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Ergebnisse internationaler strategischer Studienn

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Published/Copyright: June 5, 2020

Reviewed Publication:

Stanovaya Tatiana The Putin Regime Cracks Moskau Carnegie Moscow Center Juni 2020


Das Putin-Regime zerbricht nicht, wie es der Titel dieser Studie nahelegt. Worum es in dieser geht, ist die Frage, wie Entscheidungsprozesse im System Putin verlaufen und welche Personen und Gruppierungen mit welchem Einfluss daran beteiligt sind. Hintergrund der Untersuchung Tatiana Stanovayas, Nonresident Scholar am Carnegie Moscow Center, sind einerseits die Verfassungsänderungen, die Präsident Putin erlauben, bis 2032 im Amt zu bleiben und die das etablierte System ihrer Auffassung nach noch autoritärer und antiwestlicher einfärben werden und andererseits Putins zunehmende Distanzierung von Routineangelegenheiten. Dies mache es notwendig, den Einfluss unterschiedlicher Personen und Gruppierungen auf Entscheidungsprozesse an der Spitze des Systems gründlicher als bisher zu analysieren. Offensichtlich ist die Antwort auf die Frage, wer im Putinschen Machtgefüge im Aufsteigen begriffen ist und wer absteigt, auch von Bedeutung dafür, was personell und inhaltlich nach Putin kommen könnte.

Stanovaya zeigt auf, dass das Team um Putin keineswegs als einheitlich zu betrachten sei und interne Konflikte zunehmen. Dabei unterscheidet sie fünf verschiedene Elitegruppen.

  1. Die engsten Mitarbeiter (The Retinue). Dem englischen Wörterbuch zufolge ist eine retinue eine Gruppe von Beratern, Assistenten oder anderen, die eine wichtige Person begleiten. Laut der Autorin bildet diese Gruppe den Kern des Teams. Dazu gehörten langjährige Mitarbeiter, die seit Anfang der 2000er Jahre für Putin tätig waren und heute tagtäglich mit dem Präsidenten in Kontakt stehen. Viele von ihnen hätten ihre gesamte Karriere im Kreml verbracht und nie anderswo gearbeitet.

  2. Putins Freundeskreis und enge Vertraute (Friends and Associates). Mitglieder dieser Gruppe seien Putins ehemalige Mitstreiter aus seiner Zeit im KGB, seine Judo-Sparringspartner, die Geschäftspartner, die beim Aufbau der Ozero-Datscha-Genossenschaft mitgewirkt hätten, und Personen, mit denen er im Büro des Bürgermeisters von St. Petersburg zusammengearbeitet habe. Die Freunde und Mitstreiter könnten in drei sehr unterschiedliche Kategorien unterteilt werden: staatliche Oligarchen, staatliche Manager und private Geschäftsleute.

  3. Polittechnokraten (Political Technocrats). Die Autorin unterscheidet diese Kategorie von common technocrats. Bei dieser Zuordnung zählen für sie einerseits deren politische Bedeutung und fachliche Kompetenz sowie das Vertrauen, das sie bei Putin genießen, andererseits aber, dass sie keine politischen Ambitionen hätten. In dieser Kategorie nennt Stanovaya die gegenwärtigen Inhaber der Ministerien für Außenpolitik, Verteidigung und Finanzen, der Zentralbank und des Moskauer Bürgermeisteramts.

  4. Technokraten (The Implementers). Den Begrifflichkeiten der Autorin zufolge könnte man diese Kategorie auch „gewöhnliche“ Technokraten, common technocrats, nennen, denn sie machten zwar den größten Teil der Elite aus, seien aber politisch am schwächsten und leicht ersetzbar. Sie führten lediglich die Anweisungen der Präsidialadministration aus und ordneten sich den Vorstellungen anderer, politisch einflussreicher Akteure unter. Dies träfe auf die Inhaber der meisten Ministerien zu, sogar auf den gegenwärtigen Innenminister aus den Reihen der Siloviki (siehe unten) und den neuen Generalstaatsanwalt.

  5. Die Beschützer (The Protectors). Für Stanovya ist das die „Schlüsselgruppe“ der Machtelite. Diese sei ein informelles Bündnis zwischen den führenden „Unterdrückungsorganen des Regimes und seinen konservativen Ideologen“, welches in den letzten Jahren immer bedeutsamer und einflussreicher geworden sei. Seine Mitglieder teilten die Überzeugung, dass die Bewältigung der Herausforderungen Russlands einen „härteren und konservativeren“ Ansatz erfordere.

Insgesamt ist Stanovayas Studie ein ausgezeichnetes und überzeugendes Beispiel für die neu zu Ehren gekommene Kunst der Kremlologie, der Fähigkeit, aus dem Auf- und Abstieg von Personen auf Einflusskanäle und Entscheidungsprozesse und letzten Endes auf das Wesen und Entwicklungstendenzen des Regierungssystems zu schließen. Der Rezensent hat es unterlassen, auf all die von der Autorin in den fünf Kategorien jeweils vorgenommenen Differenzierungen und die Personen mit ihren jeweiligen vergangenen und gegenwärtigen Positionen einzugehen. Das hätte den Umfang eine Kurzrezension gesprengt. Zudem sind diese im öffentlichen Diskurs und in der politischen Praxis im Verhältnis zu Putins Russland eigentlich nur zu nutzen, wenn man beispielsweise die eindrucksvollen Werke von Karen Dawishas Putin’s Kleptocracy und Fiona Hills/Clifford Gaddys Mr. Putin: Operative in the Kremlin gelesen hat, wo Putins Aufstieg zur Macht mithilfe und zusammen mit all den friends and associates und ihren korrupten Machenschaften minutiös aufgezeichnet worden ist. Wichtig aber auch für den Nicht-Fachmann ist jedoch, auf Stanovayas „Schlüsselgruppe“ der „Beschützer“ und ihre angeblich „konservative“ Ausrichtung einzugehen.

Die Autorin stellt fest, dass die „Signale“, die von Putin ausgingen, auf die Errichtung eines neuen politischen Regimes hindeuteten, das „konservativer, ideologischer und anti-westlicher“ als vorangegangene sei. Die Unterdrückungsorgane des Regimes würden, wie oben zitiert, von „konservativen Ideologen“ besetzt, die sich schamlos auf Verschwörungstheorien stützten und ein „härteres und konservativeres“ Durchgreifen gegen wahrgenommene innere und äußere Bedrohungen forderten.

„Schützen“ und „beschützen“ beinhaltet eigentlich etwas Positives und Legitimes. Es weist auf eine Haltung hin, etwas bewahren zu wollen, wozu auch Reformen gehören, um auf sich verändernde Bedingungen reagieren zu können Den Begriff „konservativ“ auf das anzuwenden, was sich in Putins Russland abspielt, erscheint dem Rezensenten unangemessen. Die „Ideologie“ der Unterdrückungsorgane hat nichts mit einer „konservativen“, sondern eher mit einer reaktionären Grundhaltung und der damit verbundenen repressiven Innenpolitik zu tun. Auch für die Außenpolitik ist diese Begrifflichkeit fehl am Platz, auch diese ist – vor allem im postsowjetischen Raum – nicht als konservativ, sondern eher als revisionistisch zu bezeichnen.

https://carnegie.ru/2020/05/07/putin-regime-cracks-pub-81726

Published Online: 2020-06-05
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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