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Baev Pavel Transformation of Russian Strategic Culture. Impacts From Local Wars and Global Confrontation Paris Institut français des relations internationales (Ifri) Juni 2020
Pavel Baev, Forschungsprofessor am Peace Research Institute (PRIO) in Oslo, Senior Non-Resident Fellow an der Brookings Institution in Washington und Associate Research Fellow am Institut français des relations internationales (Ifri) in Paris, untersucht in dieser 22 Seiten umfassenden Studie die Transformation der strategischen Kultur Russlands. „Strategische Kultur“ hätte wohl, wie es zumindest in deutschen Landen üblich ist, eingangs definiert werden sollen. Man muss sich im Text zusammensuchen, was der Autor darunter versteht. Allerdings benennt er objektiven Faktoren und Institutionen, welche die strategische Kultur bestimmen. Zu den ersteren rechnet er die Modernisierung der Nuklearstreitkräfte mit dem Bemühen des Kremls, diese als politisches Instrument in der Konfrontation mit dem Westen einzusetzen (1. Kapitel) – ein Aspekt, den er in einer vorangegangenen Studie für Ifri behandelt hat, besprochen in Sirius 2020, 4 (2): 215–216). Weiter rechnet er dazu die Integration der Cyber-Dimension und die Strategische Partnerschaft mit China (Kapitel 2 und 3). Zu den objektiven Faktoren oder Triebkräften (drivers) gehören eigentlich auch die Erfahrungen aus den Militärinterventionen in der Ukraine (6. Kapitel) und Syrien (7. Kapitel). Diese werden allerdings – nicht ganz nachvollziehbar – zu den institutionellen Determinanten gerechnet, wo die Rolle des Oberkommandos der russischen Streitkräfte (Kapitel 5) und die „besondere Rolle“ der Seestreitkräfte (Kapitel 6) behandelt werden. Umgekehrt wäre es wohl besser gewesen, die dem Russland Putins systemimmanente „Kultur der Korruption“ (Kapitel 4) nicht den objektiven und externen, sondern den internen, institutionellen Bestimmungsfaktoren zuzuordnen. Die jeweiligen Kapitel sind für sich genommen interessant, informativ und schlüssig und fügen sich letzten Endes zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammen.
Baev sieht das System Putin als ein Regime, das zu einer „starren Autokratie“ herangereift und dessen ideologische Basis „zunehmend konservativ“ geworden sei. Das kann man so sehen, aber auch anders. Das vom Autor festgestellte Ziel Putins, den von der Sowjetunion erreichten „Großmacht“-Status zu „erhalten“ (sic), lässt sich auch als revisionistisch interpretieren, vor allem dann, wenn man Moskaus auch mit militärischen Mitteln durchgeführtes Vorgehen im postsowjetischen Raum betrachtet. Baev schließt aber gerade aus dieser Zielsetzung, dass diese dazu führe, die strategische Kultur „konservativ“ einzufärben und nicht nur die der politischen Führung, sondern auch der Streitkräfte. Vielleicht findet der Autor selbst diese Bewertung nicht ganz zutreffend, denn er schränkt den angeblichen „Konservatismus“ des Kremls mit dem Adjektiv assertive ein, was zwar nicht so scharf ist wie aggressiv, aber dem dennoch nahe kommt.
Dem Autor zufolge sind die nuklearstrategischen Fähigkeiten des Landes wichtigstes Teilstück der strategischen Kultur und Stützpfeiler des russischen „Großmacht“-Anspruchs. Ihr Vorrang bei der Modernisierung der Streitkräfte sei bereits im Staatlichen Rüstungsprogramm bis 2020 (SAP-2020) festgelegt worden. In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung 2018 habe Putin diesen Vorrang bestätigt und eine breite Palette neuer strategischer Waffensysteme vorgestellt, die mit einiger Verspätung in das SAP-2027 aufgenommen worden sind. Interessant ist Baevs Urteil, dass die politische Führung (Putin) sich zwar bemüht, die Nuklearstreitkräfte als politisches Instrument zu nutzen, die militärische Führung aber viel mehr daran interessiert sei, die Fähigkeiten zur konventionellen Abschreckung und operativen Einsätzen zu verbessern. Eines der Beweisstücke dabei sei, dass die Streitkräfte nicht für Operationen auf nuklearen Schlachtfeldern trainierten.
Die sich schnell entwickelnde Cyber-Dimension der russischen strategischen Kultur steht dem Autor zufolge in starkem Kontrast zur traditionelleren nuklearen Dimension. Russland sei zwar keine „Cyber-Großmacht“ verfüge aber über ein riesiges Arsenal von Fähigkeiten, investiere stark in seine Modernisierung und sei bereit, es in offensiven Operationen einzusetzen und hohe Risiken einzugehen. Der dem Generalstab unterstellte militärische Geheimdienst (GRU) sei am aktivsten an hochkarätigen Cyber-Operationen beteiligt. Seine „aktiven Maßnahmen“ reichten von der Einmischung in die Präsidentschaftswahlen 2016 bis zum versuchten Angriff auf die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Indem Russland die Normen für akzeptables Verhalten im schlecht regulierten Cyber-Bereich der internationalen Beziehungen verletze, sei diese Dimension zu einer Hauptbedrohungsquelle für die USA und Europa geworden.
Der Einfluss Chinas auf die Transformation der russischen strategischen Kultur sei ambivalent und inkohärent, meint Baev. Die russisch-chinesische Strategische Partnerschaft sei reich an Symbolik – wie gemeinsame Marineübungen oder Luftpatrouillen zeigten − aber es fehle ihnen an Substanz. Und auch bei dieser Dimension sei eine Diskrepanz zwischen den Auffassungen der politischen und militärischen Führung zu bemerken. Der russische Generalstab habe wenig Vertrauen in die strategische Partnerschaft mit China und könne nicht glauben, dass politische „Freundschaft“ militärische Schwäche ausgleichen könne. Er ginge davon aus, dass China Russland bei einer Konfrontation mit den USA nicht helfen würde, Moskau jedoch gezwungen sein könnte, sich auf die Seite Pekings zu stellen, wenn der Kampf zwischen den USA und China um globale Dominanz zu direkten Zusammenstößen eskalieren würde. Diese Sorgen würden durch das schlechte Verständnis des russischen Oberkommandos für die Ziele und Richtlinien der rasch voranschreitenden chinesischen Militärreform noch verstärkt. Allerdings sei die Trennung zwischen der politischen Aufmerksamkeit für die Dynamik im asiatisch-pazifischen Raum und der militärischen Vernachlässigung von Sicherheitsbedürfnissen in Fernost der einzige Weg für Moskau, um eine starke Überlastung der verfügbaren Ressourcen zu vermeiden.
Baev zufolge hat der gewaltsame Konflikt mit der Ukraine die Transformation der russischen strategischen Kultur am tiefsten beeinflusst, jedoch in mehrere schlecht miteinander zu vereinbarende Richtungen getrieben und ihre Inkohärenz verschärft. Die starrsinnige Verleugnung der offensichtlichen Tatsache einer Aggression hat sich von einer nützlichen politischen Tarnung zu einem Hindernis für die strategische Analyse dieses Konflikts entwickelt. Der Diskurs über „brüderliche“ Beziehungen zwischen den Völkern Russlands und der Ukraine spiegelt zwar tief verwurzelte Wahrnehmungen in der russischen Gesellschaft wider, kollidiert jedoch mit der bösartigen Propagandakampagne gegen die ukrainische Revolution und die Reformen. Zusicherungen über die Bereitschaft zur Normalisierung der Beziehungen seien mit einer anhaltenden Unterstützung der Separatisten in der Donbass-Region unvereinbar. Die Vision, die Ukraine in die Eurasische Wirtschaftsunion aufzunehmen, widerspricht den kostspieligen Bemühungen, den Gastransit durch den Bau von zwei Umgehungspipelines zu beenden. Und die herablassende Kritik an politischen Prozessen in der Ukraine könne auch nicht die Befürchtungen im Kreml über ihren korrosiven Einfluss auf die Stabilität des Putin-Regimes verbergen. All diese Widersprüche führten zu tiefgreifender geopolitischer Verwirrung hinsichtlich des Dilemmas, ob die Ukraine in den Einflussbereich Russlands zurückgezwungen oder als ein unabänderlich instabiles „Schwarzes Loch“ isoliert werden sollte.
Die militärische Intervention in Syrien sei einzigartig in Russlands Erfahrung mit Machtprojektion, nicht nur wegen ihrer geografischen Reichweite, sondern auch wegen ihres eher unorthodoxen Charakters. Der offensichtlichste Unterschied zu anderen „kleinen Kriegen“ sei die starke Abhängigkeit der Militärintervention von der Luftwaffe, was der in der russischen Strategie akzeptierten Weisheit widerspreche, dass nur ein massiver Einsatz von Bodentruppen den Erfolg einer Operation und die Kontrolle über feindliches Gebiet sichern könne. Der Krieg mit Georgien im August 2008 habe einen weiteren Beweis für dieses traditionelle Vorgehen geliefert, und auch das militärische Eingreifen in der Ostukraine im Sommer-Herbst 2014 sei ohne Luftunterstützung durchgeführt worden. Aus der lang anhaltenden und in seiner Sicht erfolgreichen Bombenkampagne, die mit Schlägen von Langstrecken-Marschflugkörpern gelegentlich verstärkt worden sei, hätten politische und militärische Führung den Schluss gezogen, dass Russland nun in der Lage sei, das US-amerikanische Muster der Machtprojektion aus der Ferne und mit minimalen Verlusten zu wiederholen. Dies beliefe sich auf eine wesentliche Änderung der strategischen Kultur in Richtung einer stärkeren Betonung der Rolle von Luftstreitkräften und zugehöriger innovativer Technologien.
Insgesamt hat der Autor der Versuchung widerstanden, ein geschlossenes, in sich konsistentes Bild der Transformation russischer strategischer Kultur zu entwerfen. Er zeigt vielmehr neue Entwicklungen auf, die miteinander in Widerspruch stehen und über welche die politische und die militärische Führung oft unterschiedliche Auffassungen haben.
https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/baev_russian_strategic_culture_2020.pdf
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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