Reviewed Publication:
Noël Jean-Christophe What Is Digital Power? Paris Ifri November 2019
Der ehemalige Offizier der Armée de l’Air Française, Jean-Christophe Noël, gibt mit seiner Studie einen Ansatz zur Definition „digitale Macht“ (digital power). Digitale Macht sei die Fähigkeit eines Akteurs, das Verhalten anderer Akteure in internationaler Dimension durch die Anwendung digitaler Daten zu beeinflussen. Dazu müsse er ein günstiges Ökosystem schaffen, Daten und Netzwerke kontrollieren und die eigenen digitalen Fähigkeiten mit solchen aus der analogen Welt koordinieren können. Digitale Macht kombiniere zahlreiche denkbare (und sich teils widersprechende) Facetten: Sie sei beispielsweise sowohl konventionell als auch netzwerk-orientiert, befreiend und überwachend, asymmetrisch und begrenzt.
Der Autor zeigt die Schwierigkeit auf, digitale Macht mit den bestehenden Definitionen und Kategorien von Macht zu erklären. So gäbe es bei digitaler Macht beispielsweise keinen definierbaren Raum im Sinne eines (geographischen) Gebietsanspruches. Ob es sich bei Cyberspace um einen macht-definitorisch abgrenzbaren Raum handele, sei umstritten. Noël schlägt daher vor, digitale Macht in Bezug auf Netzwerke statt auf Räume zu verstehen. Machtvolle Netzwerke habe es in der Geschichte schon immer gegeben. Der Autor erwähnt unter anderem die Seebünde des antiken Griechenlands oder die maritimen Verbindungen zur Entdeckung der Neuen Welt. Der Cyberspace als Netzwerk werde nicht nur von Staaten, sondern auch von Firmen und Individuen geformt, wodurch Staaten kein Machtmonopol errichten könnten.
Noël wendet sich in einem nächsten Schritt den Abläufen (practices) des Cyberspaces zu: Wesentliches Element einer Definition digitaler Macht müsse die Art der Nutzung digitaler Ressourcen im Cyberspace sein. Von daher sei Angriffssoftware bedeutend. Diese sei nur einmal einsetzbar (one-strike weapon): Mit einem (Erst-) Einsatz werde sie für den Gegner entdeckbar, so dass dieser sie analysieren und Gegenmaßnahmen entwickeln könne. Gleichfalls müsse der Angreifer entscheiden, ob er sich zu erkennen geben wolle oder ob er riskiere, dass der Gegner den Angriff gar nicht als solchen (oder als einen eines anderen, vermeintlichen Gegners) identifiziere und damit die gewünschte Machtdemonstration verpuffe. Machtdemonstration und Machteffizienz stünden daher im Cyberspace in einem erheblichen Zielkonflikt.
Digitale Macht, zwischenzeitlich von Noël nicht nur als digital power sondern auch als Cyberpower bezeichnet, habe die Interessens- und Motivationslage von Staaten und Individuen nicht verändert, sondern trage zu der Vielfalt der Ausprägungen von Wettbewerb und Konfrontation bei. Daher bestünde die Herausforderung darin, digitale Macht mit den Mitteln konventioneller militärischer Macht zu verbinden, wobei letztere eine Einschränkung ersterer darstellen könne: Digitale Supermächte wie China und Russland würden beispielsweise einen offenen digitalen Konflikt mit den USA meiden, weil sie deren Reaktion mittels konventioneller Militäreinsätze befürchteten.
Noël führt aus, wieso Offensivmaßnahmen das bevorzugte Mittel im Einsatz von digitaler Macht darstellten: Der Zugang zum Netzwerk des Cyberspace sei erschwinglich und einfach herzustellen, das Kosten-Wirkung-Verhältnis sei vergleichsweise niedrig. Fehlschläge, selbst wenn diese einem Aggressor zurechenbar seien (naming and shaming), hätten geringe Konsequenzen eines Gegenschlags. Das angegriffene System sei einfach im Netzwerkverbund identifizierbar, während der Angreifer verdeckt operieren könne. Letztlich könne sich der Verteidiger nicht auf alle erdenklichen Angriffsszenarien vorbereiten.
Nicht nur nicht-staatliche Akteure seien Teil des Cyberspace, auch Konfliktmethoden aus der Wirtschaftswelt spielten vermehrt eine Rolle. So ginge es bei digitaler Macht vorrangig nicht darum, einen vernichtenden (Erst-) Angriff auf den Gegner zu starten, sondern dessen Infrastruktur zu infiltrieren, für die eigenen Interessen zu nutzen und auf Wunsch zu lähmen. Das Spielfeld digitaler Macht sei daher die Grauzone zwischen Krieg und Frieden.
Vor allem im Bereich der politischen Kriegsführung (political warfare, von George Kennan in Anlehnung an Clausewitz‘ „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ entwickelt) spiele digitale Macht eine Rolle, indem direkt auf die Beeinflussung der Wahrnehmung und die politische Einstellung der Zivilbevölkerung gezielt werde. Sie werde in dieser Form unter anderem von Unternehmen (wie facebook) durch die Sammlung und Nutzung von Daten ausgeübt. Digitale Macht könne dabei ihr Ziel kontrollieren und diesem das Gefühl vermitteln es sei zufrieden. Sie setze auf eine Kontrolle des Geistes statt des Körpers und könne daher ein Abwenden von Gewalt darstellen.
Noël verweist auf die bisherige Entwicklungsgeschichte der Digitalisierung. Digitale Macht, so der Verfasser, entwickle sich kontinuierlich mit neuen Erfindungen fort und hänge unabdingbar mit dem Verfügen über state-of-the-art-Technologien zusammen. Er zeigt ebenfalls Herausforderungen von Ansätzen einer Regulierung auf. In seiner Zusammenfassung erwähnt Noël staatliche, erst recht sicherheitspolitische und militärische, Komponenten digitaler Macht nicht mehr, sondern widmet sich bevorzugt den Problemen des Individuums hinsichtlich der Kontrolle seiner digitalen Daten.
https://www.ifri.org/en/publications/etudes-de-lifri/what-digital-power
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Kriege und Kriegsgefahren im kommenden Jahrzehnt
- Nordkoreas Cyber-Krieg Strategie: Kontinuität und Wandel
- Afghanistan: Droht durch die „Friedensvereinbarung“ eine Vietnamisierung des Konflikts?
- Operative Anpassung von NATO-Streitkräften seit der Krim: Muster und Divergenzen
- Kurzanalysen und Berichte
- Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers
- Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten
- Was verrät uns das russische Großmanöver Tsentr-2019?
- Literaturbericht
- Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studie
- Sicherheit in Nordeuropa
- Robert M. Klein/Stefan Lundqvist/Ed Sumangil/Ulrica Pettersson: Baltics Left of Bang. The Role of NATO with Partners in Denial-Based Deterrence. Stockholm: Strategic Forum, 2019
- Arseny Sivitsky: Belarus-Russia: From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum. Philadelphia, PA: Foreign Policy Research Institute (FPRI), Dezember 2019
- Maria Domańska/Szymon Kardaś/Marek Menkiszak/Jadwiga Rogoża/Andrzej Wilk/Iwona Wiśniewska/Piotr Żochowski: Fortress Kaliningrad. Ever Closer to Moscow. Warschau: Center for Eastern Studies (OSW), November 2019
- Verteidigung im Rahmen der NATO
- Claudia Major: Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
- Colin Smith/Jim Townsend: Not enough Maritime Capability. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Pauli Järvenpää/Claudia Major/Sven Sakkov: European Strategic Autonomy. Operationalising a Buzzword. Tallinn: International Center for Defence and Security/Konrad Adenauer Foundation, 2019
- Russland
- Susanne Oxenstierna/Fredrik Westerlund/Gudrun Persson/Jonas Kjellén/Nils Dahlqvist/Johan Norberg/Martin Goliath/Jakob Hedenskog/Tomas Malmlöf/Johan Engvall: Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective, Stockholm: FOI, Dezember 2019
- Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
- Pavel Baev: Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing. Paris: Ifri, August 2019
- Philip Hanson: Russian Economic Policy and the Russian Economic System. Stability versus Growth. London: Chatham House, Dezember 2019
- Globale Großmachtrivalität
- Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
- Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
- Chris Dougherty: Why America Needs a New Way of War. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Patrick M. Cronin/Ryan Neuhard: Total Competition. China’s Challenge in the South China Sea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Januar 2020
- Chinas Belt and Road Initiative und Europa
- Frank Jüris: The Talsinki Tunnel. Channeling Chinese Interests into the Baltic Sea. Talllin: ICDS, Dezember 2019
- Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
- Cyberspace
- Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
- Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
- Jean-Christophe Noël: What Is Digital Power? Paris: Ifri, November 2019
- Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Buchbesprechungen
- Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
- Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
- Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
- David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
- Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
- Bildnachweise
- Translated Articles (e-only)
- North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Kriege und Kriegsgefahren im kommenden Jahrzehnt
- Nordkoreas Cyber-Krieg Strategie: Kontinuität und Wandel
- Afghanistan: Droht durch die „Friedensvereinbarung“ eine Vietnamisierung des Konflikts?
- Operative Anpassung von NATO-Streitkräften seit der Krim: Muster und Divergenzen
- Kurzanalysen und Berichte
- Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers
- Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten
- Was verrät uns das russische Großmanöver Tsentr-2019?
- Literaturbericht
- Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studie
- Sicherheit in Nordeuropa
- Robert M. Klein/Stefan Lundqvist/Ed Sumangil/Ulrica Pettersson: Baltics Left of Bang. The Role of NATO with Partners in Denial-Based Deterrence. Stockholm: Strategic Forum, 2019
- Arseny Sivitsky: Belarus-Russia: From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum. Philadelphia, PA: Foreign Policy Research Institute (FPRI), Dezember 2019
- Maria Domańska/Szymon Kardaś/Marek Menkiszak/Jadwiga Rogoża/Andrzej Wilk/Iwona Wiśniewska/Piotr Żochowski: Fortress Kaliningrad. Ever Closer to Moscow. Warschau: Center for Eastern Studies (OSW), November 2019
- Verteidigung im Rahmen der NATO
- Claudia Major: Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
- Colin Smith/Jim Townsend: Not enough Maritime Capability. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Pauli Järvenpää/Claudia Major/Sven Sakkov: European Strategic Autonomy. Operationalising a Buzzword. Tallinn: International Center for Defence and Security/Konrad Adenauer Foundation, 2019
- Russland
- Susanne Oxenstierna/Fredrik Westerlund/Gudrun Persson/Jonas Kjellén/Nils Dahlqvist/Johan Norberg/Martin Goliath/Jakob Hedenskog/Tomas Malmlöf/Johan Engvall: Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective, Stockholm: FOI, Dezember 2019
- Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
- Pavel Baev: Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing. Paris: Ifri, August 2019
- Philip Hanson: Russian Economic Policy and the Russian Economic System. Stability versus Growth. London: Chatham House, Dezember 2019
- Globale Großmachtrivalität
- Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
- Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
- Chris Dougherty: Why America Needs a New Way of War. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Patrick M. Cronin/Ryan Neuhard: Total Competition. China’s Challenge in the South China Sea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Januar 2020
- Chinas Belt and Road Initiative und Europa
- Frank Jüris: The Talsinki Tunnel. Channeling Chinese Interests into the Baltic Sea. Talllin: ICDS, Dezember 2019
- Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
- Cyberspace
- Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
- Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
- Jean-Christophe Noël: What Is Digital Power? Paris: Ifri, November 2019
- Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Buchbesprechungen
- Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
- Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
- Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
- David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
- Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
- Bildnachweise
- Translated Articles (e-only)
- North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change