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Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten

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Published/Copyright: June 4, 2020

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Fabbrini Sergio Europe’s Future. Decoupling and reforming Cambridge Cambridge University Press 2019 1 180


Es geht in diesem Buch um nicht weniger als Europas Zukunft. Sergio Fabbrini liefert mit „Europe’s Future – Decoupling and Reforming“ einen Debattenbeitrag, der zur Auseinandersetzung mit den Krisen der 2010er Jahre ebenso anregt wie zum Nachdenken darüber, wie die inneren Spaltungen der Europäischen Union (EU) zu erklären und zu überwinden sind.

Zu diesem Zweck befasst sich Fabbrini (1) mit den Krisen der 2010er Jahre (Euro, Migration) und skizziert präzise die beteiligten Akteure, die ergriffenen Maßnahmen und ihre (demokratische) Legitimation. Er folgert daraus (2), dass die unzureichenden politischen Antworten auf die Krisen wesentlich auf den Entscheidungsmodus zurückzuführen sind: Intergouvernementale Kompromisse prägen die Politik in diesen Bereichen. (3) Die Unzufriedenheit mit den ineffizienten Politikergebnissen wiederum habe populistische und nationalistische Strömungen genährt. (4) Aus den Politikfeldkrisen habe sich eine veritable Systemkrise entwickelt, der nach Einschätzung von Fabbrini nur durch eine grundlegende institutionelle Reform begegnet werden kann. (5) Als konkreten Reformvorschlag empfiehlt Fabbrini eine Aufspaltung der EU in (i) eine Wirtschaftsgemeinschaft, die den Binnenmarkt steuert und über eng begrenzte Kompetenzen in diesem Bereich verfügt; und (ii) eine föderale Union, deren Mitglieder bewusst eine politische Union anstreben.

Im ersten Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich ein duales politisches System entwickelt hat, in dem für verschiedene Politikfelder unterschiedliche Prinzipien der Entscheidungsfindung gelten. In der Folge üben unterschiedliche Organe primären Einfluss auf die Politikgestaltung, je nach supranationalem oder intergouvernementalem governance-Prinzip. Während Kommission, Europäische Zentralbank und Gerichtshof in der supranationalen Regierungsform einflussreich sind, bleiben die nationalen Exekutiven durch den Europäischen Rat und den Ministerrat bei intergouvernementalen Strukturen die entscheidenden Akteure. Um diese institutionelle Doppel-Entwicklung zu verdeutlichen, behandelt Fabbrini die frühe europäische Integrationsgeschichte der 1950er Jahre ebenso wie die entscheidenden Vertragsrevisionen von Maastricht bis Lissabon und zeigt exakt auf, wie der Vertrag von Lissabon das duale System konsolidiert. Hier klingt bereits das Kern-Argument des Autors an: Euro- und Asylpolitik sind im intergouvernementalen Modus verankert, was die Krisen dieser Politikfelder aufgrund eines ineffizienten Politikmodus (Einstimmigkeit, Kompromisse, gegenseitige Kontrolle) verschärft und zu inneren Spaltungen geführt habe.

Die Infragestellung dieses Politikstils untermauert Sergio Fabbrini im zweiten Kapitel, indem er ein wichtiges demokratietheoretisches Argument einbringt: Wähler haben ihre Regierungen für nationale Entscheidungen legitimiert. Doch wenn diese auf europäischer Ebene Entscheidungen treffen, dann betreffen deren Auswirkungen andere Wähler in anderen Ländern. Deshalb müssten Entscheidungen auf europäischer Ebene durch Institutionen getroffen werden, die durch eine europäische Wählerschaft legitimiert sind. Denn Legitimation – so Sergio Fabbrini – überträgt sich nicht von der nationalen auf die europäische Ebene.

Abgesehen von dieser demokratietheoretischen Einordnung konzentriert sich Fabbrini in diesem Kapitel auf die Konsequenzen der intergouvernementalen Regierungsform. Dazu weist er auf Dilemmata im intergouvernementalen Verfassungsmodell hin, die sich aus der konsensualen bzw. einstimmigen Entscheidungsfindung ergeben und bespricht sowohl die Euro-Rettungs- als auch die Flüchtlingspolitik vor diesem Hintergrund.

Sehr detailliert und gleichzeitig gut nachvollziehbar rekonstruiert er die verschiedenen Instrumente und Maßnahmen der Euro-Rettungspolitik und der Migrationspolitik. Dabei benennt Fabbrini Vorschläge der Kommission im Vergleich zu den Beschlüssen, die im Rat oder wegen mangelnder Einigkeit gar außerhalb des europäischen Gemeinschaftsrahmens durch zwischenstaatliche Verträge getroffen wurden. Die fiskalische Regulierung bewertet er als empfindlichen Eingriff in souveräne Haushaltspolitik. In den begleitenden Kontrollmaßnahmen der Eurozone sieht er die Herausbildung eines auf Misstrauen fußenden Systems. Die Migrationspolitik sieht er blockiert, weil der intergouvernementale Konsens „Schengen“ angesichts distributiver Kriseneffekte in Frage gestellt wurde. Diese Diskussion verbindet Fabbrini mit der Beobachtung, dass die intergouvernemental geprägte Krisenpolitik die Opposition zur EU verstärkt und letztlich zu nationalistischen und populistischen Bewegungen in ganz Europa geführt habe, was er ausführlich im dritten Kapitel bespricht.

Für Fabbrini steht fest: Es braucht ein neues Regierungssystem für die EU! Im fünften und letzten Kapitel skizziert er daher einerseits kurz den Stand der Reformdebatte und liefert selbst einen Beitrag dazu, wie die EU zukünftig organisiert werden könnte. Fabbrini ist überzeugt: Europäisches Regieren könne nur effizienter werden, wenn die beteiligten Staaten auch wirklich eine politische Union wollten („an ever closer union“). Da nicht alle EU-Mitgliedstaaten dieses Ziel für die Staatengemeinschaft verfolgen, empfiehlt er eine Aufspaltung der Gemeinschaft in (i) eine Wirtschaftsgemeinschaft und (ii) eine föderale Union. Davon erhofft sich Fabbrini effektiveres Regieren, was zugleich dem Populismus und Nationalismus den Nährboden entziehen würde. Ungeklärt bleibt an dieser Stelle, wie Populismus und Nationalismus als antagonistische Positionen zur Integration in solchen Staaten eingehegt werden, die sich für eine politische Union entscheiden (wie z. B. für Deutschland zu erwarten wäre).

Die Wirtschaftsgemeinschaft einerseits und eine politische Gemeinschaft als föderale Union andererseits sollen je nach ihren Kompetenzen und Zielsetzungen über unterschiedliche Institutionen verfügen. Abgesehen von einigen sehr rudimentären Grundprinzipien führt der Autor jedoch nicht aus, wie die Wirtschaftsgemeinschaft oder die föderale Union nach Kriterien demokratischer Legitimation, Gewaltenteilung und Kompetenzabgrenzung konkret aussehen könnten. Unklar bleibt zudem, ob eine solch klare Trennung möglich ist. Schließlich enthält der gültige Vertrag von Lissabon bereits einen klar abgestuften Kompetenzkatalog gegenüber den Mitgliedstaaten (Art. 3–6). Dennoch gehört es zur Realität des Binnenmarktes, dass einige der grundlegenden Ziele (Waren-, Dienstleistungs-, Kapitalfreiheit, Personenfreizügigkeit) seit den 1950er Jahren in andere Politikfelder hineinreichen und damit zur Europäisierung beigetragen haben – nicht zuletzt durch Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU – ein Organ, das in Fabbrinis Analysen und Reformvorschlägen wenig Beachtung findet.

Ungeachtet dessen erhofft sich Fabbrini, dass die föderale Union kleiner aber „einheitlicher“ sein könnte. Er führt an, dass eine politische Union – wenn sie der Eurozone entspricht – mit etwa 300 Mio. Bürgern keineswegs klein wäre. Hier verwundert, dass er einige Kapitel zuvor noch zunehmende Trennungslinien innerhalb der Eurozone feststellte und kritisierte, dass in der Krise ein System geschaffen worden sei, das auf Misstrauen baue. Wie kann angesichts dieser Beobachtungen die Eurozone als Ausgangspunkt einer einheitlichen politischen Union gedacht werden? Und was wäre, wenn Eurozonen-Mitglieder wie etwa die baltischen Staaten (die in der Flüchtlingspolitik ähnlich vehemente Positionen vertreten wie die Visegrád-Staaten) zwar in der Eurozone bleiben jedoch nicht an der politischen Union teilnehmen wollen?

Die Motivation für das Buch bezeichnete Sergio Fabbrini selbst als eine Kombination aus der (1) Unzufriedenheit über die bestehenden und vorherrschenden theoretischen Annahmen über den europäischen Integrationsprozess und die (2) Unzufriedenheit über das duale Regierungssystem, das in der EU anzutreffen ist: Supranationalismus im Binnenmarkt und Intergouvernementalismus in einstigen Kernbereichen des Nationalstaates. Diese Unzufriedenheit hat der Autor konstruktiv in einen lesenswerten Debattenbeitrag über eine institutionelle Neuordnung des politischen Systems der EU umgewandelt.

Mit etwa 150 Seiten ist das Buch überschaubar und gut lesbar. Es eignet sich – wie vom Autor intendiert – für ein breites Publikum. Insbesondere die Krisen-Analysen sind sehr präzise geschrieben. Durch die Zusammenführung dieser Analysen mit den institutionellen Abläufen im europäischen Politiksystem ergibt sich für den Leser ein differenziertes Bild des politischen Systems der EU. Die Vertragsgeschichte der EU wird systematisch mit Blick auf institutionelle Entwicklungen dargestellt und komplizierte Zusammenhänge sehr gut aufgearbeitet. Die Kritik am intergouvernementalen Politikstil in sensiblen Bereichen jenseits des gemeinsamen Marktes mündet bei Fabbrini letztlich in die Empfehlung, diese Politik einem supranationalen Regierungsmodell mit direkt legitimierten europäischen Institutionen zu unterstellen. Generell bleibt dabei offen, ob diese vorrangig institutionell gedachte Reform tatsächlich zur intendierten effizienteren Politik führen kann. Diese Frage stellt sich umso mehr, da die Konflikte in der Währungspolitik andere Trennungslinien hervorrufen als in der Asylpolitik. Da sich der Beitrag jedoch bewusst als Debattenbeitrag versteht, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Reformüberlegungen einer institutionellen Entkoppelung bzw. Neuordnung der EU sicherlich ganz im Sinne des Autors.

Published Online: 2020-06-04
Published in Print: 2020-05-26

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  26. Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
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  29. Globale Großmachtrivalität
  30. Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
  31. Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
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  36. Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
  37. Cyberspace
  38. Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
  39. Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
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  42. Buchbesprechungen
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  44. Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
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  47. Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
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  49. Translated Articles (e-only)
  50. North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change
Downloaded on 22.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-2031/html
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