Reviewed Publication:
Baev Pavel Russian Nuclear Modernization and Putin’s Wonder-Missiles. Real Issues and False Posturing Paris Ifri August 2019
Mit seiner Ansprache an die Föderale Versammlung seines Landes am 1. März 2018 ließ der russische Präsident Vladimir Putin im Westen aufhorchen. Großen Stellenwert hatten darin die geplanten Modernisierungen bei den russischen Nuklearstreitkräften. Vor allem kündigte Putin vier neuartige Großprojekte an: Ein hypersonisches Gleitsystem (Avangard), das mit einer Geschwindigkeit von bis zu Mach 20 gleichzeitig extrem manövrierfähig sein soll; eine luftgestützte ballistische Rakete mit der Bezeichnung Kinzhal; einen nukleargetriebenen Marschflugkörper Burevestnik mit praktisch unbegrenzter Reichweite; und einen nukleargetriebenen Unterwassertorpedo Poseidon.
Der russische Präsident begründete die Notwendigkeit dieser kostspieligen und technisch anspruchsvollen Projekte damit, dass Russland die Möglichkeit haben müsse, amerikanische Raketenabwehrsysteme sicher überwinden zu können. Im Westen sorgten Putins neuartige Waffen für Verwunderung. Welchen Sinn würde etwa ein Nuklearantrieb für einen Marschflugkörper ergeben, und wäre ein solches Vorhaben nicht viel zu gefährlich? In der Tat scheint es bei einem Test im Rahmen des Burevestnik-Programms zu einem Absturz gekommen zu sein, und vermutlich führte der Versuch der Bergung der Wrackteile zu radioaktiven Kontaminationen und dem Tod von fünf Wissenschaftlern.
Autor Pavel Baev, Forschungsprofessor am Friedensforschungsinstitut Oslo (PRIO) und profunder Kenner russischer Kernwaffenprogramme, interessiert sich indes nicht so sehr für die technischen Parameter von Putins „Wunderwaffen“. Er hinterfragt vielmehr den Sinn dieser neuen Systeme für die russische Nukleardoktrin. Gemäß seiner Kernthese folgen die „Wunderwaffen“, anders als Putin glauben machen will, nicht strategischen Erfordernissen, sondern sind das Ergebnis des Ringens unterschiedlicher Interessengruppierungen des militärisch-industriellen Komplexes in Russland. Dies macht Baev an seinem Argument fest, wonach Moskau die amerikanischen Raketenabwehrprojekte notorisch überschätze und daher „Wunderwaffen“ gar nicht nötig wären. Doch unabhängige Experten, die die US-Raketenabwehrprojekte hinsichtlich ihrer tatsächlichen Fähigkeiten ins rechte Licht rückten, fänden im Kreml keinerlei Gehör. Zählen tue hingegen einzig und allein das Wort der mächtigen Industriebosse. Sie wollten mit ihrer Schwarzmalerei über die angeblich gefährdete nukleare Zweitschlagfähigkeit Russlands nur die Interessen ihrer durch und durch korrupten Unternehmen befördern. Das Ergebnis sei, dass Russland vor dem Hintergrund seines klammen Verteidigungshaushaltes viel zu viel Geld in eigentlich überflüssige und teure Waffensysteme investiere und seine Position im Ergebnis eher schwäche als stärke. Dabei sei die Begründung der Notwendigkeit der „Wunderwaffen“, wonach die US-Raketenabwehr die strategische Stabilität gefährde, schon deshalb nicht überzeugend, weil Moskau zugleich seine eigenen Raketenabwehrprojekte vorantreibe.
Baev hinterfragt in seinem Beitrag zu Recht die oft zu einfachen, teilweise auch naiven Aktions-Reaktions-Theoreme zur Erklärung von Rüstungsprozessen. Der oft leichtfertige Gebrauch des Begriffs „Rüstungswettlauf“ ist indikativ für diese Sichtweise. Er sollte eigentlich durchgängig durch den Terminus Rüstungsdynamik ersetzt werden, damit auch binnengetriebene Interessen und Prozesse in den Blick genommen werden können. Diese Debatte ist indes alles andere als neu. Sie stammt mindestens aus den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals war sie jedoch oft auf die wirtschaftlichen Interessen der Rüstungslobby in spätkapitalistischen Gesellschaften verengt. Die Stärke von Baevs Beitrag besteht darin, darauf hinzuweisen, dass solche interessengeleiteten Prozesse unabhängig von tatsächlichen neuen strategischen Konstellationen auch im heutigen Russland bedeutsam sind. Allerdings hätte man sich hier eine sehr viel detailliertere Analyse einzelner russischer Rüstungsunternehmen und ihres Einflusses auf Entscheidungsprozesse im Kreml gewünscht. Ungeachtet der sicherlich hohen Hürden, vor der eine entsprechende Analyse wegen der mangelhaften Quellenlage sicherlich stünde, muss doch konstatiert werden, dass Baev Publikation zwar einige interessante Hinweise gibt, ansonsten indes leider oft viel zu sehr an der Oberfläche verbleibt.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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