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Steht ein revolutionärer Wandel des Wahlmodus bei der US-Präsidentenwahl an?

  • Hans-Jochen Luhmann EMAIL logo
Published/Copyright: June 5, 2020

1 Die Schlüsselstellung des Electoral College im Wahlsystem

Bei Präsidentschaftswahlen, so auch im November dieses Jahres, wird der Präsident der USA seit Annahme der Verfassung im Jahr 1789 nicht direkt gewählt, sondern indirekt. Zwischengeschaltet ist das Electoral College, das Wahlmänner-Gremium. Diese Konstruktion war seinerzeit ein Kompromiss zwischen den beiden Positionen „direkte Volkswahl“ (popular vote) und „indirekte Wahl durch den Senat“ (indirect vote through Senate).

Die US-Bürger wählen die Mitglieder des Electoral Colleges pro Bundesstaat. Die jeweilige Zahl der Elektoren bemisst sich nach der Anzahl der Abgeordneten eines Bundesstaates im Kongress (Repräsentantenhaus und Senat) – so wurde es in der Verfassung einst festgelegt. Die Anzahl der Sitze pro Bundesstaat im Repräsentantenhaus entspricht der Verteilung der Bevölkerung; sie wird regelmäßig an den jeweils aktuellsten Zensus angepasst. Im Senat hingegen gilt – unabhängig von der Bevölkerungsgröße – die Regel one state, two votes.

Die Repräsentation der Bevölkerung im Electoral College ist somit nicht proportional, sondern entsprechend der disproportionalen Verteilung der Senatssitze verschoben. Da die Bevölkerung der USA nach Bundesstaaten extrem unterschiedlich verteilt ist, hat die Bevölkerung der bevölkerungsarmen Bundesstaaten (über ihre Senatoren-proportional zugeteilten Sitze) einen höheren Einfluss im Electoral College als die der bevölkerungsreichen Bundesstaaten. Die unterschiedliche Verteilung der Population auf Bundesstaaten ist ihrerseits Ausdruck bzw. Relikt dessen, welcher Bundesstaat wirtschaftlich mehr oder weniger erfolgreich ist. Die Senatssitze in den wirtschaftlichen „Verlierer-Staaten“ sind überwiegend in der Hand von Republikanern.

Gegenwärtig gilt mehrheitlich ein Verfahren, bei dem sämtliche Stimmen an denjenigen Kandidaten gehen, der in diesem Bundesstaat die Mehrheit der Stimmen erhalten hat – in 48 Staaten. Einzige Ausnahmen sind bislang die Staaten Maine und Nebraska: Dort werden die Wahlmänner und -frauen proportional zum Wahlergebnis aufgeteilt. Die Elektoren sind so zwar auf einen Präsidentschaftskandidaten hin bestimmt, in einigen Bundesstaaten inzwischen auch verpflichtet, gewählt wird im College jedoch geheim. Im Electoral College wird derjenige zum Präsidenten gewählt, wer dort die absolute Mehrheit der Stimmen erhält.

Das Abstimmungsverhalten ihrer Entsandten im Electoral College regeln die Bundesstaaten auf ihrer Ebene – also prinzipiell divers. Das anscheinend eherne the Winner-Takes-It-All-Prinzip ist faktisch durch Verwaltungshandeln etabliert.[1] Vor der Wahl werden dort die Parteien gebeten, je eine Liste mit Elektoren-Kandidaten einzureichen. Nach der Wahl wird gemäß der Liste derjenigen Partei berufen, deren Kandidat gewonnen hat. Das einheitliche Wahlverhalten pro Bundesstaat stellt sich dann „von alleine“ ein, weil die Elektoren eben von ihrer Partei bestimmt wurden.

Das bedeutet, dass die Bundesstaaten bei der Etablierung des the Winner-Takes-It-All Prinzips eine entscheidende Rolle spielen – es handelt sich dabei weder um eine Regelung mit Verfassungsrang noch um eine Regelung föderaler Rechtsetzung. Das Entweder-oder-Prinzip der Wahl einer Elektoren-Liste hat den speziellen Charakter des Systems der Präsidentschaftswahl mit der überstarken Fokussierung auf die sog. Swing States geschaffen.[2] Das könnte man ändern, wenn die Bundesstaaten durch deren Legislativen andere Verfahrensweisen beschließen würden.

Die mediale Stilisierung des US-Präsidentschaftswahlverfahrens weicht im Übrigen stark von der Wirklichkeit mit dem Electoral College im Mittelpunkt ab. Die Medien stellen den Zweikampf der Präsidentschaftskandidaten in aller Regel so dar, als wenn er nach bundesweit einheitlichem Mehrheitswahlrecht entschieden würde, so jedenfalls werden die Umfragewerte präsentiert. Tatsächlich handelt es sich bei dem Wahlverfahren aber um ein fragmentiertes Mehrheitswahlrecht, bei dem auch derjenige gewinnen kann, der weniger Stimmen aber mehr Vertreter im Electoral College aufweist.

2 Auf dem Weg zu einer Änderung des Wahlmodus

Das gegenwärtige indirekte Wahlsystem der USA mit dem Wahlmänner-Gremium im Zentrum gewährleistet nach Ansicht zahlreicher Beobachter nicht das gleiche Gewicht der abgegebenen Stimmen; viele bezeichnen es gar als verfassungswidrig. Besonders stößt auf, dass die derzeitige Praxis es ermöglicht, dass ein Präsidentschaftskandidat die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (popular vote nationwide) erhält und doch nicht die Mehrheit der Stimmen im Electoral College bekommt.

Im Jahre 2016 hatte der Kandidat Donald Trump die Abstimmung im Electoral College gewonnen, mit 304 (von 538) Stimmen. Hillary Clinton hingegen, die klare Verliererin im Electoral College, hatte die (relative) Mehrheit der Stimmen im national popular vote gewonnen, mit 48,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, während Donald Trump lediglich auf 46,2 Prozent gekommen war – das war ein Unterschied von drei Millionen Stimmen. Wenn in den USA das Prinzip des gleichen Gewichts aller Stimmen angewandt worden wäre, dann wäre Trump jetzt nicht Präsident.

Um das US-Wahlsystem mit dem Electoral College und den damit verbundenen Verzerrungen formal zu erneuern, bedürfte es einer Verfassungsänderung – doch die ist angesichts der tiefgreifenden Zerrissenheit im politischen System der USA auf absehbare Zeit unerreichbar. Die Besonderheit des US-Systems liegt aber darin, dass die föderale Ebene in Wahlrechtsfragen nicht viel zu entscheiden hat. Daher sind Politiker und Politikerinnen in vielen Bundesstaaten auf die Idee gekommen, sich zu verabreden, um das Abstimmungsverhalten ihrer Vertreter im Electoral College zum zentralen Ansatzpunkt für eine Reform zu machen. Die Idee ist, dieses auf Staatenebene gesetzlich so zu regeln, dass letztendlich nur das nationale Endergebnis zählt.

Seit 2006 haben mehrere US-Bundesstaaten einen National Popular Vote Interstate Compact gebildet und untereinander verabredet, für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich ein Gesetz zu verabschieden (National Popular Vote Act – NPV), in dem sich diese Staaten dazu verpflichten, dass die für ihren Bundesstaat gewählten Elektoren einheitlich für denjenigen Kandidaten stimmen, der das national popular vote gewonnen hat. Diese Gesetze treten allerdings erst dann in Kraft, wenn so viele Bundesstaaten sie beschlossen haben, dass die damit gebundenen Wahlmänner die Mehrheit im Electoral College bilden. Nach dem Ergebnis der Wahl vom November 2016 haben diese Initiativen an Momentum gewonnen – und es ist durchaus denkbar, dass sie sich durchsetzen.

National Popular Vote Acts wurden, Stand August 2020, bereits in 16 Bundesstaaten sowie im District of Columbia verabschiedet und haben dort vorläufige Gesetzeskraft erlangt. Damit würden insgesamt 196 Elektoren-Stimmen in diesem Sinne verpflichtet sein. Das entspricht bereits 36 % der Stimmen im Electoral College bzw. 73 % der 270 Stimmen, die erforderlich sind, um im Electoral College die absolute Mehrheit zu erreichen. Es fehlen 74 Stimmen.[3] Des Weiteren haben acht Bundesstaaten mit einem Wahlmännerkontingent von zusammen 82 Stimmen bereits in einer Kammer ein NPV beschlossen, in einem Bundesstaat – Nevada mit 6 weiteren Wahlmännerstimmen – haben bereits beide Häuser das Gesetz beschlossen; dieses ist aber noch nicht vorläufig in Kraft getreten.[4] In den übrigen Bundesstaaten sind zwar entsprechende Gesetzesinitiativen eingebracht worden, aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sie sich dieser Initiative anschließen werden. Das sind Staaten, die durchweg von Republikanern dominiert werden und bei denen die Idee der NPV keine große Sympathie genießt.

Es ist daher sehr wohl vorstellbar, dass in absehbarer Zeit das nationale Gesamtergebnis Dank dieser Gesetzgebung zum Maßstab der Entscheidung darüber wird, wer die Präsidentenwahl gewinnt. Sollte überraschenderweise in den noch ausstehenden Gesetzgebungsverfahren bis zur Wahl 2020 das notwendige Quorum erreicht werden, könnte es schon das Ergebnis der Wahl in diesem Jahr betreffen.

Allerdings ist eines anzufügen: Käme es je nach Zählweise zu unterschiedlichen Ergebnissen, wird die Änderung im Wahlmodus der Elektoren also entscheidungsrelevant, so ist zu erwarten, dass ein so zustande gekommenes Wahlergebnis im Electoral College vom Kandidaten der Republikanischen Partei als verfassungswidrig angefochten werden wird. Die Entscheidung darüber, wer Präsident werden wird, würde dann wohl erneut, wie schon im Jahre 2000, vom Obersten Gerichtshof der USA gefällt.

Published Online: 2020-06-05
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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