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Nie zu Ende: Professionelle Dilemmata im Bibliotheksberuf

  • Ulla Wimmer

    Ulla Wimmer

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Published/Copyright: January 11, 2024

Zusammenfassung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Dilemma-Situationen, die typisch für einen Berufsstand, eine Profession sind. Zunächst wird erklärt, inwiefern die Beschäftigung mit Dilemmata hilfreich für die Berufspraxis sein kann. Dann wird definiert, worin ein Dilemma allgemein besteht und was ein professionelles Dilemma im Besonderen ist. Es werden professionelle Dilemmata des Bibliotheksberufs skizziert, und zwar aus den Bereichen Management, Pädagogik und den spezifischen Werten des Bibliotheksberufs selbst. Am Ende gibt es Hinweise darauf, wie mit – eigentlich unauflösbaren – Dilemmata umgegangen werden kann. Als Instrument zur Darstellung und Analyse von Dilemmata wird das Wertequadrat von Schulz von Thun genutzt.

Abstract

This article deals with dilemma situations that are typical for a profession. First, it is explained how dealing with dilemmas can be helpful for professional practice. Second, dilemma is defined in general and professional dilemma in particular. Professional dilemmas of the library profession are outlined, from the areas of management, pedagogy, and some that arise from the specific values of the library profession itself. At the end, there are hints on how to deal in practice with dilemmas that are – in fact – irresolvable. Schulz von Thun’s “Wertequadrat” is used as an instrument for the visualization and analysis of dilemmas.<fnote>Mithilfe von www.DeepL.com/Translator (free version) übersetzt.</fnote>

1 Worum geht es in diesem Text?

Montag, 9 Uhr: Im Posteingang der Lektorin liegen die Benachrichtigungen zur neuen o-bib-Ausgabe, die Newsletter der Stadtverwaltung, des dbv und der regionalen Fach-AG Öffentlichkeitsarbeit. Auf dem Schreibtisch stapeln sich das neue Heft von BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis, die aktuelle BuB und der Bibliotheksdienst mit einem Beitrag zur Klartextsystematik. Um fachlich am Ball zu bleiben, muss sie diese Informationen und Fachpublikationen zumindest scannen, die wichtigsten Beiträge lesen. Ebenfalls im Posteingang sind die Krankmeldung einer Kollegin, ein unbearbeiteter Nutzungsfall und die Erinnerung an die Deadline für den Jahresbericht. In einer halben Stunde beginnt ihr Informationsdienst und heute Nachmittag wird sie in der Lektoratsrunde das Konzept für die neue Klartextsystematik vorstellen. Um professionell zu arbeiten, muss sie einerseits fachlich am Ball bleiben (= die Fachliteratur lesen) und andererseits die aktuellen fachlichen Aufgaben erledigen (= nicht lesen). Egal, für welche Option sie sich entscheidet, sie wird einer der Anforderungen nicht gerecht werden.

Das Beispiel zeigt ein kleines, aber hartnäckiges Dilemma, vor dem Mitarbeiter*innen in Bibliotheken häufig stehen. In diesem Text möchte ich solche und ähnliche Situationen genauer analysieren. Zunächst werde ich erklären, warum es sinnvoll ist, sich mit Dilemmata zu beschäftigen. Es folgen grundsätzliche Überlegungen zu Dilemmata und zu professionellen Dilemmata. Später werde ich einige Dilemmata beschreiben, die ich für die Bibliotheksprofession als „konstitutiv“ einschätze. Am Ende geht es darum, wie man mit unauflösbaren Widersprüchen im professionellen Handeln umgehen kann. Ich interpretiere und kombiniere dafür vorhandene Texte, arbeite also texthermeneutisch.

2 Warum ist das wichtig? Wobei kann das helfen?

Mehr Klarheit über professionelle Dilemmata kann zunächst eine Entlastung im Arbeitsalltag bewirken. Es steckt eine gewisse Befreiung in dem Wissen, dass eine als schwierig oder ausweglos wahrgenommene Entscheidungssituation nicht auf persönlichem Unvermögen beruht, dass man die einfache Lösung für das wiederkehrende Problem nur noch nicht erkannt hat, sondern dass es sich um eine professionstypische Situation handelt, die auf tieferliegenden Strukturen und Wertekonflikten beruht, die im Grundsatz unvereinbar sind. Die Erkenntnis, dass man es in dieser Situation „nur falsch machen“ kann, nimmt den Druck von der persönlichen Leistung und ermöglicht eine distanziertere Betrachtung des Problems.

Es entsteht zum Zweiten eine größere Klarheit bei der Diagnose einer schwierigen Entscheidung oder eines Konflikts – sei es nun ein intrapersonaler Konflikt wie bei der Lektorin aus dem Beispiel oder ein Konflikt innerhalb eines Teams oder einer Organisation. Eine typische Dilemmasituation zu erkennen, erleichtert die Einordnung des Problems, um dann schneller handlungsfähig werden zu können. Darüber hinaus kann das unten vorgestellte Instrument des „Wertequadrats“ dabei helfen zu benennen, worum es in einem akuten Konflikt im Kern geht, um ihn dann besser bearbeiten zu können.

Zum Dritten kann das Bewusstsein um typische Dilemmata die Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten Situation erweitern: Sei es, dass man die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen schneller abrufen kann, sei es, dass es gelingt, sich souveräner in der Situation zu bewegen und zu entscheiden, wie man sich darin verhalten will: Welche Optionen gibt es, in welche Richtung will man sie diesmal ausbalancieren oder will man versuchen, die Rahmenbedingungen der dilemmatischen Situation zu verändern?

3 Was ist ein Dilemma?

Ein Dilemma im Sinne der vorliegenden Arbeit ist eine konkrete Situation, in der es zwei (oder mehr[1]) gleichwertige, aber gegensätzliche Werte gibt, die verfolgt werden, zwei1 gleichwertige Ziele, die erreicht, zwei1 Anforderungen, die erfüllt, oder zwei1 Regeln, nach denen gehandelt werden soll. Die handelnden Personen können dabei in einer bestimmten Situation nur einem der beiden Werte gerecht werden. Entscheiden sie sie sich für Wert A, wird Wert B verletzt oder ignoriert und umgekehrt.

Für diese Entscheidungssituationen gelten nach Blessin und Wick[2] folgende Bedingungen:

  • Die beiden Handlungsmöglichkeiten sind gleichwertig: Beides – „fachlich am Ball bleiben“ und „die tägliche Arbeit schaffen“ – ist für das professionelle Arbeiten notwendig.

  • Die beiden Handlungsmöglichkeiten schließen sich im gegebenen Rahmen gegenseitig aus: Ich kann nur entweder lesen oder Dinge erledigen, nicht beides gleichzeitig.

  • Die Rahmenbedingungen dieser Situation können nicht kurzfristig geändert werden, ich muss mich entscheiden (die Deadlines sind vereinbart, der Dienstplan steht, die Arbeitszeit ist festgelegt, der Tag hat 24 Stunden)

  • Es handelt sich um eine konkrete Entscheidungssituation – beide Anforderungen können theoretisch problemlos vereinbar sein, in der morgendlichen Situation führen sie jedoch zu einem Dilemma.

In einer konkreten Handlungssituation entsteht aus einem Dilemma ein Paradoxon: Jede gewählte Handlung ist gleichzeitig richtig und falsch. Im angelsächsischen Raum wird der Begriff „paradox“ daher teilweise synonym mit dem des Dilemmas gebraucht.[3] Ein Paradoxon liegt vor, wenn mehrere für sich richtige (wahre) Sachverhalte zu einem Widerspruch führen, sobald man sie verbindet. („Die Bibliothek soll stets aktuellen Nutzerbedürfnissen entsprechen.“ „Die Bibliothek soll eine beständige Infrastruktur bieten.“ „Die Bibliothek soll sich laufend verändern UND beständig sein“ Diese Aussage ist paradox.)[4]

Im Alltag werden Dilemmata häufig als „lose-lose-Situationen“ wahrgenommen: Egal, wie man handelt, es wird subjektiv „falsch“ sein, man wird einer Verpflichtung nicht nachkommen oder eine Option verpassen. Entscheidend ist aber, dass im Mittelpunkt des Entscheidungskonflikts zwei positive Werte stehen, die beide gleichwertig angestrebt werden, zwei Dinge, die man beide erreichen will („fachlich am Ball bleiben“, „die aktuellen Aufgaben lösen“). Der Konflikt entsteht nicht durch die Unvereinbarkeit von zwei unerwünschten, sondern von zwei erwünschten Optionen.

Selbstverständlich ist die Reduktion eines Problems auf wenige Pole eine Perspektive, die vieles ausblendet. Die Beschreibung eines Konflikts als Di-(Tri-, Tetra-)lemma kann auch als ein Denkmuster betrachtet werden, um ein Problem zu strukturieren und auf seine wesentlichen Züge zu reduzieren. In der Philosophie gibt es eine lange Diskussion darüber, ob es letztlich unauflösbare Dilemmata überhaupt gibt oder ob sie sich nicht doch alle bei intensiver gedanklicher Analyse auflösen lassen.[5] Diese Einwände können bei der Beschäftigung mit Dilemmata produktiv genutzt werden: In einer konkreten, aber diffusen Konfliktsituation (innerhalb eines Teams oder innerhalb einer Person) kann die Verengung des Problems auf 2–3 „Pole“ den Kern des Konflikts sichtbar machen und daher hilfreich bei der Lösung sein. In einer Situation, in der sich die Akteur*innen gefangen im Zwiespalt zwischen zwei Optionen fühlen, kann es handlungserweiternd sein, die Natur des Dilemmas infrage zu stellen: Ist der Blick darauf vielleicht unnötig verengt? Ergibt sich, mit etwas Abstand und gründlicher Analyse, eine andere Perspektive? Können z. B. langfristig doch Rahmenbedingungen geändert werde oder gibt es eine 3. oder 4. Option, die noch nicht gesehen wurde? Im Eingangsbeispiel könnte die Kollegin die Rahmenbedingungen dadurch verändern, dass sie sich entschlösse, die Fachliteratur in ihrer Freizeit zu lesen. Die Rahmenbedingung, dass der Tag 24 Stunden hat, könnte sie aber nicht verändern, was ggf. zu neuen Dilemmata führen würde.

Wird ein Werte- oder Zielkonflikt zu strategischen Zwecken absichtlich argumentativ zugespitzt oder extrem polarisiert und werden dabei Differenzierungen und Alternativen bewusst ausgeblendet, dann spricht man von einem „falschen Dilemma“[6] („Es gibt nur ganz oder gar nicht.“ „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“), das als rhetorische Waffe in Auseinandersetzungen eingesetzt wird.

Ethische Dilemmata betreffen grundlegende Werte mit langer zeitlicher Gültigkeit (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde) und treten daher über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg immer wieder auf. In der Bibliothekswissenschaft konzentriert sich eine Reflexion über Dilemmata bisher weitgehend auf den Ethik-Bereich.[7]

Manche Dilemmata sind für einen Gegenstand konstitutiv, d. h., sie sind untrennbar mit seinen zentralen Werten oder Eigenschaften verbunden und ließen sich nur auflösen, wenn man ihm eine dieser Eigenschaften nähme. Als Beispiel sei hier das sogenannte „demokratische Dilemma“ genannt, das untrennbar zu Demokratien gehört: Sie haben einerseits den Anspruch, größtmögliche politische und individuelle Freiheit zu ermöglichen, andererseits müssen sie diese Freiheiten aber immer wieder einschränken, um ihre eigene Abschaffung durch antidemokratische Kräfte zu verhindern.[8]

3.1 Was ist ein professionelles Dilemma?

Es gibt Dilemmata, die aus den spezifischen Werten, Zielen und Anforderungen hervorgehen, die sich ein Berufsstand, eine Profession gewählt hat. Der Soziologe Fritz Schütze[9] hat diese professionellen Dilemmata für das Feld der Sozialen Arbeit untersucht. Schütze beschreibt derartige Dilemmata als konstitutiv für einen Beruf. Als Beispiel wählt er das professionelle Ziel der Sozialpädagogik, die Klient*innen zur selbständigen Bewältigung ihres Alltags zu befähigen. Aus diesem Ziel entsteht das Dilemma, dem Klient*innen die Lösung eines Alltagsproblems „vorzumachen“ (und sie ihm damit abzunehmen) oder den Klient*innen zu Selbständigkeit zu „trainieren“ und damit ggf. zu riskieren, dass die Aufgabe misslingt.[10] Greift die/der Sozialpädagog*in einmal zu wenig ein, kann das die Klient*innen so entmutigen, dass sie/er aufgibt oder gar Schaden nimmt. Löst sie/er das Dilemma aber zu oft in Richtung „Vormachen/Abnehmen“ auf (die schnelle, effiziente Variante), leidet das Lernziel „Selbständigkeit“ und damit das professionelle Ziel ihrer/seiner Arbeit.

Unerfahrene Personen werden versuchen, diese Situationen durch einfache Regeln grundsätzlich zu „klären“. Eine ausgereifte Professionalität, so Schütze, zeigt sich darin, dass die handelnde Person das berufstypische Dilemma erkennt, um die Ambivalenz der Situation weiß, das Unbefriedigende erträgt und nicht vorschnell Prinzipien anwendet. Vielmehr gehört es zum professionellen Umgang damit, ein mögliches Scheitern des/der Klient*in auszuhalten und doch situativ zu entscheiden, an welchem Punkt eingegriffen werden muss. Dieser Punkt kann je nach Situation früher oder später kommen, die/der Pädagog*in handelt also „inkonsequent“.

Ein „professionelles Dilemma“ ist also eines, das aus den Werten und Normen entsteht, die sich ein Berufsstand gegeben hat, die (in unserem Fall) aus der Rolle hervorgehen, die die Bibliothekar*innen in der Gesellschaft einnehmen, aus den Zielen, die sie sich gewählt haben und aus den Aufgaben, die sie erfüllen wollen. Ein Beispiel wäre der professionelle „Wert“ eindeutiger bibliografischer Identifizierung von Medien (konkret: korrekte Formalerschließung und dublettenfreie Datenbanken) oder der „Wert“ eines nutzungsorientierten Bestandsaufbaus. Professionelle Dilemmata werden über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichen aktuellen Erscheinungsformen immer wieder auftauchen, weil sie eben zur (Werte-)„Konstitution“ des Berufs gehören.

Abb. 1:  Das Wertequadrat nach F. Schulz von ThunSchulz von Thun (2010) 13.
Abb. 1:

Das Wertequadrat nach F. Schulz von Thun[11]

Bevor ich einige häufige Dilemmata im Bibliotheksbereich beschreibe, führe ich ein Instrument ein, das die Darstellung und Analyse von Dilemmata erleichtert.

3.1.1 Das Wertequadrat nach Friedemann Schulz von Thun als Darstellungs- und Analyseinstrument für Dilemmata

Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun (SvT) hat zur Bearbeitung kommunikationspsychologischer Fragen das sogenannte „Wertequadrat“ entworfen. SvT bezeichnet es als eine „Anleitung zum dialektischen Denken“.[12] Man kann das Wertequadrat auch nutzen, um eine dilemmatische Situation genauer zu analysieren und ihre Komponenten sichtbar und damit bearbeitbar zu machen.

Die Grundannahme besteht darin, dass es zwei positive Werte oder auch Ziele gibt, die miteinander verbunden sind, sich aber gleichzeitig auch widersprechen: „Jeder Wert kann nur dann für das Leben konstruktiv werden, wenn er sich in einer Balance zu einer komplementären ‚Schwestertugend‘ befindet.“[13] Beide Werte sollen erreicht werden, erfordern aber gegensätzliches Handeln oder schließen sich sogar gegenseitig aus. SvT verwendet als Beispiel die Werte „Sparsamkeit“ und „Großzügigkeit“. Beide Ziele/Werte sind erstrebenswert: Man möchte sparsam UND großzügig sein. Wird jedoch ein Wert übertrieben oder nur einer der Werte verfolgt und der andere vernachlässigt, dann schlägt er um in einen „Zerrwert“ oder „Gegenwert“: Aus Sparsamkeit wird Geiz und aus Großzügigkeit wird Verschwendung. Wer zu sehr in Richtung Verschwendung tendiert, muss dann wieder Richtung Sparsamkeit streben; wessen Sparsamkeit an Geiz grenzt, muss sich wieder in Großzügigkeit üben. Dies wird durch die diagonalen Pfeile dargestellt. Anders als bei der eher statischen Vorstellung einer „goldenen Mitte“[14] ergibt sich daraus eine Dynamik: „Das anzustrebende Ideal ist jetzt nicht mehr als Mittelpunkt zwischen zwei Extremen definiert, sondern als dynamische und dialektische Balance zwischen zwei positiven Qualitäten.“[15]

Das Wertequadrat kann genutzt werden, um die einem Konflikt zugrundeliegenden Dilemmata sichtbar zu machen, insbesondere um in einer scheinbaren „lose-lose“-Situation die positiven Werte zu identifizieren, um die es im Kern geht. Das Eingangsbeispiel könnte z. B. folgendermaßen aussehen (Abb. 2). Entscheidend dabei ist das „UND“, das die beiden positiven Werte verbindet und damit die Perspektive vom ausweglosen „Entweder/Oder“ löst.

Abb. 2:  Wertequadrat für das Dilemma „Lernen“ vs. „Leisten“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von ThunSchulz von Thun (2010) 13.)
Abb. 2:

Wertequadrat für das Dilemma „Lernen“ vs. „Leisten“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von Thun[16])

Ein Beispiel für die Anwendung des Wertequadrats in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft beschreiben Wolf und Leppla anhand der Entwicklung von Forschungsdaten-Services an einer Universitätsbibliothek.[17] Die beiden positiven Komplementärwerte, die hierbei identifiziert wurden, sind Freiheit (der Forschung) und Struktur (im Forschungsprozess). Es muss darauf geachtet werden, die beiden positiven Werte auszubalancieren, damit sie nicht in ihre Zerrwerte „kippen“. Diese sind (für Freiheit) Chaos und (für Struktur) Zwang. Die Autoren stellen fest, dass unterschiedliche Fachkulturen sich an unterschiedlichen Stellen in diesem Spannungsverhältnis „eingependelt“ haben und damit auch eine unterschiedliche Gewichtung von Freiheit und Struktur in den angebotenen Diensten notwendig ist.[18]

Im Folgenden werde ich immer wieder auf die Systematik des Wertequadrats zurückkommen, um die Dilemmata zu beschreiben.

3.1.2 Welche professionellen Dilemmata kennzeichnen die Bibliotheks- und Informationsprofession?

Was wären konstitutive Dilemmata für den Beruf der Bibliothekarin, des Bibliothekars? Im Folgenden werde ich einige Dilemmata vorstellen, die sich über längere Zeiträume hinweg durch die Tätigkeit in Bibliotheken ziehen.

Diese ist vielfältig und multiprofessionell, sie überschneidet sich mit anderen Tätigkeitsfeldern und daher finden sich hier etliche Dilemmata, die bereits für andere Professionen beschrieben wurden. Insbesondere sind das die Felder des Managements und der Pädagogik/Didaktik. Aus diesen Bereichen möchte ich einige zentrale Dilemmata darstellen, bevor ich nach den spezifischen professionellen Dilemmata des Bibliotheksberufs frage.

Zwei Vorbemerkungen sind notwendig: 1. die dargestellten Dilemmata können sich überlagern oder als „Erscheinungsform“ eines anderen erweisen. Beides ist für unsere Zwecke unschädlich, denn es geht hier nicht um eine akademisch saubere Typologie, sondern darum, Situationen zu beschreiben, die von Akteur*innen häufig als „dilemmatisch“ wahrgenommen werden. 2. Professionelle Ziele und Werte können sich zwischen den Sparten der Öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken deutlich unterscheiden. Daher gibt es auch spartenspezifische Dilemmata.

3.1.3 Management-Dilemmata im Bibliotheksbereich

Fast jede Tätigkeit in Bibliotheken hat einen Managementanteil. Daher treten hier viele der konstitutiven Dilemmata auf, die in der Literatur zu Führungs- und Organisationslehre beschrieben sind, z. B. Mintzberg[19] und Neuberger[20].[21]

Smith und Lewis[22] beschreiben in ihrem lesenswerten Aufsatz typische Dilemmata, die sich innerhalb von Organisationen (gleich welcher Art) entwickeln. Sie entstehen aus dem Spannungsverhältnis zwischen den persönlichen Bedürfnissen ihrer Mitglieder und betrieblichen Prozessen einerseits sowie zwischen „Lernen“ und „Leisten“ in der Organisation andererseits. Hier lässt sich unser Eingangsbeispiel verorten (vgl. Abb. 2).

Der kanadische Management-Forscher Henry Mintzberg hat bereits 1986 13 professionelle Dilemmata von Führungskräften beschrieben.[23] Etliche von ihnen haben mit Information zu tun, z. B.

  • das „Oberflächlichkeitsdilemma“, das darin besteht, dass bei der Führungskraft vielfältiges Überblickswissen aus allen Bereichen der Organisation zusammenlaufen muss, dass sie damit aber gleichzeitig Sachverhalte nicht (mehr) fundiert durchdringen kann.

Abb. 3:  Das Wertequadrat für das Dilemma „Gleichbehandlung für alle“ und „Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von ThunSchulz von Thun (2010) 13.)
Abb. 3:

Das Wertequadrat für das Dilemma „Gleichbehandlung für alle“ und „Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von Thun[24])

  • Damit zusammen hängt das „Planungs-Dilemma“: Das chaotische Tagesgeschäft muss ständig „im Zaum gehalten“ werden, gleichzeitig ist für die Zukunft der Organisation strategische Planung unerlässlich – diese erfordert aber genau die Distanz, Reflexion und Weitblick, für die im kurzfristigen operativen Geschäft kein Platz ist.

  • Es folgt das „Entscheidungsdilemma“: Zu einer fundierten Entscheidung gehört gründliches Recherchieren und Abwägen. Gleichzeitig muss oft entschlossen und schnell gehandelt werden, denn Zögern kann zu Schaden für die Organisation führen. „Weiter abwägen“ oder „trotz Unsicherheit entscheiden“ ist also das Dilemma, in dem sich Führungspersonen häufig wiederfinden.

  • Dabei ergibt sich „Die Souveränitätsfalle: Wie kann man [als Führungskraft] ein hinreichendes Maß an Selbstsicherheit und Souveränität erzeugen, ohne in Arroganz zu verfallen?“[25]

Insbesondere für das Verhältnis von Führungskraft zu Mitarbeiter*innen hat Neuberger Mitte der 1990er-Jahre ebenfalls 13 typische Dilemmata beschrieben.[26] Das Schwanken der Führungskraft zwischen „Nähe“ und „Distanz“ zu den Geführten ist eines der häufigsten, das vor allem auch Mitarbeiter*innen betrifft, die vom Kollegen/Kollegin zur Vorgesetzten aufgestiegen sind: Wie viel „Kumpelhaftigkeit“, Empathie und Emotionalität kann ich mir als Führungskraft noch erlauben? Wo muss ich Distanz, eine gewisse Unzugänglichkeit zeigen, um auch für unpopuläre Entscheidungen Raum zu haben?

Auch aus dem Zusammentreffen verschiedener Management-Ideologien können Paradoxa entstehen, z. B. wenn „New Work“ auf „Change-Management“ trifft: Einerseits wird von den Mitarbeiter*innen erwartet, sich fachlich und persönlich ganz mit ihrem Projekt, ihrer Aufgabe oder den Bibliothekszielen zu identifizieren. Andererseits sollen sie stets bereit sein, „loszulassen“ und Veränderungen bereitwillig mitzutragen, die die Leitung beschließt. Sie sollen also leidenschaftlich UND distanziert zu ihrer Arbeit stehen – zwei Erwartungen, die sich gegenseitig ausschließen.

Ein weiteres Führungs-Dilemma, das in Bibliotheken häufig auftritt, beschreibt Neuberger als „Gleichbehandlung aller“ vs. „Eingehen auf den Einzelfall“.[27] Seien es die Regeln zur Verteilung von Schichten im Dienstplan oder die Benutzungsordnung der Bibliothek: Allgemeine Regeln sollen für Fairness, Gerechtigkeit und Transparenz für alle Betroffenen sorgen. Gleichzeitig gibt es individuelle Sachlagen (soziale oder Care-Verpflichtungen eines Mitarbeiters, schwierige persönliche Umstände einer Nutzerin), die Ausnahmen von den Regeln rechtfertigen: Schließlich will eine menschliche Organisation nicht rigide, bürokratisch und formalistisch handeln, sondern auf die individuelle Situation des/der Einzelnen Rücksicht nehmen. Passiert das aber häufig und willkürlich, entstehen Ungerechtigkeit und Bevorzugung. Dieses Dilemma lässt sich mit Hilfe des Wertequadrats darstellen (vgl. Abb. 3).

Ein anderes Dilemma kann als das „zentral/dezentral-Dilemma“ bezeichnet werden. Jede ältere Universitätsbibliothek und jedes großstädtische Bibliothekssystem kennt es: Einerseits möchte die Bibliothek direkt vor Ort bei den Nutzer*innen sein, im Institut oder im Kiez. Anderseits ist es ebenso ein Ziel der Bibliothek, in großzügigen Räumen mit guter Ausstattung, professionell und effizient zu arbeiten – und das ist am ehesten der Fall, wenn Ressourcen gebündelt und Prozesse zentralisiert werden. Das Bibliothekssystem will sich also dezentral vor Ort UND zentral an einem gut ausgebauten Standort aufstellen – ein typisches Management-Dilemma. Ähnlich ist das Dilemma, einerseits eine Profilierung und Differenzierung einzelner Standorte zu erreichen, z. B. eine speziell ausgebaute Jugendbibliothek oder eine Krimibibliothek, und auf der anderen Seite an jedem Standort Dienste für alle Nutzergruppen bieten zu wollen. Die einerseits gewünschte Spezialisierung bringt andererseits mit sich, dass dieser Standort z. B. für erwachsene Nutzer*innen oder für Leute, die keine Krimis lesen, von der Landkarte verschwindet.

3.1.4 Pädagogische Dilemmata im Bibliotheksbereich

Wenn Bibliotheken sich als Bildungseinrichtungen definieren, dann ist die Begegnung mit pädagogischen oder didaktischen Dilemmata unausweichlich, z. B. das oben beschriebene Dilemma „vormachen“ vs. „allein machen lassen“ (auf das ich gleich zurückkomme). Schwerer zu ertragen ist ein anderes pädagogisches Paradoxon: Ausgerechnet das differenzierte Eingehen der Lehrkraft auf individuelle Unterschiede im Entwicklungs- und Leistungsstand der Lernenden (anspruchsvolle Aufgaben für Fortgeschrittene – stützende Aufgaben für Lernende auf Eingangs-Niveau) trägt auch dazu bei, das Leistungsspektrum zwischen ihnen weiter auszu-„differenzieren“ und damit die Unterschiede zu vergrößern.[28]

3.1.5 Bibliotheksspezifische Dilemmata

Dilemmata, die tief in der spezifischen professionellen Wertestruktur eines Berufs angelegt sind, tangieren den Kern des professionellen Selbstverständnisses und es ist daher schwierig, ihnen auszuweichen, wenn man einmal in eine Profession hineingewachsen ist. Häufig sind das Dilemmata, die über Jahre oder Jahrzehnte hinweg in je unterschiedlicher Erscheinungsform immer wieder auftauchen, aber im Grunde immer dieselbe Problemstruktur beinhalten.

Ein Ur-Dilemma des Bibliotheksberufs ist das zwischen „Bewahren“ und „Benutzen“ von Medien. Das Ziel, physische Bestände dauerhaft zu bewahren, steht in Konflikt mit ihrem Zugänglichmachen, denn jedes Be-Nutzen von physischen Medien ist immer auch mit Ab-Nutzung (und in letzter Konsequenz mit dem Risiko des Verlustes) verbunden. Aber wozu die Bestände bewahren, wenn keine Nutzung stattfindet? Sie ist wiederum das Ziel der Bewahrung. Beide Ziele werden durch Restriktionen und Schutzmaßnahmen ausbalanciert. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass veränderte Rahmenbedingungen (hier: das Vorliegen der meisten Information in elektronischer Form) die Brisanz eines Dilemmas völlig verändern können. Trotzdem hat auch dieses Dilemma (z. B. in der Diskussion um die „last copy“) seine aktuellen Erscheinungsformen.

Ein konstitutives Dilemma des modernen Bibliotheksberufs liegt im Verhältnis der Bibliothekarin/des Bibliothekars zu den Inhalten der verwalteten Bestände. „Ein Bibliothekar, der liest, ist verloren“ lautet eine häufig zitierte Berufsweisheit: Die Aufgabe des/der Bibliothekar*in liegt im Kuratieren einer ausgewogenen Sammlung und im Erschließen und Bewahren einer Kollektion von Wissensobjekten. Wer sich zu lange und intensiv mit dem einzelnen Werk beschäftigt, kann diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Gleichzeitig muss man aber den Inhalt der Werke bis zu einem gewissen Grad doch kennen, um sie inhaltlich erschließen, im richtigen Moment vermitteln und die Ausgewogenheit der Sammlung beurteilen zu können. Wer als Bibliothekar*in Forschergeist oder Literaturinteresse in sich trägt, muss dieses Dilemma beständig in Schach halten.

Um die originären Dilemmata einer Profession zu entdecken, ist eine historische Perspektive sinnvoll bzw. notwendig. Der Blick in die Geschichte hilft dabei, über den Zeitverlauf wiederkehrende Konflikte und Diskussionen zu erkennen, die Anzeichen eines professionellen Dilemmas sein können. Da die der Tätigkeit inhärenten Widersprüche unauflösbar sind, tauchen sie in regelmäßigen Abständen wieder als Problem im Fachdiskurs, in Forschung und Lehre auf. Für die Öffentlichen Bibliotheken der USA identifizierte die Bibliothekssoziologin Geller bereits 1984 drei Dilemmata, die für (amerikanische) Bibliothekar*innen „dem Feld inhärent sind, mit dem Beruf einhergehen“.[29]

 

Das Erziehungs-Dienstleistungs-Dilemma der Öffentlichen Bibliotheken

Das Verhältnis der Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland zu ihrem Publikum bewegt sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Spannungsfeld, das von der Frage geprägt wird, welche Rolle die Bibliothek zu ihren Nutzer*innen einnehmen will. Die Pole dieses Spannungsfeldes wurden im Lauf der Zeit unterschiedlich benannt, in heutiger Terminologie benenne ich sie hier als „Erziehung“ vs. „Dienstleistung“.[30]

Im sogenannten „Richtungsstreit“ der 1910er- und 1920er-Jahre wurden die beiden Pole erstmals pointiert formuliert. Zwar schrieben alle Volksbibliothekare der Bibliothek eine Bildungsaufgabe zu, die Auffassungen über das Bildungsziel, die pädagogischen Methoden und die Rolle die Nutzer*innen gingen jedoch auseinander und wurden polarisierend zugespitzt. Die „alte Richtung“ (Vertreter der Bücherhallenbewegung um Paul Ladewig und Erwin Ackerknecht), sah das Ziel der Bibliothek darin, Volksbildung zu fördern, indem sie möglichst viele Menschen erreichte und breite Leserschichten mit „guter“ Literatur versorgte. Dabei wurden auch Lesewünsche nach populärer, aber literarisch mittelmäßiger Literatur in gewissem Umfang berücksichtigt, die Bibliothek verglichen mit Infrastruktur wie Post oder Bahn.[31] Für den Protagonisten der „neuen Richtung“, Walter Hofmann, machte dies die Bücherhallen zum „Massenbetrieb“, der mit „Niveausenkung zu stark gestiegenen Nutzerzahlen“[32] strebe und Quantität statt Qualität verfolge. Hofmanns pädagogisches Konzept der „individualisierenden Volksbildungsarbeit“[33] sah dagegen eine intensive Bildungsarbeit mit wenigen, empfänglichen Leser*innen vor, die es mit (von der Bibliothekarin) individuell ausgewählter Lektüre zu höherer Bildung zu führen galt. Die Pole wurden als „verbreitende (extensive)“ oder „gestaltende (intensive)“ Bildungsarbeit bezeichnet und dem „pädagogischen Grundproblem [= Dilemma, d. Verf.] des ‚Führens‘ und ‚Wachsenlassens‘“ zugeordnet.[34]

Hier zeigen sich Elemente unterschiedlicher Selbst- und Nutzer*innenbilder, die sich durch die folgenden Jahrzehnte ziehen bis heute: Das pädagogisch orientierte Selbstverständnis findet seinen Ausdruck in dem Wunsch, intensiv mit Nutzer*innen oder Community zu arbeiten, sie zu „fördern“ und damit zu „verbessern“. Im Selbstverständnis als Dienstleister sind die Nutzenden souveräne „Kund*innen“, denen – ohne unmittelbare Veränderungsabsicht – möglichst reibungslos (effizient) die nachgefragten Medien und Informationen zur Verfügung gestellt werden sollen. Die beiden unterschiedlichen Selbstbilder – Informationsstelle vs. (Volks-)Bildungseinrichtung – wechseln sich seither im Selbstbild der Öffentlichen Bibliotheken ab.[35] Dies soll hier kurz umrissen werden, um exemplarisch die unterschiedlichen Erscheinungsformen eines Dilemmas im historischen Verlauf zu demonstrieren.

Unter dem Eindruck der ideologischen Mitwirkung der Volksbüchereien im Nationalsozialismus hielt man nach dem Krieg erst einmal Abstand von allen „volksbildnerischen“ Absichten und versuchte zunächst, einfach eine Grundversorgung an Büchern und Räumen wiederherzustellen. Das Konzept der pädagogisch-sorgenden „Bildungsbücherei“ setzte sich aber bereits Mitte der 1950er-Jahren wieder durch. Abgelöst wurde es Ende der 1960er-Jahre vom nüchtern-sachlichen Konzept der Öffentlichen Bibliothek als Teil der nationalen „Informationsversorgung“ – während gleichzeitig die Bibliothek von anderen als Instrument einer kritischen Emanzipations-Pädagogik gesehen wurde. Im Marketing-Ansatz der 1980er-Jahre eliminierten die Bibliothekar*innen die letzten Reste der pädagogischen (Nachkriegs-)Haltung: Es setzte sich das Selbstbild des „Dienstleisters“ durch, der ohne jegliche erzieherische Absicht „Kund*innen“ effizient mit der gewünschten Literatur/Information versorgt. Anfang der 1990er-Jahre verdichtet sich dies z. B. im Bild der „Informationstankstelle“ (Halten, Information Tanken, Weiterfahren). Ausgelöst durch den „Pisa-Schock“ entwickelt sich seit den frühen 2000er-Jahren wieder ein neues pädagogisches Ideal, das sich bis heute z. B. im Engagement für Leseförderung, Demokratiebildung, Community Building oder Bildung für Nachhaltige Entwicklung zeigt.

Der Richtungsstreit ist im Übrigen auch ein Beispiel dafür, wie destruktiv es sein kann, wenn die Pole eines Dilemmas (hier: „verbreitende“ und „gestaltende“ Bibliotheksarbeit) im Streit auf ihre „Zerrwerte“ reduziert werden. Das erbitterte Zuspitzen und Polarisieren von – eigentlich realiter gar nicht so unterschiedlichen – Konzepten konnte die fachlich-politische Entwicklung der Volksbüchereien über zwei Jahrzehnte lähmen.

Die beiden hier nur grob umrissenen Rollenbilder (dargestellt in Abb. 4) gehören beide zur Öffentlichen Bibliothek und sind theoretisch keineswegs unvereinbar. Sie führen aber im bibliothekarischen Alltag trotzdem zu vielerlei Dilemma-Situationen. Ganz unmittelbar und ursächlich hängen Abwägungen zur „unteren Grenze“ damit zusammen (bis Mitte der 1950er-Jahre: die „Schmutz und Schund“-Debatte), d. h. zur Frage, ob die Bibliothek alles anbietet, was die Nutzer*innen nachfragen, unabhängig von eigenen Qualitätskriterien (Heftromane? Pokemon? Erotik-Schinken? Ballerspiele?). Diese Grenze wird bis heute hauptsächlich über Kriterien der literarisch-fachlichen Qualität gezogen, ist aber oft nicht von politisch-inhaltlichen Aspekten zu trennen, z. B. bei esoterischen Werken oder Medien an den politischen „Rändern“. Daraus entsteht die Frage, welche Inhalte Nutzer*innen „zugemutet“, „zugetraut“ oder „zugestanden“ werden können (eine Frage, die zutiefst pädagogisch ist und daher in wissenschaftlichen Bibliotheken nicht auftaucht). Oder allgemein: Inwiefern kuratiert die Bibliothek ihren Bestand nach den Qualitätsmaßstäben der Bibliotheksmitarbeiter*innen – und wo ist die Grenze zwischen „kuratieren“ und „zensieren“? Hier sind also das Qualitätsdilemma und das Meinungsfreiheitsdilemma von Evelyn Geller zu erkennen.

Abb. 4:  Das Wertequadrat für das Dilemma „Erziehung“ und „Dienstleistung“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von ThunSchulz von Thun (2010) 13.)
Abb. 4:

Das Wertequadrat für das Dilemma „Erziehung“ und „Dienstleistung“ (eigene Darstellung auf Basis von Schulz von Thun[36])

Im Kontext des „spatial turn“ kann man dies auch auf die Frage beziehen, wie die Bibliothek ihren – stets begrenzten – Raum verteilt: Nutzt sie den Platz für Bildungsaktivitäten, Arbeitsplätze, Makerspace und Gruppenräume? Und zahlt sie dafür den Preis, den – autonom außerhalb der Bibliothek nutzbaren – Medienbestand zu reduzieren oder zu magazinieren?

Auch das o. g. „pädagogische Dilemma“ ist im Alltag heute immer noch ein Thema (und zwar unabhängig von dezidierten bibliothekspädagogischen Angeboten): Ist die Bibliothek Dienstleisterin, dann investiert sie in optimale „User Experience“ und die Mitarbeiter*innen nehmen den Nutzer*innen so weit wie möglich alle Tätigkeiten ab, um ihnen möglichst schnell das zu liefern, was sie nachfragen. Ist die Bibliothek Pädagogin, dann gibt sie Hilfe zur Selbsthilfe und sieht ggf. – in bester pädagogischer Absicht – auch einmal dabei zu, wie sich die Nutzer*innen mit der Vormerkfunktion des OPACs abmühen.

 

Das Neutralitätsdilemma

Ein zweites konstitutives Dilemma besteht in dem Ziel der Öffentlichen Bibliothek, für möglichst viele gesellschaftliche Gruppen und politische Richtungen offen (politisch neutral) zu bleiben, UND sich gleichzeitig sozial (d. h. auch politisch) für gesellschaftliche Anliegen oder z. B. benachteiligte Gruppen zu engagieren (also nicht neutral zu sein). Geller beschrieb bereits 1984 dieses Dilemma, ich diskutiere es ausführlich an anderer Stelle.[37]

 

Dilemmata im Kontext von Nutzerorientierung

Die Bibliotheksarbeit möglichst optimal an den Bedarfen und Wünschen der Nutzer*innen auszurichten, ist zweifelsohne ein starkes, grundlegendes Ziel der Bibliotheksprofession. Gerade aus diesem Grundwert können sich aber verschiedene Dilemmata ergeben, wenn sich Nutzerorientierung mit anderen professionellen Werten kreuzt.

Ein Beispiel aus dem Bereich der Öffentlichen Bibliotheken ist das Dilemma zwischen der Orientierung an den Wünschen und Bedarfen der aktuellen Nutzer*innen und der sozialen Aufgabe, der sich viele Bibliothekar*innen verpflichtet fühlen. Alle Untersuchungen zur Bibliotheksnutzung zeigen: Wenn eine Bibliothek nichts Besonderes unternimmt, dann wird sich ihre Nutzerschaft mehrheitlich aus der weißen Mittelschicht rekrutieren. Dies entspricht nicht dem bibliothekarischen Ziel, möglichst breite und vor allem auch „bibliotheksferne“ oder sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu unterstützen. Um diesen Gruppen als Nutzer*innen den Zugang zu erleichtern, müssen Zeit, Kraft und Ressourcen in Angebote investiert werden, die sich eben nicht an den Bedarfen der aktuellen Nutzer*innenschaft orientieren, sondern an möglichen Bedarfen der (noch-) Nicht-Nutzer*innen. Das muss kein Gegensatz sein, kann es aber: Steckt man die Personalkapazität in Veranstaltungen für die Lesegruppe, die sich jeden Donnerstag sowieso in der Bibliothek trifft, oder in aufwändige Outreach-Arbeit (z. B. bei hausgebundenen Senior*innen oder Jugendlichen nach dem zweiten Leseknick)? Dazu kommt das Risiko von Folge-Konflikten zwischen bisherigen und neuen Nutzergruppen, z. B. durch unterschiedliche Lärm- und Verhaltenserwartungen.

Dies ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass Dilemmata aus konkurrierenden Werten/Zielen entstehen. Wäre dem Berufsstand die soziale Diversität des Publikums egal, gäbe es keinerlei Problem mehr.

Dilemmata diesen Ursprungs gibt es in allen Bibliothekssparten. Eines davon zeigt sich derzeit z. B. im Bereich der Fachinformationsdienste: Hier kollidiert das Ziel (bzw. die Anforderung der DFG), den Bestandsaufbau am konkreten, aktuell geäußerten Bedarf der Wissenschaftler*innen zu orientieren, mit dem Ziel, unabhängig von einer aktuellen Nachfrage die Entwicklung der Disziplin abzubilden und Bestände prospektiv im Hinblick auf möglicherweise noch unbekannte Forschungsfragen aufzubauen.

 

Das Innovations-Dilemma – bewährte UND innovative Angebote

Das o. g. Zielgruppen-Dilemma hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem so genannten „innovator’s dilemma“, das der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Christensen 1997 beschrieben hat.[38] Es besteht in der Entscheidung, ob eine Organisation/Bibliothek auf die laufende Verbesserung ihrer etablierten Angebote setzt, die von den Kund*innen derzeit gut nachgefragt werden oder ob sie ihre Ressourcen und Energie in ganz neue Bereiche investiert, deren Erfolg noch unklar ist, die aber ggf. zukünftige strategische Vorteile erschließen. Befragt man Nutzer*innen zu ihren Erwartungen an die Bibliothek, dann sind diese in der Regel enttäuschend unspektakulär: Sie erwarten schnellen Zugriff auf Bestand, kompetentes Personal, einen angenehmen Raum und lange Öffnungszeiten.[39] Wenige Benutzer*innen werden von sich aus innovative Leistungen nachfragen – z. B. einen Makerspace, eine Saatgutbibliothek, Publikationsberatung oder ein Forschungsdatenrepositorium. Jede Organisation will beides: innovativ sein UND den Kund*innen geben, was sie aktuell schätzen/erwarten. Bei gegebenem Ressourcenrahmen kann die Bibliothek aber nur entweder in eine Bibliothek der Dinge oder in eine teure Lizenz investieren – Innovationen gehen also ggf. auf Kosten von etablierten, von den Nutzer*innen geschätzten Angeboten. Diese Entscheidungen können ein ganzes Team polarisieren: Verbessern wir die derzeitigen Dienste, die die Nutzer*innen wollen und die derzeit sicher laufen (aber vielleicht nicht mehr ewig)? Oder investieren wir in ein neues Feld, das uns zukunftsfähig machen könnte (für das es aber noch wenig Nachfrage gibt und dessen Erfolg noch unsicher ist)?

 

Stabil UND flexibel?

Stabilität und Kontinuität wahren und sich gleichzeitig immer wieder flexibel an Veränderungen der Umwelt anpassen: Dies ist an sich kein professionsspezifisches Dilemma, sondern eines, das sich durch alle Lebensbereiche zieht. Es wird aber in dem Moment konstituierend für eine Profession, wo sie sich als Akteurin der Stabilität, Dauer und Bewahrung begreift und dezidiert diese Werte wählt. Das ist bei wissenschaftlichen Bibliotheken der Fall und betrifft ihre zentralen Tätigkeitsfelder, das Sammeln, Erschließen und Zugänglichmachen. Die Frage, wie hier Kontinuität und Veränderung miteinander vereinbart werden können, spielt daher eine besondere Rolle. Konkret wird dies besonders bei bibliothekarischer Infrastruktur wie den internationalen Standards und etablierten Erschließungsinstrumenten – Klassifikationen, Thesauri, Normdateien oder Datenformate. Diese sollen möglichst konsistent bleiben UND aktuelle Änderungen verkraften – sich also „nicht ändern“ UND „ändern“. Das führt zu dilemmatischen Abwägungen: Wann sind bestimmte inhaltlich oder ethisch veraltete Systemstellen, Schlagworte oder Begriffe nicht mehr tragbar? Wann ist die Modernisierung so drängend, dass sie einen Bruch in der Erschließung rechtfertigt? Wie lange sollen/können veraltete Instrumente aufrechterhalten werden und ab wann wiegt eine Aktualisierung die Inkonsistenzen, Katalogabbrüche, Rechercheverluste oder enormen Aufwände für eine Umsystematisierung auf? Diese Fragen sind ein kontinuierlicher Balanceakt, der das Selbstverständnis des Berufs tangiert und in jedem Einzelfall wieder neu gelöst werden muss.

 

Integriert ODER Separiert?

Es gibt bei der sehr professionsspezifischen Tätigkeit des Systematisierens und Ordnens gewisse Unvereinbarkeiten bzw. Unentscheidbarkeiten, die immer wieder an die Oberfläche kommen. Das ist z. B. die Frage, wie mit Klassifikationsaspekten umgegangen wird, die quer zur Hauptgliederung der Klassifikation verlaufen. Genannt seien hier als Beispiel Informationsobjekte mit einem bestimmten Regionalbezug.[40] Wird ein Buch über den Zweiten Weltkrieg in Indonesien in die riesige Hauptgruppe „Geschichte“ integriert (und geht ggf. darin unter)? Oder wird es in eine Kategorie zu Südost-Asien eingeordnet (und verschwindet dadurch aus der „Mainstream-Geschichte“ aus westlicher Sicht[41])? Im Katalog mag diese Frage wenig Konsequenzen haben – in dem Moment, wo der Bestand nach Klassifikation aufgestellt wird, ist sie sehr relevant. Die politische Dimension dieses Problems wird derzeit im Dekolonisierungs-Diskurs oder diskriminierungskritischen Analysen herausgearbeitet.[42] Das selbe Dilemma – aber mit umgekehrter Bewertung – gibt es in den Öffentlichen Bibliotheken: Die Frage, ob Romane mit Bezug zu Minderheiten (z. B. mit queeren Themen oder Protagonist*innen) in die allgemeine Aufstellung integriert (und damit in gewisser Weise „normalisiert“) werden oder ob man sie zu einer separaten Gruppe zusammenfasst und gesondert aufstellt; damit werden sie sichtbarer und leichter zugänglich, aber eben auch vom „Mainstream“ separiert. Sofern nicht jeder Titel dublett vorliegt, sind Dilemmata dieser Art unauflösbar.[43]

 

Passgenau UND Anschlussfähig?

Eine professionsspezifische Ausprägung besitzt auch das allgemeine Dilemma Standardisierung vs. Individualisierung, weil Interoperabilität und das Vernetzen von Systemen eine zentrale strategische Bedeutung im Informationssektor haben. Dieses Dilemma ergibt sich bei allen Entscheidungen, die gemeinsame Infrastruktur betreffen, z. B. bei der Frage, ob eine Bibliothek einem Verbund beitreten soll, ob sie Fremddaten übernehmen kann, ob sie sich für ein Qualitätszertifikat bewerben soll oder ob sie sich für eine Standard-Software entscheidet, die wenig Anpassungsmöglichkeiten bietet.

In diesen Situationen wird die Bibliothek nicht darum herumkommen, dass sie bestimmte Arbeitsweisen standardisiert bzw. dem Standard der „größeren“ Infrastruktur anpasst: ihre Erschließung an das Katalogisierungsformat und die Regeln des Verbunds, ihre Sacherschließung an die Verschlagwortung der Fremddaten, ihre Arbeitsweise an die Kriterien des Qualitätszertifikats oder ihre Prozesse an die Abläufe des neuen BMS.

In jeder dieser Situationen muss sie einen Teil ihrer – bisher auf sie und ihre Nutzer*innen passgenau zugeschnittenen – Arbeitsweisen aufgeben. Wenn man „fit for purpose“ als eine Definition für Qualität auffasst, dann muss sie also entscheiden, wie sie die beiden Werte „Passgenauigkeit/Qualität“ und „Anschlussfähigkeit/Interoperabilität“ angemessen austarieren will; in der Regel wird sich nicht beides voll umfänglich realisieren lassen.

Am Ende soll noch einmal daran erinnert werden, worin der Sinn dieser (natürlich nicht vollständigen) Aufzählung besteht:[44] Erstens, sich klarzumachen, dass in solch einer Situation jede Entscheidung, egal wie sie fällt, als unzulänglich oder gar „fehlerhaft“ empfunden werden muss, weil das in der Art des Problems und den ihm zugrundeliegenden Werten oder Zielen angelegt ist. Damit gelingt es eher zu akzeptieren, dass das Problem immer wieder auftaucht und dann souveräner mit ihm umzugehen. Daher soll dieses Kapitel zweitens dabei helfen, typische Dilemma-Situationen im Berufsalltag zu erkennen. Es stellt sich dann natürlich trotzdem immer noch die Frage, wie man in derartigen Konflikten handeln kann. Darum geht es im letzten Abschnitt.

4 Wie umgehen mit professionellen Dilemmata?

Die folgenden Vorgehensweisen können helfen, mit professionellen Dilemmata umzugehen:[45]

  1. sich über die Natur des Dilemmas klar werden,

  2. die Rahmenbedingungen prüfen, um das Dilemma ggf. aufzulösen,

  3. die beiden gegensätzlichen Werte des Dilemmas ausbalancieren

Zu 1: Das Dilemma untersuchen. Die Pole, Werte und „Zerrwerte“ einer Dilemma-Situation genauer zu analysieren, wird zwar nicht die erhoffte einfache Entscheidung bringen, aber mehr Klarheit darüber, um was es „eigentlich“ geht in einer Situation, die auf Dauer „irgendwie“ unbefriedigend ist oder zu beständigen Spannungen und Konflikten führt. Das Problem wird expliziter, transparenter, bearbeitbarer und damit wird es evtl. leichter eine kommunikative Lösung dafür zu erreichen. Die Analyse ist auch der erste Schritt für die folgenden Handlungen (Rahmenbedingungen ändern, Pole ausbalancieren).

Als mögliches Analyse-Instrument wurde bereits das Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun vorgestellt. In einem vorliegenden Konflikt oder Zwiespalt kann es helfen, ein Wertequadrat zu erstellen. Dabei besteht die (nicht zu unterschätzende) Herausforderung darin, die vier Ecken des Wertequadrats prägnant zu benennen, d. h., den Konflikt genau anzuschauen und (ggf. mit dem Team) herauszuarbeiten, welche positiven Werte hier miteinander im Widerstreit liegen. Der zentrale Erkenntnisgewinn liegt darin, den Fokus auf die beiden positiven Werte zu richten, die man beide erreichen möchte, die sich aber gegenseitig im Weg stehen. Es geht also nicht darum, entweder das eine oder das andere zu sein (entweder sparsam oder großzügig), sondern beides soweit möglich auszugleichen, Sparsamkeit UND Großzügigkeit. Das UND erinnert daran, dass hinter dem einengenden „Entweder/Oder“ zwei Anliegen bzw. Ziele stehen, die man beide für wertvoll erachtet, auch wenn man sie nicht beide gleichzeitig erreichen kann.

Wenn die vier Ecken des Wertequadrats einvernehmlich von allen betroffenen Akteur*innen mit den positiven Werten und den jeweiligen „Zerrwerten“ benannt wurden, dann ist die Dilemma- bzw. Konfliktsituation transparenter und diskutierbarer und es kann nach Möglichkeiten gesucht werden, jeweils den gegenüberliegenden Pol zu stärken, denn meist sind beide Werte, um die es geht, unter den Konfliktparteien konsensfähig, nur das jeweilige Ausmaß ist umstritten.

Zu 2: Die Rahmenbedingungen prüfen. Wenn Klarheit über die Art des Dilemmas besteht, dann kann zunächst geschaut werden, ob sich die Rahmenbedingungen so ändern lassen, dass sich das Dilemma entschärft oder auflöst. Dafür gibt es z. B. folgende Möglichkeiten:

  1. Die konfligierenden Werte infrage stellen, die Ziele verändern, das professionelle Selbstverständnis untersuchen: Muss die Datenbank wirklich dublettenfrei sein? Wie wichtig ist uns die soziale Diversität der Nutzerschaft? Wird einer der Werte aufgegeben, ist das Dilemma gelöst. Soll keiner der Werte aufgegeben werden: Kann man sie dann vielleicht einvernehmlich priorisieren? Und damit tendenziell eine Richtung vorgeben, welcher von Beiden in den folgenden Balance-Akten Vorrang hat?

  2. Lassen sich die Rahmenbedingungen ändern? Oft wird eine Rahmensituation denkbar sein, in der sich das Dilemma potenziell längerfristig auflösen lässt. Das gilt vor allem, wenn es aus einer Ressourcenknappheit entsteht und die Lösung lautet: mehr Personal, mehr Geld, jeden Titel doppelt aufstellen. Leider gilt das aber für viele Dilemmata nicht, z. B. wenn es um Raum und Zeit geht (der Tag hat 24 Stunden, länger als 90 Minuten sind die Teilnehmer*innen einer Schulung nicht aufmerksam), wenn es um grundlegende Entscheidungen oder einen moralischen Wert geht (Gerechtigkeit) oder um ein angemessenes Maß (eine starke Zentrale UND starke Zweigstellen kannibalisieren sich gegenseitig, zwei Exemplare des Titels werden nicht gebraucht).

Zu 3. Die Pole ausbalancieren. Wer neu in ein Tätigkeitsfeld einsteigt, wird zunächst versuchen, ein Dilemma „ein für alle Mal“ „eindeutig“ in die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Eine erfahrene Person weiß aber, dass das endgültige Auflösen in eine Richtung nicht möglich ist, dass man hier mit andauernder Ambiguität, mit Unsicherheit, unklaren Regeln und ständigen Widersprüchen (heute so, morgen so! Hier Hüh, da Hott! Mal so, mal anders.) leben muss. Die professionelle Haltung besteht darin, die nötige Ambiguitätstoleranz zu entwickeln und die beiden Werte in einem stets fragilen Gleichgewicht zu halten das – ähnlich wie beim Radfahren – ständig durch Schwanken von einer zur anderen Seite ausbalanciert werden muss, damit das Rad/die Situation nicht ins Destruktive kippt.

Als „consistently inconsistent“ bezeichnen Smith und Lewis den Umgang mit Paradoxa.[46] Sie nennen drei mögliche Strategien, um die beiden Pole eines Dilemmas auszubalancieren: Dabei darf der Begriff „ausbalancieren“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Tätigkeit durchaus frustbeladen sein kann, weil eben wieder nicht das Optimum erreicht wurde, weil dauernd Kompromisse gemacht werden müssen und klare Regeln nicht eingehalten werden können.

Erstens: Sequenzieren: Mal so, mal so: Dieses Jahr so, nächstes Jahr andersherum. Dies ist eine Möglichkeit, wenn eine gewisse Flexibilität in der Sache besteht, sie nicht mit dem Aufbau von umfangreicher Infrastruktur verbunden ist. Gerade beim Beispiel Bibliotheksbau zentral/dezentral ist diese Option also verwehrt. In anderen Bereichen jedoch möglich, Beispiel: Die Dienstbesprechung findet abwechselnd in der Zentrale und in einer der Zweigstellen statt. Dieses Jahr investieren wir in einen Makerspace, nächstes Jahr in die Revision der Sachgruppe X.

Zweitens: Segmentieren: In einem Bereich handeln wir so, im andern anders: In der Zentrale sind wir strikt, in den Zweigstellen drücken wir auch mal ein Auge zu. Bei den Erwachsenen-DVDs setzen wir auf hohen Durchsatz, bei den Kinder-DVDs auf hohe qualitative Selektion. Bei den Hauptgruppen der Klassifikation setzen wir auf Stetigkeit, bei den Untergruppen auf Flexibilität. Die Bibliothek bleibt neutral, wenn es um tagespolitische Ereignisse geht, unterstützt aber lokale Organisationen sozial benachteiligter Gruppen.

Drittens: Differenzieren: Allgemeine Regeln werden verfeinert. Beim Standardisierungsdilemma im Erschließungskontext kann das heißen: Es gibt im Verbund eine gemeinsame, verbindliche Klassifikation (RVK) UND es gibt ein optionales Feld, in dem die Bibliothek eine eigene, lokale Notation eintragen kann. Beim Gleichheits-/Individualisierungs-Dilemma differenziert die Bibliotheksleitung verschiedene Fälle aus, die unterschiedlich geregelt werden: Bei Care-Aufgaben und bei karitativer Tätigkeit dürfen Samstagsdienste getauscht werden, aus anderen Gründen nicht. Auch die differenziertesten Regeln werden allerdings nicht dazu führen, dass das Dilemma auf Dauer ad Acta gelegt werden kann. Die Konflikte werden sich auf eine andere Ebene verschieben, z. B. auf die Frage, was karitative Tätigkeiten genau sind. Es droht die Gefahr einer Überbürokratisierung.

Konflikte in einer Beziehung, einem Team, einer Organisation oder auch im Innern einer handelnden Person spielen sich meist auf der Ebene der „Zerrwerte“ ab. Es rücken die negativen Aspekte in den Fokus der Auseinandersetzung: Die Lektorin fühlt sich in ihrem morgendlichen Dilemma zwischen Pest (Vernachlässigung ihrer Aufgaben) und Cholera (Verpassen von Innovationen). Das Bibliotheksteam ist gespalten in die, die Innovation ausprobieren, und die, die das Bewährte verbessern möchten. In der Auseinandersetzung werden die gegensätzlichen Positionen dabei oft viel stärker polarisiert als nötig: In der Regel vereint beide Gruppen ein gemeinsames Interesse, nämlich der Wunsch, die Bibliothek zu stärken und gute Arbeit zu machen. In der Regel wird auch keine der beiden „Parteien“ den jeweils anderen „Wert“ (Innovation bzw. Kontinuität) völlig ablehnen. Nötig ist es also, den Blick auf die beiden positiven Werte zu lenken, um damit zu erkennen, was eigentlich alle Beteiligten erreichen wollen. Damit wird ein situatives Ausbalancieren möglich.

Über den Autor / die Autorin

Ulla Wimmer

Ulla Wimmer

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Online erschienen: 2024-01-11
Erschienen im Druck: 2024-04-30

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  31. Lux, Claudia: Praxishandbuch richtige Lobbyarbeit für Bibliotheken (De Gruyter Reference). Berlin, Boston: De Gruyter, 2022. 383 S. Ill., gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-11-067333-3
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2023-0064/html
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