Reviewed Publication:
Sivitsky Arseny Belarus-Russia From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum Philadelphia, PA Foreign Policy Research Institute (FPRI) Dezember 2019
Am 20. Dezember 2019 haben die Präsidenten Vladimir Putin und Alexander Lukaschenko in St. Petersburg 28 von insgesamt 31 „Wegekarten“ zur engeren Integration der „Unions“-Länder Russland und Weißrussland unterzeichnet. Laut Maxim Oreschkin, dem russischen Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, hielten drei Problembereiche das umfassende Integrationsvorhaben weiterhin auf – Öl, Gas sowie Steuer- und Zollbestimmungen. Wie bedeutsam die miteinander verbundenen Verhandlungsmaterien sind, wurde zum Jahreswechsel deutlich, als Russland die Öllieferungen an Weißrussland stoppte und nach einigen Tagen zwar wiederaufnahm, aber nur um den Betrieb der weißrussischen Raffinerien für den Monat Januar 2020 aufrecht zu erhalten.
Arseny Sivitsky, Direktor des Zentrums für strategische und außenpolitische Studien in Minsk, hat die Hintergründe und geopolitische Bedeutung der Moskauer Integrationsinitiative untersucht. Von besonderem Interesse ist dabei seine Darstellung der engen Verknüpfung zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit Weißrusslands von Russland und den von Moskau an Minsk gestellten Forderungen, einer weitgehenden politischen und militärischen Integration zuzustimmen. Der Autor ist ein ausgewiesener Kenner der sicherheitspolitischen und militärischen Zusammenhänge nicht zuletzt aufgrund seines Karriereprofils als Absolvent des Training Corps der Militärfakultät der Staatlichen Universität Belarus und des Ausbildungszentrums des 72. Garderegiments der weißrussischen Streitkräfte. Politisch aufschlussreich und bedeutsam hinsichtlich des (noch) ungebrochenen Widerstands Lukašenkos gegen russische Forderungen sind die deutlichen Warnungen Sivitskys vor den Integrationsabsichten Putins.
Der Autor weist darauf hin, dass der Anteil Russlands am globalen BIP nur 2–3 Prozent betrage und seine Soft-Power-Instrumente schwach seien. Die wichtigsten Instrumente, die Moskau zur Verfügung stünden, seien militärische Macht sowie Öl, Gas und andere natürliche Ressourcen. Wie Moskaus Militärintervention in Syrien und sein militärisches Engagement in Venezuela sowie in Libyen zeigten, sei der Kreml der Ansicht, mit „harten und scharfen“ (militärischen) Instrumenten seine von ihm selbst definierten nationalen Interessen durchsetzen zu können. Im postsowjetischen Raum strebe er eine tiefere politisch-militärische Integration mit den Mitgliedsstaaten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an und baue Militärstützpunkte in der Region. Wo Russland nicht in der Lage sei, die OVKS-Staaten in seinem Einflussbereich zu halten, nutze es – wie die Beispiele Georgien 2008 und die Ukraine 2014 zeigten − die Taktik hybrider Kriegführung, um seine Integrationsziele zu erreichen.
Sivitsky geht auf die Abhängigkeit Weißrusslands und die wirtschaftlichen Vorteile ein, die es aus dem Verhältnis mit Russland zieht. Nach von ihm zitierten Angaben des Internationalen Währungsfonds beliefen sich die Subventionen Russlands für das Land von 2005 bis 2015 auf 106 Mrd. USD oder rund 9,7 Mrd. USD pro Jahr. Das Volumen der Gesamtunterstützung durch Rabatte auf russische Energie und Kredite hätte zwischen 11 und 27 Prozent des weißrussischen Bruttoinlandsprodukts betragen. Ergänzend ist dazu anzumerken, dass nach Berechnungen des Warschauer Zentrums für Oststudien sich die Schulden Weißrusslands gegenüber Russland derzeit auf rund 7,8 Milliarden US-Dollar belaufen. Darüber hinaus habe Minsk vom Eurasischen Fonds für Stabilisierung und Entwicklung, der auf der Grundlage russischer Mittel eingerichtet wurde, zusätzliche Kredite in Höhe von rund 2,7 Mrd. USD aufgenommen und ein Exportdarlehen in Höhe von 9,5 Mrd. USD für den Bau des Atomkraftwerks Astravez erhalten.
Vor dem Hintergrund der weißrussischen wirtschaftlichen Abhängigkeit geht der Autor auf Moskaus „Ultimatum“ ein, das Minsk am 6. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrats in St. Petersburg gestellt wurde. Dieses bestünde darin, Belarus keine Preisnachlässe für Gas und keinen Ausgleich von Verlusten aus dem Ölgeschäft zu gewähren bis, wie Vizepremier Dmitrij Kosak klarstellte, „grundsätzliche Entscheidungen über die weitere Integration Russlands und Weißrusslands in den Unionsstaat getroffen werden“. Im darauffolgenden Jahr blockierte Moskau neue Darlehen für Minsk und machte auch andere finanzielle Hilfen für Belarus von einer tieferen Integration abhängig.
Sivitsky zufolge gehen die ultimativen Forderungen des Kremls über wirtschaftliche Aspekte hinaus und bezögen sich auf die sicherheitspolitische und militärische Integration. Dabei seien drei Zielrichtungen zu erkennen. Moskau wolle erstens gegenüber Belarus das „armenische Modell“ anwenden. Analog zu dem mit Jerewan geschlossenen Abkommen, demzufolge eine Vereinte Gruppe von Streitkräften (VGS) dem russischen Südlichen Militärbezirk und dem Vereinten Strategischen Kommando Russlands zugeordnet wurde und der Kommandeur des Südlichen Militärbezirks bei erhöhter Kriegsgefahr die Befehlsgewalt über die VGS ausübt, sollen die weißrussischen Streitkräfte in Russlands westlichen Militärbezirk integriert werden. Zweitens: Um eine angeblich große Sicherheitslücke des Unionsstaats und der westlichen Flanke Russlands zu schließen, wolle Moskau ständige russische Militärstützpunkte in Belarus einrichten. Drittens: Moskau schaffe bewusst Disproportionalitäten bei den Kampffähigkeiten, indem es Belarus nicht mit moderner militärischer Ausrüstung versorge.
Die vom Kreml gegenüber Belarus verfolgte Strategie ist, wie der Autor nachweist, nicht neu. So schlug der russische Verteidigungsminister Sergej Shojgu bereits Ende 2015 vor, analog zu den von Russland mit den von ihm anerkannten Separatistenrepubliken Abchasien und Südossetien getroffenen Regelungen, eine tiefgreifende Integration des weißrussischen Militär- und Sicherheitsapparats mit einem gemeinsamen Entscheidungszentrum in Moskau vorzunehmen. Zudem habe Russland im darauffolgenden Jahr begonnen, mechanisierte Einheiten an die belarussische Grenze zu verlegen, darunter eine motorisierte Infanteriebrigade in Klincy (Region Brjansk) und eine motorisierte Infanteriebrigade in Jelnja (Region Smolensk). Diese Dislozierungen seien mit der Notwendigkeit begründet worden, auf einen angeblich erheblichen militärischen Aufbau der NATO an den Grenzen des Unionsstaates reagieren zu müssen. Dies geschah aber über ein Jahr vor dem NATO-Gipfel 2016 in Warschau, auf dem das Bündnis beschloss, vier multinationale taktische Bataillonsgruppen in den baltischen Staaten und in Polen einzusetzen und fast vier Jahre vor den Diskussionen über den Bau einer permanenten US-Militärbasis in Polen.
https://www.fpri.org/wp-content/uploads/2019/12/rfp3-sivitsky.pdf
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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