Startseite Andrea Boitani/Roberto Tamborini: Crisis and Reform of the Euro-Zone. Why do we disagree? Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, März 2020
Artikel Öffentlich zugänglich

Andrea Boitani/Roberto Tamborini: Crisis and Reform of the Euro-Zone. Why do we disagree? Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, März 2020

  • Ralph Janik EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 5. Juni 2020

Reviewed Publication:

Boitani Andrea Tamborini Roberto Crisis and Reform of the Euro-Zone. Why do we disagree? Berlin Friedrich Ebert Stiftung März 2020


Die Autoren dieser Studie – zwei Ökonomen – haben es sich zum Ziel gesetzt, die streng genommen seit 2008 währende Krise der Eurozone auf einer Meta-Ebene zu betrachten: Sie versuchen, das gar vereinfachende „Norden gegen Süden“-Erklärmuster in einen breiteren Kontext einzubetten, fernab von politischem Geplänkel eine objektive Ursache zu benennen, gemeinsame Nenner zu identifizieren und Lösungsvorschläge zu bieten.

Dabei sehen sie das zentrale Problem im europäischen Sparkurs, genau genommen seiner konkreten Umsetzung: „zu früh, zu weitgehend und unkoordiniert“. Das Ergebnis war eine Art umgekehrter Keynesianismus: Austerität in schlechten statt in guten Zeiten sozusagen. Hinzu kommt eine verklausulierte Kritik an fundamentaler Kritik am Umgang mit der Krise in den USA und auch der EU: „Gewinne privatisieren, Verluste vergemeinschaften“, wie ein oft gehörter Slogan es nennt – mit Kapitalismus im genuinen Sinn hat das freilich wenig zu tun, weder Anhänger des freien Markts noch Vertreter eines „dritten Weges“ können damit zufrieden sein.

Die häufig erklingende Forderung nach „mehr Europa“ wird von den Autoren glücklicherweise differenziert dargestellt. So teilen sie diese in zwei entgegengesetzte Vorschläge auf: eine Fortentwicklung des Maastricht-Modells und, als Alternative, ein „konföderales und kooperatives Modell.“ Erstere Idee wird aus theoretischen als auch aus realpolitischen Gründen abgelehnt, würde es doch bei den Ländern des europäischen Südens auf wenig Gegenliebe stoßen. So identifizieren die Autoren das wechselseitige Misstrauen zwischen den beiden Blöcken als Ursprung der gegenwärtigen Pattsituation. Um diese aufzulösen, brauche es „wechselseitiger Abrüstung“, im Idealfall einen gemeinsamen Konsens für das zukünftige Vorgehen. Der zweite Lösungsvorschlag ist also ein Kompromiss hin zu weiterer Institutionalisierung: „mehr EU“ im genuinen Sinne, also ein weiteres Beschreiten des supranationalen Weges und geteilter Souveränität. Am Ende läuft eben doch alles auf die europäische „Ursünde“ hinaus, den Euro vor wirtschaftlicher und politischer Integration einzuführen (und nicht parallel oder gar darauffolgend). Der damalige Gedanke, Tatsachen zu schaffen und über wirtschaftliche Notwendigkeiten eine Art Integrationsmotor anzuwerfen, ist zwar bislang gescheitert, aber letztlich führt eben kein Weg daran vorbei. Daher schlagen die Autoren möglichst umsetzbare Reformen vor, die auch ohne eine derzeit wenig realistisch erscheinende maßgebliche Überarbeitung des EU-Primärrechts umsetzbar sein sollen: Das primäre Zugeständnis an den Norden bestünde dabei darin, am Maastrichter Gedanken von Budgetdefizitgrenzen nicht grundsätzlich zu rütteln und Schuldenreduktionen umzusetzen, „wo und wann sie notwendig sind“. Aber die Obergrenzen für Defizite sollten durch mittel- und langfristig nachhaltige Defizite anstelle eines verengten Blicks auf Jahresbudgets ersetzt werden. Ebenso dürfen Reformen nicht langfristig durch die Aufnahme neuer Schulden finanziert werden.

Die entscheidenden Reformvorschläge liegen allerdings in der „zweiten Säule“ dieses Modells: so müssen die Nationalstaaten ihre Maßnahmen besser aufeinander abstimmen, um makroökonomische Stabilisierung in der EU zu gewährleisten – schließlich ist „mit Ausnahme der EZB auf supranationaler Ebene niemand für die gesamte Eurozone verantwortlich“, wie die Autoren lamentieren. Die heilige Kuh der politischen Unabhängigkeit der EZB werde dadurch nicht gefährdet, zumal sie selbst aktivere und koordinierte Fiskalpolitiken fordert. Außerdem brauche es eine Strategie von parallel sharing and reduction of risks, die allerdings trotz eines Querverweises nicht näher ausgeführt wird. Drittens – und hier liegt der entscheidende Knackpunkt – müssen die nationalstaatlichen Befugnisse und Budgets zurückgefahren werden. Als ersten entscheidenden Schritt schließen sie sich der breiten Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung an sowie Ursula von der Leyens Idee eines gemeinsamen nachhaltigen europäischen Investitionsplans. Der letzte entscheidende Reformvorschlag betrifft neue Institutionen: die „Bankenunion“, also den ursprünglichen Reformvorschlag, bei dem die Verhandlungen aufgrund politischer Gegensätze ins Stocken geraten sind.

Bei alledem sind sich die Autoren der realpolitischen Hürden ihrer aus Ökonomensicht eingebrachten Reformvorschläge durchaus bewusst. Der Euro ist keine rein-wirtschaftswissenschaftliche Angelegenheit. Die EU-Mitgliedsländer müssen aus ihrem Gefangenendilemma ausbrechen, in dem sie sich nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen befinden. Wie das gelingen kann, wäre freilich ein weiteres Reflexionspapier wert.

http://library.fes.de/pdf-files/bueros/rom/16042.pdf

Published Online: 2020-06-05
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Ein schwieriger Partner: Deutschlands eigennützige Außenpolitik
  6. Multilateralismus in der deutschen Außenpolitik – eine Bilanz
  7. Bilanz der deutschen Russlandpolitik seit 1990
  8. Die friedenspolitische Ambivalenz deutscher Pipelinedeals mit Moskau – eine interdependenztheoretische Erklärung des russisch-ukrainischen Konfliktes
  9. Deutsche Sicherheitspolitik seit 1990: Auf der Suche nach einer Strategie
  10. Deutsche Verteidigungspolitik – Versäumnisse und nicht eingehaltene Versprechen
  11. Abrüstung und Nichtverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Waffen. Beiträge des vereinten Deutschland
  12. Deutschlands neuer außenpolitischer Pragmatismus
  13. Kurzanalysen und Berichte
  14. Steht ein revolutionärer Wandel des Wahlmodus bei der US-Präsidentenwahl an?
  15. Ergebnisse internationaler strategischer Studie
  16. Russland
  17. Ergebnisse internationaler strategischer Studienn
  18. Duncan Allan: The Minsk Conundrum. Western Policy and Russia’s War in Eastern Ukraine. London: Chatham House, Mai 2020
  19. Pavel Baev: Transformation of Russian Strategic Culture. Impacts From Local Wars and Global Confrontation. Paris: Institut français des relations internationales (Ifri), Juni 2020
  20. Wirtschaftliche Dimensionen internationaler Sicherheit
  21. Elizabeth Rosenberg/Peter E. Harrell/Ashley Feng: A New Arsenal for Competition. Coercive Economic Measures in the U.S.-China Relationship. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), May 2020
  22. Elisabeth Rosenberg/Jordan Tama: Strengthening the Economic Arsenal. Bolstering the Deterring and Signalling Effects of Sanctions. Washington, D.C.: Center for a new American Security (CNAS), Dezember 2019
  23. Darina Blagoeva/Claudiu Pavel/Dominic Wittmer/Jacob Huisman/Francesco Pasimeni: Materials Dependencies for Dual-Use Technologies relevant to Europe’s Defence Sector. Luxemburg: Joint Research Centre of the European Commission, 2019
  24. Rafiq Dossani/Jennifer Bouey/Keren Zhu: Demystifying the Belt and Road Initiative. A Clarification of its Key Features, Objectives and Impacts. Santa Monica: RAND Corp., Mai 2020.
  25. Naher Osten
  26. Anthony Cordesman: Iran and the Changing Military Balance in the Gulf. Net Assessment Indicators. Washington D.C.: Center for Strategic and International Studies, April 2020
  27. Muriel Asseburg: Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedsstaaten. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2020
  28. Cornelius Adebahr: Europe Needs a Regional Strategy on Iran. Brüssel: Carnegie Europe, Mai 2020
  29. Europa
  30. Andrea Boitani/Roberto Tamborini: Crisis and Reform of the Euro-Zone. Why do we disagree? Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, März 2020
  31. John Springford/Christian Odendahl: Conference Report. Five challenges for Europe. London: Centre for European Reform, December 2019.
  32. Buchbesprechungen
  33. Buchbesprechungen
  34. Thomas G. Mahnken (Hrsg.): Net Assessment and Military Strategy. Retrospective and Prospective Essay. With an Introduction by Andrew W. Marshall. Armherst, New York: Cambria Press, 2020, 272 Seiten
  35. Lawrence Freedman: Ukraine and the Art of Strategy, Oxford: Oxford University Press, 2019, 233 Seiten
  36. Keith B. Payne: Shadows on the Wall: Deterrence and Disarmament. Fairfax, VA: National Institute Press, 2020, 187 Seiten
  37. Hanns W. Maull (Hrsg.): The Rise and Decline of the Post-Cold War International Order. Oxford: Oxford University Press, 2018, 346 Seiten
  38. Daniele Ganser: Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht. Zürich: Orell Füssli Verlag 2020, 400 Seiten
  39. Bildnachweise
Heruntergeladen am 16.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-3021/html
Button zum nach oben scrollen