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Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten

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Veröffentlicht/Copyright: 4. Juni 2020

Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in der Ostseeregion verschlechtern sich zunehmend aufgrund zweier eng miteinander zusammenhängender Entwicklungen: der wachsenden Verunsicherung bezüglich der Rolle der USA als Garant von Sicherheit und der zunehmenden Instabilität internationaler Institutionen. Die drei baltischen Staaten sind am verwundbarsten. Sie stehen vor einer schwierigen sicherheitspolitischen Herausforderung: Wie können sie sich auf eine mögliche Verringerung der US-Präsenz in der Zukunft vorbereiten, ohne dass diese Maßnahmen die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung erhöhen?

Aus Sicht der baltischen Staaten sollte dies eine Aufgabe sein, die ganz Europa zusammenbringt. Doch ein Interview, das der Economist vor kurzem mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron führte, verdeutlicht, dass tiefe Meinungsverschiedenheiten über die strategischen Ziele in Europa bestehen.[1]

Die Sicherheit der baltischen Staaten ist in vielfältiger Hinsicht besser gewährleistet als je zuvor. Sie sind eng in die westliche Staatengemeinschaft integriert, insbesondere durch die Mitgliedschaft in EU und NATO. Die regionale Sicherheitslage der baltischen Staaten hat sich aber erheblich seit dem Jahr 2014 verschlechtert, als Russland die Krim annektierte und einen Krieg in der Ostukraine begann. Diese Ereignisse führten allerdings zu einer Stärkung der NATO-Präsenz in den baltischen Staaten und Polen und einer geschlossenen Verurteilung der russischen Annexion durch die EU sowie gemeinsam verhängten Sanktionen.

In diesem Zusammenhang ist der Beitrag der USA zur Sicherheit in der Ostseeregion gewachsen, aber die Zukunft ist durch Unsicherheit gekennzeichnet. Am meisten beunruhigt die Tatsache, dass Präsident Donald Trump sich nicht für die Belange seiner Verbündeten und Partner interessiert und Allianzen keine Bedeutung beimisst. Trump liegt weder etwas an der NATO noch an der EU. Noch weniger bedeuten ihm multilaterale internationale Kooperation und die regelbasierte Weltordnung, die in dem Maße erodiert, wie die USA ihre führende Rolle bei ihrer Aufrechterhaltung aufgegeben haben. Ein weiterer, noch triftigerer Grund für Zweifel an der zukünftigen Rolle der USA als Garantiemacht der europäischen Sicherheit rührt nicht von Trump her, sondern von der raschen Veränderung des globalen Machtgleichgewichts. Europa wird zwangsläufig in dem Maße an Bedeutung verlieren, wie sich die USA darauf konzentrieren, den Aufstieg Chinas zu managen.

Den französischen Präsidenten Macron treibt zu Recht die Sorge um, Europa könnte in dem neuen geopolitischen Umfeld zunehmend auf sich allein gestellt sein und in der sich verstärkenden Rivalität zwischen den beiden Supermächten USA und China unter wachsenden Druck von beiden Seiten geraten. In dieser Situation war es notwendig, dass die EU und europäische Staaten damit beginnen, ihre Fähigkeit zu verstärken, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Aber dies hat die Spannungen in den transatlantischen Beziehungen erhöht und geht vor allem zu Lasten der baltischen Staaten – die in hohem Maße von den Sicherheitsgarantien der NATO und der USA abhängig sind.

Äußerungen französischer, deutscher und anderer führender europäischer Politiker in den letzten Wochen haben gezeigt, dass die EU-Staaten keine gemeinsame Vision für die zukünftige Gestaltung der transatlantischen Beziehungen haben. Andererseits scheinen sich die USA unschlüssig zu sein, ob sie wirklich wollen, dass Europa ein stärkerer Sicherheitsakteur wird und daher zwangsläufig ein von den Amerikanern unabhängigerer Partner wird.

Die EU kann die NATO nicht ersetzen und sie versucht dies auch gar nicht, obgleich Macron die EU anscheinend unbedingt auf ein solches Ziel einschwören will. EU-Mitgliedstaaten in der Ostseeregion (einschließlich der Nicht-NATO-Mitglieder Finnland und Schweden) teilen die Auffassung, dass die EU NATO-Aktivitäten ergänzen und nicht ersetzen sollte. Die baltischen Staaten haben im Allgemeinen eine konstruktive Rolle bei der Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gespielt. Allerdings sind sie auch besonders skeptisch gegenüber dem Konzept der strategischen Autonomie Europas, das in jüngster Zeit in den Debatten auf EU-Ebene eine immer stärkere Rolle spielt und das in einem aktuellen Bericht des International Centre for Defence and Security analysiert wird.[2]

Dieses insbesondere von Frankreich forcierte Konzept bildet den Hintergrund für das strategische Ziel einiger Mitgliedstaaten, die Beziehungen zu den USA zu lockern und dadurch die Autonomie Europas zu stärken. Die östlichen Mitgliedstaaten der EU und der NATO dagegen wollen die US-Präsenz und die transatlantische Sicherheitszusammenarbeit stärken, während sie gleichzeitig Anstrengungen unternehmen, um sich auf ihre mögliche Schwächung vorzubereiten. Die ambitionierten Äußerungen des französischen Präsidenten erschweren es jedoch, die europäische Verteidigungskooperation in der Praxis auszubauen, auch wenn die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten im gemeinsamen Interesse aller europäischen Länder und grundsätzlich auch der Vereinigten Staaten liegt.

Eine Möglichkeit, sich an die wachsende Unsicherheit anzupassen, besteht darin, die Verteidigungskooperation bilateral und zwischen kleinen Ländergruppen zu verstärken. So kooperiert zum Beispiel Estland eng mit den USA, Frankreich und vielen anderen Verbündeten und Partnern. Nach dem Brexit wird Frankreich im Zentrum der europäischen Sicherheitspolitik stehen. Estland hat versucht, sich dadurch in Paris besser Gehör zu verschaffen, dass es sich als eines der ersten Länder der Europäischen Interventionsinitiative unter französischer Führung angeschlossen hat und einen substantiellen Beitrag zu den von Frankreich geführten militärischen Einsätzen in Mali und anderen Ländern in Afrika geleistet hat.

Ein Nachteil der bilateralen Kooperation und der multilateralen Kooperation in kleinen Gruppen – auch „Minilateralismus“ genannt – besteht darin, dass beide unter Umständen zur Schwächung multilateraler Institutionen wie EU und NATO beitragen. Besonders schwierig ist die Situation für kleine Länder. Einerseits ist es für kleine Länder unerlässlich, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit Institutionen stark bleiben. Die Präsenz von EU und NATO in der Ostseeregion fördert Stabilität und Vorhersagbarkeit mehr als die beste bilaterale Beziehung auf der Basis einer transaktionalen Logik. Es hängt in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der NATO und der EU ab, ob es gelingt, die russische Bedrohung unter Kontrolle zu halten.

Andererseits zwingt die Instabilität von Institutionen in einer sich wandelnden Welt Estland und andere kleine europäische Staaten dazu, in die bilaterale Kooperation mit Schlüsselpartnern zu investieren und ihre eigene Fähigkeit zu verbessern, sich vor einer breiten Palette von Bedrohungen zu schützen.


Hinweis

Eine englischsprachige Version dieses Papiers ist auf der Webseite des Estonian Foreign Policy Institute erschienen (https://icds.ee/impossible-security-policy-choices-for-the-baltics/)


Published Online: 2020-06-04
Published in Print: 2020-05-26

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Kriege und Kriegsgefahren im kommenden Jahrzehnt
  6. Nordkoreas Cyber-Krieg Strategie: Kontinuität und Wandel
  7. Afghanistan: Droht durch die „Friedensvereinbarung“ eine Vietnamisierung des Konflikts?
  8. Operative Anpassung von NATO-Streitkräften seit der Krim: Muster und Divergenzen
  9. Kurzanalysen und Berichte
  10. Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers
  11. Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten
  12. Was verrät uns das russische Großmanöver Tsentr-2019?
  13. Literaturbericht
  14. Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine
  15. Ergebnisse internationaler strategischer Studie
  16. Sicherheit in Nordeuropa
  17. Robert M. Klein/Stefan Lundqvist/Ed Sumangil/Ulrica Pettersson: Baltics Left of Bang. The Role of NATO with Partners in Denial-Based Deterrence. Stockholm: Strategic Forum, 2019
  18. Arseny Sivitsky: Belarus-Russia: From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum. Philadelphia, PA: Foreign Policy Research Institute (FPRI), Dezember 2019
  19. Maria Domańska/Szymon Kardaś/Marek Menkiszak/Jadwiga Rogoża/Andrzej Wilk/Iwona Wiśniewska/Piotr Żochowski: Fortress Kaliningrad. Ever Closer to Moscow. Warschau: Center for Eastern Studies (OSW), November 2019
  20. Verteidigung im Rahmen der NATO
  21. Claudia Major: Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
  22. Colin Smith/Jim Townsend: Not enough Maritime Capability. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
  23. Pauli Järvenpää/Claudia Major/Sven Sakkov: European Strategic Autonomy. Operationalising a Buzzword. Tallinn: International Center for Defence and Security/Konrad Adenauer Foundation, 2019
  24. Russland
  25. Susanne Oxenstierna/Fredrik Westerlund/Gudrun Persson/Jonas Kjellén/Nils Dahlqvist/Johan Norberg/Martin Goliath/Jakob Hedenskog/Tomas Malmlöf/Johan Engvall: Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective, Stockholm: FOI, Dezember 2019
  26. Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
  27. Pavel Baev: Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing. Paris: Ifri, August 2019
  28. Philip Hanson: Russian Economic Policy and the Russian Economic System. Stability versus Growth. London: Chatham House, Dezember 2019
  29. Globale Großmachtrivalität
  30. Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
  31. Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
  32. Chris Dougherty: Why America Needs a New Way of War. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
  33. Patrick M. Cronin/Ryan Neuhard: Total Competition. China’s Challenge in the South China Sea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Januar 2020
  34. Chinas Belt and Road Initiative und Europa
  35. Frank Jüris: The Talsinki Tunnel. Channeling Chinese Interests into the Baltic Sea. Talllin: ICDS, Dezember 2019
  36. Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
  37. Cyberspace
  38. Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
  39. Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
  40. Jean-Christophe Noël: What Is Digital Power? Paris: Ifri, November 2019
  41. Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
  42. Buchbesprechungen
  43. Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
  44. Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
  45. Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
  46. David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
  47. Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
  48. Bildnachweise
  49. Translated Articles (e-only)
  50. North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change
Heruntergeladen am 3.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-2007/html
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