Mehlhorn, Grit; Brehmer, Bernhard (Hrsg.): Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Tübingen: Stauffenburg, 2018. -- ISBN 978-3-95809-141-2. 295 Seiten, € 49,80.

Dorothea Spaniel-Weise

doi:10.1515/infodaf-2020-0053

Artikel Öffentlich zugänglich

Mehlhorn, Grit; Brehmer, Bernhard (Hrsg.): Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Tübingen: Stauffenburg, 2018. -- ISBN 978-3-95809-141-2. 295 Seiten, € 49,80.

Dorothea Spaniel-Weise

Veröffentlicht/Copyright: 17. April 2020

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Aus der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache Band 47 Heft 2-3

Rezensierte Publikation:

Mehlhorn, Grit; Brehmer, Bernhard (Hrsg.): Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Tübingen: Stauffenburg, 2018. -- ISBN 978-3-95809-141-2. 295 Seiten, € 49,80.

Im Fokus des vorliegenden Sammelbandes steht die Frage, „wie die Potenziale von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen adäquat erfasst, gefördert und in den familiären und schulischen Alltag“ (7) gewinnbringend eingebracht werden können. Dazu wurden Beiträge zusammengestellt, die sowohl den Nutzen von individueller Mehrsprachigkeit für Spracherwerbsprozesse begründen, die Selbstwahrnehmung von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit innerhalb bilingualer Familien erkunden und schließlich das Angebot des Herkunftssprachenunterrichts exemplarisch in Deutschland und Österreich betrachten. Dabei stehen mit Russisch und Polnisch zwei Sprachen im Mittelpunkt, die nicht nur über eine lange Tradition als Sprache von Migrant*innen in amtlich deutschsprachigen Ländern zurückblicken, sondern auch über eine hohe Zahl an Deutschlernenden in den Herkunftsländern verfügen, was Schnittpunkte zu sprachenpolitischen Überlegungen des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache aufzeigt.

Mit ihrem Beitrag zu rezeptivem Bilingualismus stellt T. Anstatt einleitend ein Phänomen vor, das in vielen mehrsprachigen Familien bekannt sein dürfte, jedoch selbst in aktuellen Arbeiten nur „marginal“ (17) Erwähnung findet. Es kennzeichnet das Verstehen der L1, hier der Herkunftssprache Russisch, jedoch die ausschließliche Produktion in der dominanten Umgebungssprache, hier Deutsch. Dabei ist belegt, dass das Sprachverhalten der Eltern, Geschwisterkonstellationen und damit die Art des Inputs in der L1 einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung eines rezeptiven Bilingualismus und ggf. den Sprachabbau (Attrition) haben. In ihrer Fallstudie mit drei Probanden, die Russisch als L1 im Kindergarten- bzw. Grundschulalter zugunsten des Deutschen aufgaben, konnte sie das Sprachniveau in der L1 anhand verschiedener Test genauer beschreiben und für einen positiveren Blick auf diese Sprecher plädieren (vgl. 36). In dieser Hinsicht fordert auch T. Kurbangulova in ihrem Beitrag, den sprachlichen Input der Eltern stärker in Forschungsarbeiten zu untersuchen, um den Spracherwerb bilingual aufwachsender Kinder und Jugendlicher zu beschreiben. Eine weitere Forschungslücke schließt die Autorengruppe Hopp et al., wenn sie der Frage nachgeht, ob mehrsprachig aufgewachsene Kinder in der ersten Fremdsprache Englisch bessere Leistungen erzielen als Monolinguale. Die Ergebnisse von Schüler*innen an sechs ausgewählten Regelgrundschulen können diese Annahme für den Wortschatz- und Grammatikerwerb zwar nicht bestätigen, zeigen aber, dass die „soziale Zusammensetzung“ der Klassen (74), neben individuellen kognitiven Faktoren der Schülerinnen und Schüler, den größten Einfluss auf Sprachkompetenzen hat.

Eine weitere im Band dargestellte Studie von Lechner prüft, inwieweit Flüssigkeit und Aussprache in der Herkunftssprache einen Einfluss auf die Sprachkompetenz der englischen Sprache haben. Dafür wurden von sechs türkischsprachigen jungen Erwachsenen mündliche Daten erhoben und von muttersprachlichen Ratern bewertet; sie konnten keine signifikanten Unterschiede in der Bewertung zwischen den deutsch-türkischen Teilnehmer*innen mit hohem oder niedrigen Sprachstand des Türkischen feststellen (vgl. 87). Die Autorengruppe Riehl et al. plädiert daher für die „Notwendigkeit des Erwerbs der Schriftlichkeit in der L1“ (94) und die Ausbildung von metasprachlichem Bewusstsein (ebd.). Dies könne sowohl durch die Behandlung von Textmustern wie Argumentieren im Herkunftssprachenunterricht als auch „literale Praktiken“ (113) im Elternhaus unterstützt werden. Dem Thema mehrsprachige Sprachbewusstheit wenden sich die Beiträger*innen Wildemann et al. zu und verweisen auf konkrete unterrichtsmethodische Szenarien.

In einem zweiten Buchabschnitt werden zwei Studien zu Spracheinstellungen im familiären Kontext vorgestellt. Dazu werden die sprachbiographischen Daten und Einstellungen zu Sprachkompetenzen aus Interviews mit russischsprachigen Eltern in Deutschland und Finnland (Beitrag Protassova) bzw. russisch- und polnischsprachigen Jugendlichen und Eltern in Deutschland (Beitrag Burkhardt et al.) ausgewertet. Es wird deutlich, dass vor allem bildungsnahe Eltern Wert auf Sprachkenntnisse in der Herkunftssprache legen, wobei Zugehörigkeiten differenziert wahrgenommen werden. Die positive Bewertung der Kenntnisse der Herkunftssprache als Bildungsressource ihrer Kinder wird auch im Beitrag von Romano-Bottke für portugiesischsprachige Eltern ausgewiesen.

Beyer macht in seinem Beitrag im Buchabschnitt zu Herkunftssprachen als Potenzial in beruflichen und behördlichen Kontexten deutlich, dass die bislang vorherrschende monolinguale Sprachpraxis von Ämtern und Behörden dem „Funktionieren demokratischer Institutionen“ (210) nicht gerecht wird und die Bevorzugung einer einzelnen Sprache den Anspruch der Partizipation für alle Bürger*innen nicht umsetzt. Schließlich widmen sich drei Beiträge der konkreten Umsetzung des Herkunftssprachenunterrichts im schulischen Kontext: der bilinguale Erwerb des Russischen (Beitrag Montanari et al.) und Slowenischen (Beitrag Doleschal) in der Grundschule bzw. ein Überblick über das Angebot an Herkunftssprachenunterricht in Russisch und Polnisch von Brehmer/Mehlhorn.

Den Abschluss des Buches bilden die von Reich aufgestellten zehn Thesen zu Potenzialen des Herkunftsunterrichts. Sie machen deutlich, dass eine gezielte Förderung der Herkunftssprachen bislang in Deutschland nicht erfolgt, obwohl verschiedene u. a. im Band vorgestellte Studien positive Wirkungen sowohl für die mehrsprachigen Individuen als auch eine mehrsprachige Gesellschaft verdeutlichen. Weltweit werden diese Fragen auch für Deutsch als Herkunftssprache diskutiert werden.

Online erschienen: 2020-04-17

Erschienen im Druck: 2020-04-08

Artikel in diesem Heft

https://doi.org/10.1515/infodaf-2020-0053