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Clausewitz, Corbett und Corvetten – Great Power Competition durch die Augen eines Meliers

  • Sascha H. Rackwitz EMAIL logo
Published/Copyright: June 4, 2020

Wir befinden uns derzeit in einer Phase der grundlegenden Neuordnung des internationalen Systems. Ob man den amerikanischen Terminus der „Great Power Competition“[1] oder die chinesische[2] und russische[3] Diktion einer „multipolaren Weltordnung“ zum Ausgang nimmt. Die Wahrnehmung der USA, China und Russland ist, freilich mit unterschiedlichen Vorzeichen und mit gänzlich unterschiedlichen Zielsetzungen, grundsätzlich die Gleiche. Nach bipolarer Blockkonfrontation im Kalten Krieg und einer kürzeren Phase amerikanischer Unipolarität ist unabweisbar, dass das internationale System in eine neue Ära eingetreten ist, die im Wesentlichen durch das gegenseitige Verhältnis dieser drei Akteure definiert werden wird.

In der öffentlichen Diskussion in Deutschland und selbst im Bereich der „defence professionals“ scheint diese Erkenntnis sich allerdings noch nicht hinreichend durchgesetzt zu haben. Die russische Aggression gegen die Ukraine und insbesondere die Annexion der Krim 2014 haben in Deutschland zwar zu einer Neuorientierung der deutschen Verteidigungspolitik geführt. Die Konfrontation zwischen Russland und der westlichen Welt wird aber oft als rein amerikanisch-russische Rivalität oder aber als spezifisch transatlantisches, isoliertes Phänomen wahrgenommen, wobei es um die Verhinderung eines militärischen Konflikts an der Nordostflanke des Bündnisses geht. Dass China eine strategische Herausforderung darstellt, wird zwar mittlerweile nicht mehr in Abrede gestellt, aber als separates Problem gesehen, dass vor allem durch den sich verschärfenden amerikanisch-chinesischen Gegensatz bestimmt werde und für Deutschland vor allen Dingen ökonomische Konsequenzen habe.

Diese Sichtweisen werden den Herausforderungen nicht gerecht, denen sich Deutschland gegenüber sieht. Für Deutschland geht es darum, ob die regelbasierte Ordnung und die sie stützenden internationalen Organisationen und Strukturen erhalten und wirksam bleiben. Für Deutschland ist diese Ordnung – anders als für viele andere Staaten – der einzige Rahmen zur Umsetzung nationaler Interessen; die Erhaltung dieser Ordnung ist für Deutschland nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Interesse an sich. Dies ergibt sich aus der geografischen Lage, der leidvollen Geschichte und ethischer Überzeugung. Die Wahrung der regelbasierten Ordnung hat auch eine machtpolitische Basis und von daher sind unsere Entscheidungsträger auf militärstrategische Analyse angewiesen, die die sich verschärfende Großmachtrivalität in ihrer Gesamtheit analysiert. Andernfalls droht Deutschland – und mit ihm Europa – was Thukydides vor über 2000 Jahren formulierte: „dass diejenigen, die die Macht haben, auflegen, so viel sie können, und die Schwachen ihnen gehorchen müssen.“[4] Die Konfliktlinien dieser Großmächterivalität sind mit wenigen Ausnahmen maritim bestimmt: der Indopazifik, der Nordatlantik und das Mittelmeer mit ihren Randmeeren. Deshalb ist es vor allem an den „maritime professionals“ an dieser Strategiediskussion aktiv Anteil zu nehmen und eine spezifisch maritime Perspektive einzubringen. Die folgenden Thesen sollen hierzu einen Beitrag vermitteln und versuchen Ableitungen aus einer seestrategischen Analyse zu skizzieren.

These 1: Nuklearwaffen bestimmen (weiterhin) die Militärstrategie – auch zur See

Fragen der Nuklearstrategie sind zunehmend zu einer Angelegenheit von und für Spezialisten geworden und haben sich mehr und mehr aus der politischen aber auch, und dies erscheint noch beunruhigender, der militärischen Wahrnehmung verabschiedet.[5] Mit dem Thema Nuklearwaffen lässt sich, in Deutschland zumal, politisch kein „Blumentopf gewinnen“, weder für Akademiker noch für Verteidigungspolitiker. Selbst innerhalb der Bundeswehr wird die Auseinandersetzung mit dem Thema gerne exklusiv auf die nukleare Beteiligung Deutschlands innerhalb der NATO reduziert, als wenn mit der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen militärisches Denken aussetzt. Nuklearwaffen bleiben aber ein notwendiger Ausgangspunkt für die militärstrategische Analyse. Sie setzen den Rahmen für den Nutzen konventioneller militärischer Mittel in einer Konfrontation der Großmächte und damit nicht nur für deren eigene (see-)strategische Ableitungen. Die Rolle, die USA, Russland und China ihren Nuklearwaffen zuschreiben ist umso mehr von Relevanz, als die deklaratorische Politik aller Mächte sich diametral unterscheidet.

Die chinesische No-First-Use Politik, die gerne von Atomwaffengegnern als nachahmenswert bezeichnet wird, ist in diesem Zusammenhang kein Grund zur Beruhigung. Im Kontext eines sich zuspitzenden Gegensatzes zu den USA wirkt sie eher destabilisierend, da der erklärte Verzicht auf eine Erstnutzung bzw. einen Einsatz gegen einen Nichtnuklearwaffenstaat das Trugbild der Begrenzbarkeit eines militärischen Großmächtekonflikts nährt. Nuklearwaffen dienen für China nicht der Verhinderung eines bewaffneten Konflikts durch Abschreckung, sie dienen vielmehr als Ermöglicher (enabler) einer mit konventionellen Waffen zu Lande oder zur See vorgetragenen militärischen Expansion. Sie verhindern nicht Kriege, sondern machen im Gegenteil konventionelle Kriege denkbar und planbar.[6] China präsentiert den USA ein Dilemma: Einerseits wird die Last des Überschreitens der nuklearen Schwelle allein den USA zugewiesen, gleichzeitig werden die prospektiven Kosten für eine konventionelle Intervention der USA zur Unterstützung ihrer Alliierten und strategischen Partner in die Höhe getrieben. China stellt die Vereinigten Staaten vor eine schwierige Entscheidung: Zuzugeben, dass ihre Zusicherungen gegenüber Verbündeten und Partnern im Westpazifik immer weniger einzuhalten sind und damit einen globalen Zusammenbruch des amerikanischen Bündnissystems in Kauf zu nehmen; oder zu versuchen, mit nicht-nuklearen Mitteln ihren Verpflichtungen nachzukommen, dafür aber Verluste in Kauf nehmen zu müssen, die den Fortbestand der Dominanz des amerikanischen Militärs in Frage stellen; oder als nuklearer Angreifer einen globalen Atomkrieg zu riskieren.

Das Südchinesische Meer ist der Seeraum, in dem China diese Strategie umzusetzen beginnt. Die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über das Südchinesische Meer gibt China die notwendige strategische Tiefe, um das chinesische Mutterland vor konventionellen Angriffen der USA für den Fall zu schützen, dass Washington seine Sicherheitszusagen für asiatische Verbündete gegen eine chinesische Aggression einlösen muss oder wo amerikanische Kriegsschiffe und Basen durch China angegriffen werden. Im Ergebnis wird der Westpazifik strategisch isoliert, die USA verlieren die Eskalationsdominanz und für China wird die militärische Lösung von Konflikten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu einer validen Option, ohne dass Beijing einen unkontrollierbaren Konflikt mit den USA riskieren müsste.

Russlands Strategie des „de-eskalierenden Nuklearschlags“ verfolgt auf gleichsam entgegengesetztem Weg den gleichen Zweck.[7] Es beruht auf der Annahme, dass Russland in der Lage ist zu einer schnellen, räumlich begrenzten und für kurze Zeit herstellbaren konventionellen Überlegenheit, die ausreicht einen fait accompli zu schaffen, der dann durch die Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen kurzer Reichweite und geringen Detonationswerts abgesichert wird.[8] Der Einsatz von Nuklearwaffen wird nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, er wird sogar offen angekündigt und als regelmäßiger Bestandteil des Szenariums der russischen Großübungen auch dem Westen aktiv in Erinnerung gehalten.[9] Durch die Androhung eines derart „begrenzten“ Einsatzes nuklearer Mittel soll der Osten des Bündnisgebietes, insbesondere die baltischen Staaten, strategisch vom Rest des Bündnisses abgetrennt werden: den Nuklearwaffenstaaten des Westens, insbesondere den USA, wird ein strategisches Dilemma präsentiert, entweder aufzugeben, eine russische Aggression am Ostrand der Allianz und damit letztlich den Zusammenbruch des Bündnisses hinzunehmen oder umgekehrt eine nicht kontrollierbare nukleare Eskalation zu riskieren. Der strategische Wert der von Russland in Widerspruch zum INF-Vertrag stationierten Mittelstreckenwaffen ist gerade, dass diese Waffen zwar Polen und noch Deutschland, nicht aber die Nuklearwaffenstaaten des Bündnisses erreichen können. Für die strategische Analyse ist es dabei zunächst nicht entscheidend, ob Russland einen solchen Nuklearschlag nur im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage in einem mit konventionellen Mitteln geführten Krieg ausführen oder androhen würde oder bereits frühzeitig in einem Konflikt zur quasi pre-ämptiven Absicherung eines konventionellen Vorgehens. Die damit herbeigeführte strategische Isolation des östlichen Bündnisgebietes durch die Androhung eines begrenzten Nuklearschlags ermöglicht es Russland, einen Krieg mit „beschränktem Ziel“[10] auch gegen ein Mitglied der westlichen Allianz führbar werden zu lassen, ohne eine Eskalation zu einem globalen Nuklearkrieg zu riskieren.

Beiden Ansätzen ist gemein, dass es darum geht in der unmittelbaren Nachbarschaft die Handlungsfreiheit zu gewinnen, notfalls militärische Mittel zur Verfolgung beschränkter Ziele einsetzen zu können, und dabei das Risiko einer Eskalation zu einem unbeschränkten Krieg zu reduzieren. Für China wie für Russland spielt die Kontrolle maritimer Räume dabei eine zentrale Bedeutung.

Dass China wie Russland bei grundsätzlich vergleichbarer Problemstellung Nuklearwaffen eine derart unterschiedliche Rolle zumessen liegt auch darin begründet, dass China selbstbewusst aus einer Position der Stärke heraus agiert. Russlands Politik basiert hingegen auf der Erkenntnis, dass es eine konventionelle Überlegenheit gegenüber der NATO nur punktuell und für kurze Zeit wird herstellen können.

Dies alles sind zunächst allein Ableitungen aus der Deklarationspolitik der Akteure und einer kursorischen seestrategischen Analyse der betreffenden Räume. Glücklicherweise erscheint es unwahrscheinlich, dass Russland, zumindest solange das System Putin stabil bleibt, einen der baltischen Staaten überfällt. In der Tat ist die Abschätzung der Stärke der Motivation der Akteure eine wesentliche Stellgröße für die Abschätzung der Bedrohung und folglich der Entwicklung eines Abschreckungsdispositivs.[11] Die beschriebene russische Strategie fußt auf zwei Annahmen: dass für kurze Zeit eine konventionelle Überlegenheit besteht und dass die Motivation der westlichen Bündnismitglieder und insbesondere der USA zur Verteidigung ihrer östlich gelegenen Alliierten zu schwach ist, um eine potentielle nukleare Eskalation zu riskieren. Dass umgekehrt die russische Motivation eine Systemveränderung in Europa in einer unmittelbaren bewaffneten Konfrontation zu suchen nicht hinreicht, ist die Grundlage dafür, mit der Enhanced Forward Presence (eFP)[12] lediglich eine „Tripwire Force“ für die baltischen Staaten und Polen bereit zu halten, die mittels ihrer multinationalen Zusammensetzung der Gefahr einer Aufspaltung des Bündnisses entgegenwirkt und eine beschränkte Position der Deterrence by Denial aufbaut.[13] Der schwachen Motivation Russlands wird damit ein kleines aber hinreichendes Preisschild entgegengehalten. Was aber ist die maritime Dimension dieses Stolperdrahts, welche besonderen Möglichkeiten bietet der maritime Raum Ostsee, um die Abschreckungsposition der NATO zu stärken?

These 2: „Anti-Access/Area Denial“ hat wenig mit „Sea Denial“ und viel mit „Sea Control“ zu tun[14]

Undisputed Sea Control im Südchinesischen Meer, oder Maritime Supremacy, wie die US Navy es nennen würde, ist für China die notwendige Voraussetzung, um konventionelle amerikanische Streitkräfte auf Distanz zu halten. Die USA stehen vor dem Dilemma, entweder die moralische Niederlage zu akzeptieren, hohe Verlustzahlen der eigenen Kräfte oder eine nukleare Eskalation eines Krieges mit aus amerikanischer Sicht doch eigentlich nur „kleinem politischen Zweck“[15] zu riskieren, das sind die eingegangenen Bündnisverpflichtungen zu den Anrainern des Südchinesischen Meeres. Die illegale Landgewinnung Chinas im südchinesischen Meer[16] hat daher weniger mit dem Zugriff auf marine Ressourcen zu tun, sondern weit mehr mit der Schaffung einer militärischen Infrastruktur, die es erlauben soll den eigenen Sensor- und Wirkungsradius soweit in den Pazifik hinauszuschieben, dass es amerikanischen Verbänden unmöglich wird, ohne unmittelbare eigene Gefährdung gegen das chinesische Festland zu wirken. Erst damit gewinnt China die Handlungsfreiheit, um eine glaubwürdige militärische Position zur Durchsetzung eigener Interessen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft aufzubauen, insbesondere gegenüber Taiwan. China könnte seine Politik im Westpazifik ohne Einmischung von außen durchsetzen. Die einzige Bedrohung läge dann in einer möglichen maritimen Fernblockade, die drohte China einerseits von überlebenswichtigen Rohstoff- und Energieimporten und andererseits von seinen Absatzmärkten abzuschneiden. Aber dieser Blockade kann China durch eine Stärkung der Autarkiefähigkeit seiner Volkswirtschaft und den Aufbau einer Kette von strategischen Positionen auf dem Kontinent und entlang der Seehandelsrouten entgegen wirken. Beides ist bereits heute Teil chinesischer Politik: „China 2049“ und die „Belt and Road Initiative“.[17]

Für Russland ergibt sich unmittelbar vor dessen Haustür ebenfalls eine komplexe strategische Lage, die sich im Vergleich zu China durch die umfassende Institutionalisierung der Bündniszusagen in NATO und EU eher noch komplizierter darstellt. Besonders interessant erscheint die Situation in der Ostsee und hier insbesondere die der russischen Exklave Kaliningrad. Einerseits bietet Kaliningrad eine seestrategische Position von der aus in weite Teile der östlichen und mittleren Ostsee hineingewirkt werden kann und die gleichzeitig die Landverbindungswege von Polen ins Baltikum bedroht. Andererseits ist Kaliningrad auf die Versorgung über See angewiesen. Kaliningrad selbst wie auch das gesamte mögliche Operationsgebiet Baltikum liegt durchweg im Wirkungsbereich von Seestreitkräften. Schließlich kann eine temporäre konventionelle Überlegenheit nur dann lange genug aufrechterhalten werden, wenn es gelingt, die beiden einzigen Wege zu neutralisieren auf denen die NATO ihre Verbündeten im Osten kurzfristig verstärken kann: auf dem Luft- oder Seeweg.

Im Konfliktfall kann es für Russland deswegen nicht ausreichen, westlichen Seestreitkräften lediglich die Nutzung der mittleren und östlichen Ostsee zu verwehren: Russland muss dieses Seegebiet beherrschen können, Sea Control ausüben können um einerseits Handlungsfreiheit zur Unterstützung eigener streitkräftegemeinsamer Operationen im Baltikum zu erlangen, Kaliningrad selbst und die Versorgungswege dorthin zu schützen sowie gleichzeitig eine Verlegung von westlichen Streitkräften über die Ostsee ins Baltikum zu verhindern und die militärische wie zivile Versorgung des Baltikums zu bedrohen bzw. unterbinden zu können.

Die militärischen Potentiale aus vorgeschoben stationierten vernetzten weitreichenden Luftverteidigungssystemen, Marschflugkörpern und ballistischen Waffen, die China und Russland aufbieten, werden in der militärischen Analyse als „Anti-Access/Area Denial“ (A2AD) bezeichnet.[18] Auch wenn der Begriff (A2AD) dies auf den ersten Blick nahelegt, geht es nicht darum, die Nutzung eines Seegebiets lediglich zu verwehren – ein reiner Sea Denial wäre in der östlichen Ostsee wie im Südchinesischen Meer mit weniger Aufwand zu erreichen. A2AD ist vielmehr ein Konzept zur Erlangung von Sea Control in küstennahen und beschränkten Gewässern, das vor allem durch die Nutzung landbasierter Fähigkeiten charakterisiert wird. Dies ist kein rein definitorischer Unterschied, sondern entscheidend für unseren Umgang mit dieser Bedrohung.

Die vermutlich grundlegendste Neuausrichtung des US Marine Corps seit dem Zweiten Weltkrieg[19] sieht deswegen dessen wesentliche Rolle im Westpazifik in der Zukunft auch nicht mehr darin, unter den Bedingungen einer von der Navy errungenen Sea Control von See an Land zu operieren, sondern vielmehr diese Sea Control überhaupt erst als integraler Teil der „Naval Force“ mit seinen besonderen amphibischen Fähigkeiten zu erringen und damit Eskalationsdominanz zu erhalten: Das Marine Corps nutzt nicht den von der Navy erkämpften Zugang für amphibische Operationen, sondern es nutzt seine amphibischen Fähigkeiten, um der Navy den Zugang und damit die Möglichkeit zur Powerprojection zu öffnen: es geht um „disputed sea control“ im klassischen Sinne.

These 3: Unser drängendstes operatives Problem in der Ostsee ist nicht die Aufrechterhaltung der Seeverbindung ins Baltikum zur Nachführung und Versorgung von Streitkräften

In der Folge der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 rückte für die NATO und Deutschland die Wiedererlangung der Befähigung zur Führung eines symmetrischen Krieges in Europa wieder in den Fokus. Re-fokussierung ist das Schlagwort. Durch die Wiedererlangung und Stärkung der Fähigkeiten der NATO einen symmetrischen Krieg an Europas Ostgrenze führen zu können, soll das notwendige konventionelle Komplement zur nuklearen Abschreckung gestärkt werden. Für das Deutsche Heer bedeutet dies vor allem die Rückbesinnung auf das Gefecht der Verbundenen Waffen, die Stärkung der gepanzerten Verbände und die Befähigung zur schnellen Verlegung starker Kräfte an die Ostgrenze des Bündnisses. Für die Deutsche Marine bedeutet dies die Aufrechterhaltung der Seeverbindungswege, die an der Ostküste der USA beginnen und in den Häfen Deutschlands und dann vor allem Polens und der Baltischen Staaten enden. Die Frage stellt sich: Ist das richtig?

Natürlich käme ein militärischer Konflikt der NATO mit Russland nicht aus heiterem Himmel. Ihm würde eine Zeit sich verschärfender politischer Spannungen vorausgehen, begleitet von hybriden Aktivitäten oder Greyzone Operations. In den Augen vieler Partner und Verbündeter in NATO und EU ist Russland in der Tat bereits seit einiger Zeit dabei, die Resilienz und Entschlossenheit des Westens zu testen, nicht nur im Cyber Raum,[20] sondern selbst durch sporadische Übergriffe auf das Territorium der Baltischen Staaten.[21] Aber sollte es schon so weit sein, dass eine Verlegung schwerer Verbände aus Nordamerika nach Europa im Zuge der Zuspitzung einer Konfrontation mit Russland notwendig erscheint, dann hat Abschreckung eigentlich schon versagt. Wenn wir uns Gedanken um Konvoi Operationen über den Atlantik und in die Ostsee machen, dann sind wir mit unserer wichtigsten Aufgabe bereits gescheitert: Russland zu verdeutlichen, dass die potentiellen Kosten eine Aggression im Nordflankenraum stets größer sind als die Aussichten auf Erfolg.

Eine Abschreckungsposition, die auf einer Tripwire Force basiert, die die Verlegung starker Verbände über strategische Distanzen auslösen soll, ist angreifbar für eine Strategie, die auf Schnelligkeit und strategischer Isolation beruht. Seestreitkräfte allerdings können dabei ein zusätzliches Abschreckungsmoment bieten, welches bereits zu einem Zeitpunkt einsetzt, bevor die Entsendung von Verstärkungskräften und mithin deren Schutz in einem von Russland für sich reklamierten Seegebiet notwendig wird. Die sich überlappende doppelte Insellage von baltischen Staaten einerseits und Exklave Kaliningrad andererseits ist hierfür der Schlüssel. Die russische Position in der Ostsee ist aufgrund der exponierten Lage Kaliningrads bei weitem nicht so vorteilhaft, wie eine geschickte russische Propaganda uns glauben machen will. Kaliningrad ist essentiell für die Durchsetzung russischer Sea Control in der mittleren bis östlichen Ostsee, kann aber von See aus bedroht werden; der Zugang zu Baltysk ist einfach zu sperren und die Seeverbindungswege von Kaliningrad durch den Finnischen Meerbusen nach St. Petersburg können einfach unterbrochen werden.[22]

Während die auf das Territorium der Baltischen Staaten und Polens festgelegten „Tripwire Forces“ der eFP nur ein Element der Deterrence by Denial darstellen, bietet allein die maritime Domäne die Möglichkeit, ohne die Gefahr einer nuklearen Eskalation ein Element der Deterrence by Punishment hinzu zu stellen: Russland hätte durch eine Aggression auch unmittelbar etwas von Wert zu verlieren, noch bevor die Maschinerie der NATO richtig anläuft, was die Abschreckungsposition des Westens um ein wesentliches psychologisches Element ergänzt.[23] Seestreitkräften kommt in der Ostsee nicht nur die Rolle der Defensive, des Schutzes der Seeverbindungswege ins Baltikum zu. In den Begriffen des britischen Marinehistorikers und Strategen Julian Corbett: die Rolle von Seestreitkräften in der Ostsee ist bereits im Frieden die tactical offensive im Rahmen einer defensive strategy.[24] Wie mit der Enhanced Forward Presence bedarf es dazu nicht zwangsläufig eines großen Aufwands an Kräften, diese müssen aber in der Lage sein, den russischen Anspruch auf Sea Control und Russlands Position in der Exklave Kaliningrad in Frage stellen zu können: land- und seezielfähige Flugkörper von kleinen Überwasserkampfschiffen, U-Booten und Luftfahrzeugen und Minenlegefähigkeit. Analog zur Enhanced Forward Presence ist Multinationalität ein wesentliches Moment, um die strategische Isolation des Ostflankenraums zu verhindern. Und hierin liegt der zweite große Vorteil der maritimen Domäne, die keinen Grenzübertritt und keine Stationierung erfordert. Nur auf See kann es gelingen, auch ohne formale Mitgliedschaft Schweden und Finnland in eine glaubwürdige Abschreckung des Westens einzubeziehen. Der besondere Nutzen von Seestreitkräften und insbesondere der Deutschen Marine und ihrer Partnermarinen in der Ostsee liegt vor allem im ersten Teil von „Deterrence and Defence“.

Dass der russische Appetit an der Nordflanke ernsthaftes Unheil anzurichten glücklicherweise als gering angesehen wird, sollte uns veranlassen, unsere periphere Sicht zu erweitern – auf das Mittelmeer, den Nahen Osten, den Indischen Ozean und den Pazifik, wo wir tatsächlich viel mehr auch gerade maritime Aktivitäten Russlands sehen. Tatsächlich sind vermutlich Seestreitkräfte, die im Rahmen von Operationen des Krisen- und Konfliktmanagement in das Mittelmeer oder in den Indischen Ozean entsandt sind, den NATO-Kernaufgaben „Deterrence and Defence“ genauso nahe wie ihre Kameraden im Norden. Parallelen wie Unterschiede in den strategischen Ansätzen Russlands und Chinas verweisen darauf, dass es in einem Konflikt atomar bewaffneter Großmächte keine leicht zu definierenden geografischen Grenzen gibt. Und in der Tat ist es in unserem besten Interesse als die Melier in diesem Konflikt, nicht zuzulassen, dass irgendeine Großmacht strategische Räume willkürlich isoliert. Die autokratischen Systeme versuchen, die geografischen und politischen Verwerfungslinien im Westen zu erweitern und auszunutzen. Wir sollten uns bemühen, sie nicht intellektuell zu vertiefen.

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Published Online: 2020-06-04
Published in Print: 2020-05-26

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  20. Verteidigung im Rahmen der NATO
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  41. Elsa B. Kania: Securing Our 5G Future. The Competitive Challenge and Considerations for U.S. Policy. Washington, D.C.: Center for a New American Security, November 2019
  42. Buchbesprechungen
  43. Rob de Wijk: De nieuwe wereldorde. Hoe China sluipenderwijs de macht overneemt (Die neue Weltordnung: wie China klammheimlich die Macht übernimmt) Amsterdam: Uitgeverij Balans 2019, 438 Seiten
  44. Sergio Fabbrini, 2019: Europe’s Future. Decoupling and reforming. Cambridge: Cambridge University Press, 180 Seiten
  45. Dmitry Adamsky: Russian Nuclear Orthodoxy. Religion, Politics, and Strategy. Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2019, 376 Seiten
  46. David A. Haglund: The US “Culture Wars” and the Anglo-American Special Relationship. Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan, 2019, 254 Seiten
  47. Sebastian Kaempf: Saving Soldiers or Civilians? Casualty-Aversion versus Civilian Protection in Asymmetric Conflicts. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 302 Seiten
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