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Editorial

Veröffentlicht/Copyright: 5. Juni 2020

Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes liegt der 3. Oktober 1990 ziemlich genau dreißig Jahre zurück. An diesem Tag wurde die deutsche Einheit vollzogen und damit änderten sich das Koordinatensystem und auch die Zielrichtung der Außen-und Sicherheitspolitik der neuen Bundesrepublik Deutschland. Aus Anlass dieses Jubiläums hat die Redaktion der Zeitschrift SIRIUS zahlreiche Experten gebeten eine Bilanz der deutschen Außenpolitik der letzten dreißig Jahre zu ziehen.

Das Heft beginnt mit einem kritischen Artikel von Prof. Dr. Heribert Dieter zur Bilanz deutscher Außenpolitik seit 1990. Innerhalb der Europäischen Union sei Deutschland mittlerweile der wichtigste Akteur, dessen Gewicht in der gegenwärtigen Krise noch einmal gewachsen wäre. Deutschland habe auch für die Artikulation europäischer Positionen in der internationalen Politik eine hohe Bedeutung. Allerdings bedeute dies noch lange nicht, dass Deutschland eine akzeptierte Führungsmacht sei. Deutsche Außenpolitiker geben zwar stets vor, im Interesse aller Europäer zu handeln und betonen auch regelmäßig die Bedeutung multilateralen Foren. Tatsächlich orientiere sich deutsche Außenpolitik vor allem an wirtschaftlichen Interessen Deutschlands. Das sei besonders an der Politik gegenüber der Volksrepublik China erkennbar.

Der zweite Artikel von Prof. Dr. Hanns W. Maull befasst sich mit Multilateralismus als herausragendem Element deutscher Außenpolitik. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Multilateralismus die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik seit ihren Anfängen in sehr spezifischer Weise charakterisiere. Der Verfasser gibt einen Überblick über die Voraussetzungen, die historische Entwicklung, die spezifischen Ausprägungen und die Ergebnisse dieser Politik seit Gründung der Bundesrepublik. Der Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft über keine Alternative zu einer multilateralistischen Außen- und Sicherheitspolitik verfüge. Diese stünde jedoch vor neuen und besonders schwierigen Herausforderungen. Etliche der Rahmenbedingungen, die Deutschlands Außenpolitik in der Vergangenheit so erfolgreich agieren ließen, würden nicht mehr bestehen oder seien gefährdet.

Dr. Hannes Adomeit bilanziert die deutsche Russlandpolitik seit 1990, die durch das Bestreben gekennzeichnet war, gute bilaterale Beziehungen zu Moskau aufzubauen. Diese Politik muss heute als gescheitert angesehen werden. Dieser Artikel analysiert, wie es dazu kommen konnte, dass sich all die Hoffnungen und Erwartungen, die sich 1990 mit dem in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland und der Charta von Paris für ein neues Europa verbanden, zerschlagen haben. Er fragt, warum sowohl die Vision einer deutsch-russischen „strategischen Partnerschaft“ als auch ihre beabsichtigte Konkretisierung durch eine „Modernisierungspartnerschaft“ gescheitert sind. Der Artikel sieht die Erklärung für diese Entwicklung in der russischen Innenpolitik. Die russische Machtelite konnte auf die Angebote Deutschlands (und der EU) auf eine enge „Verflechtung“ und umfassende Zusammenarbeit nicht eingehen, weil diese ihren Wahrnehmungen zufolge den Machterhalt im eigenen Land und in der von ihr deklarierten Einflusssphäre in Mittel- und Osteuropa gefährdet hätten.

Der Beitrag von Dr. Andreas Umland kritisiert das jahrzehntelange Bestreben der deutschen Russlandpolitik, durch den Aufbau wirtschaftlicher Interdependenz einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Der Verfasser gelangt zu dem Ergebnis, dass eher das Gegenteil der Fall gewesen sei. Mit den Projekten Nordstream 1 und Nordstream 2 werde die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und der Ukraine aufgehoben, die für mehr als zwei Jahrzehnte dazu beigetragen habe, dass Russland die Ukraine auf gleicher Augenhöhe behandelt habe. Seitdem Nordstream 1 Gas aus Russland direkt nach Deutschland transportiere (2013) habe Russland begonnen, die Ukraine mit militärischen Mittel zu destabilisieren, mit Fertigstellung von Nordstream 2 werde sich dieser Trend fortsetzen. Die Verringerung der wirtschaftlichen Interdependenz infolge der Umleitung sibirischer Gasexporte in die neue Ostsee-Pipeline habe zu einem Territorialkonflikt zwischen der Ukraine und Russland geführt, der an Entwicklungen erinnert, die zuvor in Moldau und Georgien stattgefunden hatten.

Der Beitrag von Prof. Dr. Ulrich Schlie bilanziert die deutsche Sicherheitspolitik seit 1990 unter dem Gesichtspunkt von ressortübergreifendem Sicherheitsverständnis und gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge. Er arbeitet das fehlende Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Diplomatie und Militärstrategie in historischer Perspektive heraus und identifiziert die damit verbundene strategische Lücke bei der Formulierung und Implementierung der praktischen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese zeige sich insbesondere bei den außenpolitischen Debatten im Bundestag und einem wenig ausgeprägten ressortgemeinsamen, sicherheitspolitischen Verständnis der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Für eine vorausschauende, strategisch aufgestellte Sicherheitspolitik fehlten ressortübergreifende Planungs- und Analysekapazitäten, sowie die Bereitschaft, Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Militärstrategie ganzheitlich zu denken und in einem gemeinsamen sicherheitspolitischen Konzept umzusetzen.

Der Artikel von Brigadegeneral a. D. Rainer Meyer zum Felde setzt sich kritisch mit der deutschen Verteidigungspolitik nach 2014 auseinander. Während die Bundesregierung die konzeptionellen Beschlüsse der NATO-Gipfel seit 2014 zur Stärkung der Bündnisverteidigung konstruktiv mitgestaltet habe, lasse die Umsetzung dieser Beschlüsse gravierende Defizite erkennen. Die Realisierung der geleisteten langfristigen Zusagen droht zu scheitern. Es fehle am politischen Konsens der Koalitionsparteien, bei den wichtigsten Zusagen Wort zu halten. Die deutsche Politik müsse zum Münchner Konsens größerer Verantwortungsbereitschaft zurückfinden und darf einer weiteren transatlantischen Entfremdung nicht Vorschub leisten.

Der Beitrag von Dr. Oliver Thränert befasst sich mit der deutschen Politik im Bereich der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Das vereinte Deutschland setze sich mit Nachdruck für die Abrüstung und Nichtverbreitung dieser Waffen ein. Zielkonflikte mit verteidigungspolitischen Interessen wie seine Beteiligung an der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO oder wirtschaftlichen Interessen habe Deutschland bislang meistern können. Besonders sichtbar sei Deutschlands Wirken bei den internationalen diplomatischen Bemühungen gewesen, Iran vom Erwerb von Atomwaffen fernzuhalten. Da sich die Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregime aber in tiefen Krisen befänden, komme auf Deutschland – gemeinsam mit Partnern – viel Arbeit zu, um auch künftig die Verbreitung von ABC-Waffen zu verhindern.

Professor Dr. Stefan Fröhlich zieht eine im Wesentlichen positive Bilanz der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und lenkt den Blick nach vorne. Zwar werde die politische Stärke Berlins von manchen Beobachtern nach wie vor mehr als Risiko denn als Chance Europas gesehen. Unabhängig davon aber habe Berlin in den drei großen Krisen der vergangenen Jahre (Euro-, Ukraine- und Flüchtlingskrise), mit Ausnahme in der Flüchtlingskrise, nie im Alleingang gehandelt, sondern habe sich als pragmatische, durchaus erfolgreiche Führungsmacht erwiesen, die in Zusammenarbeit mit seinen Bündnispartnern agiere. Dies gelte auch für die aktuelle Herausforderung der Bewältigung der Corona-Pandemie. Darüber hinaus habe Deutschland mehrfach mit früheren außen- und sicherheitspolitischen Tabus gebrochen.

Diese Beiträge können natürlich nur einen Teil der Debatte wiedergeben. Die Redaktion von SIRIUS wird sich bemühen in den kommenden Heften auch andere Aspekte der deutschen Außenpolitik zu analysieren.

Die Kurzanalyse von Dr. Hans-Jochen Luhmann befasst sich mit einer interessanten Initiative amerikanischer Bundesstaaten, der zufolge bei künftigen Präsidentschaftswahlen das Ergebnis des national votes ausschlaggebend dafür sein soll, wer die Wahl gewinnt.

Die Besprechungen strategischer Studien befassen sich dieses Mal mit den Schwerpunkten „Russland“, den „wirtschaftlichen Dimensionen internationaler Sicherheit“ sowie dem „Nahen Osten“ und „Europa“. Die Buchbesprechungen umfassen unterschiedlichen Themen von der Wahrscheinlichkeit von Kriegen bis hin zu grundsätzlichen Fragen von Abschreckung.

Die Herausgeber

Published Online: 2020-06-05
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Ein schwieriger Partner: Deutschlands eigennützige Außenpolitik
  6. Multilateralismus in der deutschen Außenpolitik – eine Bilanz
  7. Bilanz der deutschen Russlandpolitik seit 1990
  8. Die friedenspolitische Ambivalenz deutscher Pipelinedeals mit Moskau – eine interdependenztheoretische Erklärung des russisch-ukrainischen Konfliktes
  9. Deutsche Sicherheitspolitik seit 1990: Auf der Suche nach einer Strategie
  10. Deutsche Verteidigungspolitik – Versäumnisse und nicht eingehaltene Versprechen
  11. Abrüstung und Nichtverbreitung atomarer, biologischer und chemischer Waffen. Beiträge des vereinten Deutschland
  12. Deutschlands neuer außenpolitischer Pragmatismus
  13. Kurzanalysen und Berichte
  14. Steht ein revolutionärer Wandel des Wahlmodus bei der US-Präsidentenwahl an?
  15. Ergebnisse internationaler strategischer Studie
  16. Russland
  17. Ergebnisse internationaler strategischer Studienn
  18. Duncan Allan: The Minsk Conundrum. Western Policy and Russia’s War in Eastern Ukraine. London: Chatham House, Mai 2020
  19. Pavel Baev: Transformation of Russian Strategic Culture. Impacts From Local Wars and Global Confrontation. Paris: Institut français des relations internationales (Ifri), Juni 2020
  20. Wirtschaftliche Dimensionen internationaler Sicherheit
  21. Elizabeth Rosenberg/Peter E. Harrell/Ashley Feng: A New Arsenal for Competition. Coercive Economic Measures in the U.S.-China Relationship. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), May 2020
  22. Elisabeth Rosenberg/Jordan Tama: Strengthening the Economic Arsenal. Bolstering the Deterring and Signalling Effects of Sanctions. Washington, D.C.: Center for a new American Security (CNAS), Dezember 2019
  23. Darina Blagoeva/Claudiu Pavel/Dominic Wittmer/Jacob Huisman/Francesco Pasimeni: Materials Dependencies for Dual-Use Technologies relevant to Europe’s Defence Sector. Luxemburg: Joint Research Centre of the European Commission, 2019
  24. Rafiq Dossani/Jennifer Bouey/Keren Zhu: Demystifying the Belt and Road Initiative. A Clarification of its Key Features, Objectives and Impacts. Santa Monica: RAND Corp., Mai 2020.
  25. Naher Osten
  26. Anthony Cordesman: Iran and the Changing Military Balance in the Gulf. Net Assessment Indicators. Washington D.C.: Center for Strategic and International Studies, April 2020
  27. Muriel Asseburg: Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedsstaaten. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2020
  28. Cornelius Adebahr: Europe Needs a Regional Strategy on Iran. Brüssel: Carnegie Europe, Mai 2020
  29. Europa
  30. Andrea Boitani/Roberto Tamborini: Crisis and Reform of the Euro-Zone. Why do we disagree? Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, März 2020
  31. John Springford/Christian Odendahl: Conference Report. Five challenges for Europe. London: Centre for European Reform, December 2019.
  32. Buchbesprechungen
  33. Buchbesprechungen
  34. Thomas G. Mahnken (Hrsg.): Net Assessment and Military Strategy. Retrospective and Prospective Essay. With an Introduction by Andrew W. Marshall. Armherst, New York: Cambria Press, 2020, 272 Seiten
  35. Lawrence Freedman: Ukraine and the Art of Strategy, Oxford: Oxford University Press, 2019, 233 Seiten
  36. Keith B. Payne: Shadows on the Wall: Deterrence and Disarmament. Fairfax, VA: National Institute Press, 2020, 187 Seiten
  37. Hanns W. Maull (Hrsg.): The Rise and Decline of the Post-Cold War International Order. Oxford: Oxford University Press, 2018, 346 Seiten
  38. Daniele Ganser: Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht. Zürich: Orell Füssli Verlag 2020, 400 Seiten
  39. Bildnachweise
Heruntergeladen am 8.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-3001/html
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