Reviewed Publication:
Major Claudia Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive Berlin Stiftung Wissenschaft und Politik 2019
In dieser umfangreichen Studie erörtert Dr. Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Rolle der NATO für Europas Verteidigung vor dem Hintergrund der seit 2014 erheblich veränderten sicherheitspolitischen Lage. Vor der russischen Annexion der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine lag der Fokus der Allianz vor allem auf Krisenmanagement, mittlerweile ist die Bündnisverteidigung wieder in den Fokus gerückt. Die Studie hat drei Teile. Im ersten Teil geht es um die besagten Veränderungen seit 2014 und die deutsche Perspektive darauf. Im zweiten Teil geht es um Schlüsselfaktoren, die darüber entscheiden, inwieweit die NATO auch unter veränderten Bedingungen funktional bleibt. Zum Ende gibt die Studie einen Ausblick und Politikempfehlungen für die NATO und Deutschland.
Die NATO steht im Zentrum deutscher Verteidigungspolitik und umgekehrt ist die Bundesrepublik ein wichtiger Akteur innerhalb der Allianz. Seit 2014 hat sich Deutschland verstärkt in der NATO engagiert, bleibt allerdings in vielen Bereichen weit hinter den Erwartungen der Alliierten zurück. Ziel der Bundesregierung ist es, die Handlungsfähigkeit der Allianz unter den sich verändernden Umständen zu erhalten. Ob das gelingt, hängt vor allem von drei Faktoren ab: Einigung über politisch-strategische Fragen, die Entwicklung angemessener Prozesse und Strukturen und die Zurverfügungstellung ausreichender Ressourcen. Die einzelnen Faktoren werden in der Studie näher analysiert.
Ohne ein gewisses Maß an politischer Geschlossenheit sei die NATO nicht handlungsfähig. Aufgrund ihrer individuellen Geschichte, Geographie und strategischen Kultur bewerteten die einzelnen Mitglieder der Allianz sicherheitspolitische Fragen allerdings oft unterschiedlich. Es gibt unter anderem inhaltliche Konflikte beim Umgang mit Russland, Nuklearwaffen, Lastenteilung und dem Verhältnis zu China. Bei der Debatte um den Umgang mit Russland beispielsweise gehe es nicht nur um die Ziele der Allianz, sondern auch um den Einsatz von limitierten Mitteln.
Neben den inhaltlichen Konflikten spiele auch die militärische Handlungsfähigkeit eine große Rolle. Die NATO müsse glaubhaft Abschreckung gewährleisten können, ohne dabei Stabilisierungsaufgaben zu vernachlässigen: „Dies erfordert Anpassungen bei den militärischen Kräften, der Kommandostruktur und den Entscheidungsprozessen.“ Ein wichtiges Thema sei dabei die militärische Mobilität. Im Falle eines Konfliktes müsse die NATO in der Lage sein, Truppen schnell zu verlegen. Auf diesem Gebiet habe sich viel getan, aber noch sei viel zu tun, damit Truppen und Material im Krisenfall schnell genug bewegt werden können.
Die zur Verfügung stehenden Ressourcen seien ein weiterer Erfolgsfaktor für die Handlungsfähigkeit der Allianz. Die Autorin erinnert daran, dass der Streit um eine faire Verteilung der Lasten innerhalb der Allianz nichts Neues ist. Über Lastenverteilung werde schon seit der Gründung der NATO debattiert. Nicht zuletzt dank US-Präsident Trump stehe das 2-Prozent Ziel im Fokus der öffentlichen Diskussion. Viele NATO-Staaten, inklusive Deutschland, hätten seit 2014 mehr Geld für Verteidigung ausgegeben. Belastbare Planungen darüber, wie Deutschland das zugesagte 2-Prozent Ziel erreichen will, gibt es aber nicht. Auch andere Vorgaben, beispielsweise das Investitionsziel, erreicht Deutschland nicht. Neben den Auswirkungen auf die Bundeswehr stehe damit Deutschlands Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Die Studie verweist darauf, dass Verteidigung innenpolitisch weiterhin ein kontroverses Thema ist. Die Autorin fasst die Problematik wie folgt zusammen: „Im Ergebnis definiert häufig der innenpolitisch angenommene zumutbare Konsens die Grenze des NATO-Engagements. Daraus resultiert oft eine Lücke zwischen dem politischen Bekenntnis zum Bündnis und der Praxis.“
Seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gab es wiederholt die Sorge, dass die USA ihr Engagement bei der NATO erheblich reduzieren könnten. Die Studie macht klar, dass dies in vielerlei Hinsicht ein großes Problem für die Allianz wäre. Die USA sind nicht nur militärisch von zentraler Bedeutung, sie sind auch politisch eine Führungsmacht. Die Studie schlussfolgert: „Mit reduzierten US-Beiträgen oder gänzlich ohne sie kann die NATO ihre Kernaufgaben in absehbarer Zeit nicht erfüllen.“ Es werden drei mögliche Entwicklungsszenarien für die NATO skizziert. Im ersten Szenario bleibt der Status quo weitestgehend bestehen. Die Zusammenarbeit auf Arbeitsebene funktioniert, Trump verbuche die Steigerung der Verteidigungshaushalte als politischen Erfolg. Existierende Grenzen der Handlungsfähigkeit blieben zum größten Teil bestehen. In einem alternativen Szenario reduzierten die USA ihre Rolle und die Allianz europäisiert sich. Frankreich, Deutschland und Großbritannien übernähmen Führungsrollen. Andere europäische Staaten erkennten an, dass eine ausschließliche Fokussierung auf die bilateralen Beziehungen zu den USA zu riskant sei. Erhebliche inhaltliche Differenzen würden überbrückt. Frankreich und Großbritannien übernehmen die nukleare Abschreckung.
Folgendes Szenario dürfte allerdings am realistischen sein: Die USA reduzieren ihr politisches und militärisches Engagement in der NATO. Als Reaktion darauf spaltete sich Europa. Einige Staaten (vor allem aus Mittel- und Osteuropa) setzten auf ihr bilaterales Verhältnis zu den USA, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Andere Staaten strebten unter Führung Frankreichs und Deutschlands „strategische Autonomie“ an und bauten die militärische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union aus. Die NATO selbst würde an Bedeutung verlieren. Dieses Szenario sollte insbesondere Deutschland zu denken geben.
Die Studie beinhaltet eine Reihe von spezifischen und realistischen Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung. Die Autorin empfiehlt einen Doppelansatz: „Eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Allianz bei gleichzeitigem Bemühen, die transatlantischen Beziehungen zu stabilisieren und die US-Zusagen für Europas Verteidigung langfristig zu sichern.“ Insgesamt ist die vorliegende Studie ein wertvoller und lesenswerter Beitrag für die anhaltende Diskussion über die Zukunft der NATO.
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2019S25_mjr_Web.pdf
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Kriege und Kriegsgefahren im kommenden Jahrzehnt
- Nordkoreas Cyber-Krieg Strategie: Kontinuität und Wandel
- Afghanistan: Droht durch die „Friedensvereinbarung“ eine Vietnamisierung des Konflikts?
- Operative Anpassung von NATO-Streitkräften seit der Krim: Muster und Divergenzen
- Kurzanalysen und Berichte
- Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers
- Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten
- Was verrät uns das russische Großmanöver Tsentr-2019?
- Literaturbericht
- Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studie
- Sicherheit in Nordeuropa
- Robert M. Klein/Stefan Lundqvist/Ed Sumangil/Ulrica Pettersson: Baltics Left of Bang. The Role of NATO with Partners in Denial-Based Deterrence. Stockholm: Strategic Forum, 2019
- Arseny Sivitsky: Belarus-Russia: From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum. Philadelphia, PA: Foreign Policy Research Institute (FPRI), Dezember 2019
- Maria Domańska/Szymon Kardaś/Marek Menkiszak/Jadwiga Rogoża/Andrzej Wilk/Iwona Wiśniewska/Piotr Żochowski: Fortress Kaliningrad. Ever Closer to Moscow. Warschau: Center for Eastern Studies (OSW), November 2019
- Verteidigung im Rahmen der NATO
- Claudia Major: Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
- Colin Smith/Jim Townsend: Not enough Maritime Capability. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Pauli Järvenpää/Claudia Major/Sven Sakkov: European Strategic Autonomy. Operationalising a Buzzword. Tallinn: International Center for Defence and Security/Konrad Adenauer Foundation, 2019
- Russland
- Susanne Oxenstierna/Fredrik Westerlund/Gudrun Persson/Jonas Kjellén/Nils Dahlqvist/Johan Norberg/Martin Goliath/Jakob Hedenskog/Tomas Malmlöf/Johan Engvall: Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective, Stockholm: FOI, Dezember 2019
- Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
- Pavel Baev: Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing. Paris: Ifri, August 2019
- Philip Hanson: Russian Economic Policy and the Russian Economic System. Stability versus Growth. London: Chatham House, Dezember 2019
- Globale Großmachtrivalität
- Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
- Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
- Chris Dougherty: Why America Needs a New Way of War. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Patrick M. Cronin/Ryan Neuhard: Total Competition. China’s Challenge in the South China Sea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Januar 2020
- Chinas Belt and Road Initiative und Europa
- Frank Jüris: The Talsinki Tunnel. Channeling Chinese Interests into the Baltic Sea. Talllin: ICDS, Dezember 2019
- Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
- Cyberspace
- Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
- Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
- Jean-Christophe Noël: What Is Digital Power? Paris: Ifri, November 2019
- Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Buchbesprechungen
- Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
- Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
- Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
- David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
- Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
- Bildnachweise
- Translated Articles (e-only)
- North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Kriege und Kriegsgefahren im kommenden Jahrzehnt
- Nordkoreas Cyber-Krieg Strategie: Kontinuität und Wandel
- Afghanistan: Droht durch die „Friedensvereinbarung“ eine Vietnamisierung des Konflikts?
- Operative Anpassung von NATO-Streitkräften seit der Krim: Muster und Divergenzen
- Kurzanalysen und Berichte
- Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers
- Sicherheitspolitische Dilemmata der baltischen Staaten
- Was verrät uns das russische Großmanöver Tsentr-2019?
- Literaturbericht
- Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studie
- Sicherheit in Nordeuropa
- Robert M. Klein/Stefan Lundqvist/Ed Sumangil/Ulrica Pettersson: Baltics Left of Bang. The Role of NATO with Partners in Denial-Based Deterrence. Stockholm: Strategic Forum, 2019
- Arseny Sivitsky: Belarus-Russia: From a Strategic Deal to an Integration Ultimatum. Philadelphia, PA: Foreign Policy Research Institute (FPRI), Dezember 2019
- Maria Domańska/Szymon Kardaś/Marek Menkiszak/Jadwiga Rogoża/Andrzej Wilk/Iwona Wiśniewska/Piotr Żochowski: Fortress Kaliningrad. Ever Closer to Moscow. Warschau: Center for Eastern Studies (OSW), November 2019
- Verteidigung im Rahmen der NATO
- Claudia Major: Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung – Stand und Optionen zur Weiterentwicklung aus deutscher Perspektive. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
- Colin Smith/Jim Townsend: Not enough Maritime Capability. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Pauli Järvenpää/Claudia Major/Sven Sakkov: European Strategic Autonomy. Operationalising a Buzzword. Tallinn: International Center for Defence and Security/Konrad Adenauer Foundation, 2019
- Russland
- Susanne Oxenstierna/Fredrik Westerlund/Gudrun Persson/Jonas Kjellén/Nils Dahlqvist/Johan Norberg/Martin Goliath/Jakob Hedenskog/Tomas Malmlöf/Johan Engvall: Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective, Stockholm: FOI, Dezember 2019
- Finish Ministry of Defence: Russia of Power. Helsinki, Juni 2019
- Pavel Baev: Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing. Paris: Ifri, August 2019
- Philip Hanson: Russian Economic Policy and the Russian Economic System. Stability versus Growth. London: Chatham House, Dezember 2019
- Globale Großmachtrivalität
- Angela Stent: Russia and China. Axis of Revisionists? Washington, D.C.: The Brookings Institution, February 2020
- Bruce Jones: China and the return of great power strategic competition. Washington, D.C.: The Brookings Institution, Februar 2020
- Chris Dougherty: Why America Needs a New Way of War. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Patrick M. Cronin/Ryan Neuhard: Total Competition. China’s Challenge in the South China Sea. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Januar 2020
- Chinas Belt and Road Initiative und Europa
- Frank Jüris: The Talsinki Tunnel. Channeling Chinese Interests into the Baltic Sea. Talllin: ICDS, Dezember 2019
- Steven Blockmans/Weinian Hu: Systemic Rivalry and Balancing Interests: Chinese Investment meets EU Law on the Belt and Road. Brüssel: CEPS, März 2019
- Cyberspace
- Lillian Ablon/Anika Binnendijk/Quentin E. Hodgson/Bilyana Lilly/Sasha Romanosky/David Senty/Julia A. Thompson: Operationalizing Cyberspace as a Military Domain. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., Juni 2019
- Beyza Unal: Cybersecurity of NATO’s Space-based Strategic Assets. London: Chatham House, Juli 2019
- Jean-Christophe Noël: What Is Digital Power? Paris: Ifri, November 2019
- Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
- Buchbesprechungen
- Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
- Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
- Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
- David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
- Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
- Bildnachweise
- Translated Articles (e-only)
- North Korea’s Evolving Cyber Strategies: Continuity and Change