbare Ressourcen voraus. Hier musste ich nicht selbst Expertin sein, brauchte also auch nicht über etwaige eigene Wissensdefizite nachzudenken. Zudem konnte ich potenzielle Konsequenzen der Ergebnisse für meine Arbeit mittlerweile gut ausblenden und mich dadurch viel besser auf die Gespräche einlassen.

2.6 Ich habe mehr Daten erhoben, als ich auswerten konnte

Mein Forschungsdesign war nicht hinreichend auf die Rahmenbedingungen abgestimmt. So dämmerte mir im Verlauf der Datenerhebung allmählich, dass es mir nicht gelingen würde, mein Projekt innerhalb des Semesters zu Ende zu bringen: Die von mir erhobenen Daten waren zu umfangreich, um sie in der verfügbaren Zeit noch auswerten zu können – auch dies letztlich eine Folge meiner mangelnden Fokussierung. Als ich das Forschungssemester krankheitsbedingt dann auch noch früher als vorgesehen beenden und die Auswertung zu einem späteren Zeitpunkt parallel zur normalen Lehrtätigkeit wieder aufnehmen musste, fehlte mir sowohl die Motivation als auch die Zeit, um die Ergebnisse so aufzubereiten, dass sie für die Fachwelt einen Nutzen bringen können.

3 Die Bilanz

3.1 Hätte ich es besser machen können? Hätte ich es besser machen müssen?

Zweimal ja. Ich könnte natürlich für mich in Anspruch nehmen, dass ich auch als Soziologin nicht in allen Methoden gleichermaßen zuhause sein kann und im Studium ausschließlich mit quantitativen Methoden in Kontakt gekommen war. Fehler beim Einsatz einer qualitativen Erhebungstechnik sind vor diesem Hintergrund kein Drama. Man soll ja schließlich etwas lernen im Forschungssemester, auch jenseits der Aspekte, auf die man fokussiert ist. Aber geht es hier nicht wesentlich um methodenunabhängige Fehler – die zu vermeiden ich meinen Studierenden seit eh und je ans Herz lege? Davon abgesehen hatte ich mich für meine Dissertation problemlos auf diese Methode einlassen können. Oder neige ich im Nachhinein zur Verklärung? Damals fand ich die Methode, vor allem ihre Offenheit, überaus charmant, gerade auch im Vergleich zu der quantifizierenden Onlinebefragung, die ihr vorausging.[1] Warum fielen mir die Interviews damals so leicht und dieses Mal so schwer?

Weil es mir Spaß gemacht hat, weil ich frei und offen war, und vielleicht auch, weil ich damals Präsenzinterviews führte: Ich hatte Freude daran, meine Gesprächspartnerinnen und -partner an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen, dadurch fremde Orte kennenzulernen und unbekannte Unternehmen auf mich wirken zu lassen. Und sicher spielte auch eine Rolle, dass ich damals nicht unter dem Druck stand, in den Interviews als Expertin auftreten zu müssen. Ein Effekt meines Forschungssemesters ist somit, dass es die Leichtigkeit entselbstverständlicht hat, mit der ich die Methode der qualitativen Befragung im Rahmen meiner Dissertation angewendet habe.

3.2 Kann ich mildernde Umstände für mich in Anspruch nehmen?

Bei der Konzeption des Forschungsprojekts sowie der Beantragung und Organisation des Forschungssemesters spielte in jedem Fall strukturell bedingter Zeitmangel eine Rolle. Als Hochschullehrende sollen wir gute Lehre machen, uns in der Selbstverwaltung engagieren, aktiv Networking betreiben und mit Forschung sichtbar werden. Auf allen Ebenen gleichermaßen gut zu performen, ist angesichts von 18-SWS-Lehre aber nicht realistisch, irgendetwas bleibt immer auf der Strecke. Man muss ebenso Mut zur Lücke haben wie Abstriche an den eigenen Ansprüchen machen und Prioritäten setzen.

Außerdem frage ich mich, ob „Forschung“ nicht weiter ausgelegt werden könnte und müsste, als es üblicherweise geschieht. Vielleicht hätten am Ende mehr Personen davon profitiert, wenn ich nachnutzbare Lehrmaterialien zu den Basics der Inhaltserschließung entwickelt hätte, als von dem, was ich tatsächlich untersucht habe. Aber statt mit dem eingeschränkten Verständnis von dem zu hadern, was als Forschung zu gelten hat, hätte ich vielleicht offensiver und mit mehr Phantasie versuchen sollen, das Projekt so zuzuschneiden, dass ich mich damit wohler gefühlt hätte und ich stärker motiviert gewesen wäre – zum Beispiel, indem ich den etwaigen Bedarf an Open Educational Resources für die Inhaltserschließung ermittelt hätte.

Zugleich kann sozial isolierte Forschung, wie sie in Forschungssemestern häufig stattfindet, Motivationsproblemen ebenso Vorschub leisten wie Fehlern im Forschungsdesign. Gute Erhebungsinstrumente etwa lassen sich meiner Überzeugung nach nur im Team entwickeln – auch das einer der Grundsätze, die ich nicht müde werde, meinen Studierenden zu vermitteln. Andere Zuschnitte eines Forschungssemesters sind gewiss denkbar (z. B. einem bereits existierenden Forschungsteam zuzuarbeiten oder mit einer weiteren Person zeitgleich in ein Forschungssemester zu gehen), wären aber wohl mit noch mehr organisatorischem Aufwand verbunden, als es ohnehin schon der Fall ist. Ebendiese organisatorischen Hürden ließen mich lange davor zurückschrecken, überhaupt ein Forschungssemester zu beantragen.

3.3 Konnte die Fachcommunity von meinem Forschungssemester profitieren?

Nein, denn dazu hätte ich die Ergebnisse natürlich in die Öffentlichkeit tragen müssen. Dafür war es erst zu früh und dann zu spät: In einer frühen Phase des Projekts – ich befand mich noch mitten in der Datenerhebung – bewarb ich mich für einen Beitrag auf der ISI[2] 2021, der abgelehnt wurde. Die Begründung der Gutachtenden vermittelte meiner Erinnerung nach den (durchaus zutreffenden) Eindruck, dass meine Skizze des Ergebnispotenzials etwas halbherzig und lieblos geraten war. Und als ich mein Projekt krankheitsbedingt unterbrechen musste und die Datenauswertung dann nach über einem halben Jahr wiederaufnahm, war es zu spät – da konnte ich mich wie schon gesagt nicht mehr zu einer Publikation der Ergebnisse überwinden. Stattdessen verwandte ich meine Energie darauf, einen halbwegs ordentlichen Forschungsbericht abzufassen (den vermutlich nie irgendjemand lesen wird), um das Forschungsfreisemester gegenüber der Hochschule und vor meinem Gewissen zu legitimieren.

Am Ende bedauere ich es, meine Ergebnisse nicht publiziert zu haben. Denn das Forschungsprojekt hat Aspekte zutage gefördert, die ich gern in eine breitere Öffentlichkeit getragen und zur Diskussion gestellt hätte – nicht nur, aber auch aus dem Bedürfnis heraus, den Befragten eine Stimme zu geben und ihnen auf diese Weise für ihre Mitwirkung zu danken. Beispielsweise hat mich ihre Frustration und Ermüdung berührt, die daraus folgt, dass sie gleichsam jeden Tag aufs Neue die Existenzberechtigung der Inhaltserschließung, wenn nicht gar ihre eigene (berufliche, versteht sich) unter Beweis stellen müssen.[3] Ich hätte gern geschildert, unter welchem Rationalisierungs- und Effizienzdruck sie bei Erschließungsarbeiten (egal mit welcher Methode) stehen und welche Folgen es ihrer Erfahrung nach hat, wenn Ressourcen gar nicht mehr oder nur noch rudimentär erschlossen werden. In den Interviews wurde auch deutlich, wie schwierig der Spagat ist, der ihren Berufsalltag prägt: einerseits immer mehr Ressourcen dokumentarisch aufbereiten zu müssen und dafür andererseits immer weniger Kapazitäten zu haben. Ich hätte gern dargestellt, wie viele unterschiedliche Modelle eines Zusammenspiels von maschineller und intellektueller Erschließung ich kennengelernt habe und wie viel Synergien es hervorbringen kann. Es war auch interessant zu erfahren, welche Kapazitäten mit maschinellen Verfahren gewonnen werden und wofür man sie verwenden kann. Und ich hätte gern Fälle sichtbar gemacht, wo weder maschinell noch intellektuell generierte Metadaten weiterhelfen, sondern eigentlich nur noch die anfrageorientierte Erschließung. Als jemand, die Inhaltserschließung im Kontext von Medienanstalten praktiziert hat, hätte ich zudem gern einmal zur Diskussion gestellt, ob klassische Informationseinrichtungen einerseits und Medienanstalten andererseits, die ich als recht getrennte Welten erlebe, auf dem Gebiet der Erschließung nicht stärker kooperieren könnten: Für beide Seiten sind schnell und gezielt auffindbare Ressourcen existentiell wichtig, beide decken ein breites Themenspektrum ab, und beide leisten Pionierarbeit in Sachen Inhaltserschließung, gerade beim Einsatz maschineller Verfahren.

3.4 Konnte ich selbst von meinem Forschungssemester profitieren?

Hat mir das Forschungssemester ein gutes Gefühl gegeben und mir den erhofften Raum verschafft, mich einmal ganz auf eine Sache zu konzentrieren? Nicht wirklich. Ein gewisses Unbehagen begleitete mich schon bei der Antragstellung. Ich wusste, was ich schreiben musste, damit es mir als „Forschung“ anerkannt und folglich bewilligt werden würde. Meine emotionale Distanz zu diesem Vorhaben illustriert jedoch der Umstand, dass ich beim Lesen meines eigenen Antrags immer das Gefühl hatte, ich läse ein fremdes Elaborat, mit dem ich selbst eigentlich nichts zu tun habe. Als Konsequenz blieb mir mein Projekt äußerlich. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich das tue, was ich tun will; vielmehr tat ich etwas, das ich meinte, tun zu müssen. Dabei fand ich die Untersuchung selbst inhaltlich wie methodisch durchaus interessant – nur schlug eben mein Herz im Grunde für etwas anderes. Als eine Folge davon war das Projekt über die gesamte Laufzeit hinweg von Prokrastination geprägt. Ich brauchte zu lange dafür, mit der Umsetzung des Vorhabens zu beginnen, und auch zu lange dafür, es abzuschließen. Nach dem Projektabschluss ließ mich das Gefühl des Scheiterns noch länger nicht los.

Habe ich heute weniger Zweifel, ob es noch sinnvoll ist, Ressourcen in die Grundlagen der Inhaltserschließung und deren intellektuelle Umsetzung zu stecken? Nein, die Unsicherheit darüber ist nach dem Forschungssemester genauso groß wie zuvor. Im Grunde spiegelt meine Befindlichkeit exakt diejenige wider, die ich bei meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern wahrgenommen habe oder wahrzunehmen meinte: dass man es besser nicht an die große Glocke hängt, wenn man sich weiter mit intellektueller Inhaltserschließung beschäftigt, und dass man vorsorglich schon mal eine gute Legitimation dafür bereithält.[4]

Aber natürlich gibt es auch positive Effekte: Zunächst einmal kann ich meinen Studierenden in der empirischen Nutzungsforschung nun noch anschaulicher als zuvor vermitteln, dass sich die theoretische Donʼts der Methode in der Praxis tatsächlich „bewähren“. Im Bereich Inhaltserschließung wiederum kann ich die Lehre mit einigen Anekdoten der interviewten Personen illustrieren. Auch in die Curriculumsrevision sind Erkenntnisse aus meinen Interviews eingeflossen. Beispielsweise werden wir neben intellektueller Inhaltserschließung einerseits sowie Text Mining und Data Mining andererseits auch eine Lehrveranstaltung für die maschinelle Inhaltserschließung in das neue Curriculum unseres Studiengangs aufnehmen und das Thema Metadatenmanagement ausbauen.

3.5 Welche Lehren ziehe ich daraus?

Sollte mir nach dieser Selbstoffenbarung jemals wieder ein Forschungssemester bewilligt werden, dann ist meine Prämisse dafür: Was immer ich zum Forschungsgegenstand küre – ich muss mit Herz, Leidenschaft und Engagement dabei sein können. Denn: Forschung muss selbstbestimmt sein. Forschung muss offen sein. Forschung muss Spaß machen. Nur dann kann sie befriedigend für mich und nutzbringend für die Fachcommunity sein.


Im vorliegenden Bericht schildere ich zunächst den Gegenstand des betreffenden Forschungssemesters und meine Motivation dazu. Im Anschluss beleuchte ich Fehler, die mir in den einzelnen Projektphasen unterlaufen sind, und ihre Folgen. Abschließend bilanziere ich den Nutzen des Semesters und das, was ich aus dieser Erfahrung gelernt habe.


About the author

Prof. Dr. Jutta Bertram

Prof. Dr. Jutta Bertram


Postskriptum

Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal bei allen Personen aus der LIS-Community, den Medienanstalten und der Patentinformation, die mir bereitwillig, geduldig und engagiert Rede und Antwort gestanden haben. Und ich bitte sie darum, diesen Bericht keinesfalls als Aussage über das zu verstehen, was sie zu meinem Projekt beigetragen haben, sondern als eine Aussage über mich selbst. Insbesondere die Personen aus Lehre und Forschung mögen in diesem Bericht bitte keinen Mangel an Wertschätzung sehen.


Published Online: 2023-12-08
Published in Print: 2024-04-30

© 2023 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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