Susteck, Sebastian (Hrsg.): Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2017 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, 35). -- ISBN 978-3-631-68112-1. 285 Seiten, € 49,95.

Torsten Mergen

doi:10.1515/infodaf-2020-0080

Article Publicly Available

Susteck, Sebastian (Hrsg.): Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2017 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, 35). -- ISBN 978-3-631-68112-1. 285 Seiten, € 49,95.

Torsten Mergen

Published/Copyright: April 17, 2020

Published by

Become an author with De Gruyter Brill

Author Information Explore this Subject

From the journal Informationen Deutsch als Fremdsprache Volume 47 Issue 2-3

Rezensierte Publikation:

Susteck, Sebastian (Hrsg.): Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2017 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, 35). -- ISBN 978-3-631-68112-1. 285 Seiten, € 49,95.

„Im Vordergrund stehen empirische Forschungsansätze mit qualitativem Design [...]. Die qualitative Ausrichtung führt im Zusammenspiel mit einer jeweils sehr kleinen Datenbasis dazu, dass die Ergebnisse nicht überlastet werden dürfen und jeweils einen explorativen Status haben“ (26). Mit dieser Aussage umreißt der Herausgeber des Sammelbandes, der Bochumer Literaturdidaktiker Sebastian Susteck, die Zielsetzung und die Reichweite der sechs Einzelstudien präzise. Aus wissenschaftlicher Perspektive und für Forschende konzipiert, zeigt der Band eine große Vielfalt an Ansätzen, Herangehensweisen respektive Konzepten auf, um sich mit Fragen im Bereich von Migration und Interkulturalität auseinanderzusetzen. Verschiedene Forschungslinien zeichnen sich in dem Band ab, welche den Kontext von Migrationshintergrund bzw. Migrationserfahrung für die Gestaltung respektive den Erfolg von Bildungsprozessen untersuchen.

Als Forschungsbeitrag aus vorrangig empirisch-deutschdidaktischer Perspektive kommt dem Sammelband Empirische Untersuchungen zu Deutschunterricht und Migration vorrangig methodische Relevanz zu. Sebastian Sustecks konzise Einführung stellt im Überblick die einschlägige aktuelle Forschungsdiskussion zu Heterogenität im Schulalltag und Ethnisierungen bzw. Stereotypisierungen aufgrund der Herkunft vor, verknüpft mit Angaben zu Zielsetzung sowie Konzeption des Sammelbandes. Ausgehend von Studien zur Heterogenität in Schulklassen, zu ethnosoziologischen Transformationsstudien und zu Texten der interkulturellen Bildungsforschung, arbeitet er zwei Entwicklungslinien der Forschung heraus: eine eher sozialwissenschaftlich orientierte, die gesellschaftliche Vielfalt und Chancengerechtigkeit durch Bildung fokussiert, anderseits eine eher geisteswissenschaftlich-anthropologisch ausgerichtete, die sich mit Grundmodellen des Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft beschäftigt. Susteck favorisiert in nachvollziehbarer Weise für den Sammelband den sozialwissenschaftlichen Ansatz, dessen Relevanz sich „im schulischen Bereich in besonderer Weise gezeigt“ (23) habe, um Lernpotenziale und Förderbedarfe bei Schülerinnen und Schülern zu diagnostizieren, wenngleich auch die anthropologische Perspektivierung weiterhin „von großer Relevanz“ (24) bleibe und „ein notwendiges Komplement zum Bemühen um strukturelle und didaktische Reformen“ (25) darstelle.

Unter der Überschrift „Soziale Ungleichheiten in der Schule. Überlegungen zu den Ausgangsbedingungen des schulischen Lernens“ (39) stellt der Münsteraner Soziologe Aladin El-Mafaalani eine soziologische Analyse der Bedingungen für sozioökonomischen Erfolg unter besonderer Berücksichtigung von Bildung und Herkunft vor. Ausgehend von der These, dass sozialer Aufstieg stark herkunftsabhängig ist, wird unter Bezug auf Pierre Bourdieus Habitus-Konzept gezeigt, dass Individuen instinktiverweise dazu neigen, sich vom Herkunftsmilieu durch sozialen Aufstieg zu distanzieren. Intensiv diskutiert der Soziologe das Phänomen, dass Habitus-Transformation bei Individuen mit einem Migrationshintergrund schwieriger ist als bei Einheimischen, da Migranten einerseits die höheren Erfolgserwartungen ihres Herkunftsmilieus hinsichtlich sozialem Aufstieg durch Bildung und Erfolg, andererseits aber auch die Loyalitätserwartungen der Abstammungsfamilien befriedigen müssen. Dies führt zu Überlegungen zur gesellschaftlich beobachtbaren Bildungsexpansion als Form der Bekämpfung von Chancenungleichheit im Bildungssystem und ihren paradoxalen Folgen Hochschulabschlüssen), Bildungsungleichheit (als Vergrößerung der Chancen privilegierter sozialer Schichten) und Kompetenzveränderungen (im Sinne einer Differenz zwischen dem statistisch gemessenen und in Bildungsinstitutionen wahrgenommenen Kompetenzniveau).

Der zweite, umfangreichste Beitrag des Sammelbandes von Sebastian Susteck und Sabine Wege reflektiert über angehende Lehrkräfte mit Migrationshintergrund, die das Unterrichtsfach Deutsch studieren. In Form einer explorativen Interviewstudie zu biographischen Hintergründen, Unterrichtsvorstellungen und der Frage nach dem besonderem Fachpotenzial aufgrund der Mehrsprachigkeit und Migrationsbiographie wird untersucht, ob sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in der sozialen Struktur der Lehrkräfte widerspiegeln sollte bzw. wie relevant aus schulischer Perspektive der Migrationshintergrund als Herkunftsmerkmal für Lehrkräfte ist. Es zeigt sich, dass sich einerseits nur geringe bis vernachlässigbare Differenzen im Bereich des kulturellen und literarischen Wissen der Studierenden mit Migrationshintergrund im Vergleich mit den Studenten ohne Migration nachweisen lassen, auch die jeweilige Sprachkompetenz ist nicht abhängig von der sozialen Herkunft: „Insgesamt ist an den zwölf geführten Interviews auffällig, dass sich kaum klare Differenzen zwischen den acht Studierenden mit Migrationshintergrund und den vier Studierenden ohne Migrationshintergrund zeigen, sobald der Bereich der Biographie und Lebenserfahrung verlassen wird“ (149). Jedoch liefert die Studie den interessanten Befund, dass die Lehramtsausbildung in Deutschland unzulänglich auf einen Unterricht in multilingualen und -kulturellen Klassen vorbereitet, indem sie bereits bei der Lehrerausbildung die Strategie erkennen lässt, „den Status quo zu reproduzieren“ (158), indem am Deutschunterricht in etablierter Form festgehalten werde.

Gleichfalls eine Interviewstudie wird im Beitrag des praktizierenden Hürther Gymnasiallehrers Matthias Jakubanis vorgestellt: Auf der Basis von spontan geführten Interviews analysiert er, „wie der Deutschunterricht und insbesondere Literatur durch SchülerInnen mit einem Migrationshintergrund wahrgenommen wird“ (170). Es zeigen sich im Ergebnis der akribisch dokumentierten Materialien aus der Studie, dass Lernende mit Migrationshintergrund andere Erwartungen als vorherige Schülergenerationen an den Deutschunterricht haben, die Lehrpläne und nationale Bildungsstandards bislang nur bedingt berücksichtigen.

Cornelius Herz` Beitrag ist gleichfalls im Themengebiet der literarischen Sozialisationsforschung angesiedelt. Unter der Überschrift „Quantitative Operationalisierungen des Sprachhintergrundes und der literarischen Sozialisation in der Literaturdidaktik Deutsch“ (191) geht er von der Hypothese aus, dass Studierende der Germanistik mit bzw. ohne Migrationshintergrund in ihrer Haltung der Literatur gegenüber keine Unterschiede aufweisen. Im Jahr 2015 hat er dazu an zwei NRW-Universitäten insgesamt 108 Studierende von germanistischen Grundlagenveranstaltungen nach ihren Erfahrungen mit Literatur befragt. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass als Ort der Lesesozialisation die Schule eher von der mehrsprachigen Gruppe angegeben wird, wohingegen die Probanden ohne Migrationshintergrund vermehrt Erstkontakte mit Literatur im Elternhaus erlebt haben. Jedoch relativiert der Autor seine Forschungsergebnisse mehrfach, u. a. schränkt er ein, dass „ein belastbares und differenziertes Zahlen-, Erhebungs- und Auswertungsfundament“ (203) erforderlich sei.

Erste Resultate des an der Ruhr-Universität Bochum mit narrativen Interviews geführten Projekts Forschendes Lernen stellen Sebastian Susteck und Katrin Rolka im Beitrag „Fachkulturen des Deutsch- und Mathematikunterrichts bei SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund“ (211) vor: Studierende sollten jeweils einen Schüler mit und ohne Migrationshintergrund in Form eines narrativen Interviews nach ihren Leseerfahrungen befragen, insgesamt 50 Interviews wurden ausgewertet. Jedoch scheiterte bereits die Datenerhebung weitgehend: „In der Durchführung des Projekts erwiesen sich die Interviews als hochproblematisch für Studierende und SchülerInnen“ (217). Wegen der kargen und knappen Antworten der Befragten, der sog. Artikulationsknappheit, ließen sich keine validen Ergebnisse zur Fragestellung generieren, jedoch ermöglichen die gewonnenen Daten andere interpretatorische Schlussfolgerungen: „Die Interviews zeigen, welche Distanz SchülerInnen zum Teil zu einzelnen Unterrichtsfächern haben und wie diese Fächer hinter der Institution der Schule zurücktreten, die ihrerseits fremd erscheint“ (235).

Der abschließende Beitrag des Sammelbandes führt die thematische Spannweite der Themenstellung vor Augen: Eine von Christian Dawidowski vorgestellte Studie widmet sich dem „Interkulturelle[n] Lernen in Lehrwerken der Sekundarstufen. Am Beispiel der Darstellung der Türken und der Türkei seit 2009“ (259) in Form einer themenbezogenen Fragestellung. In die sowohl quantitative als auch qualitative Analyse wurden alle Lehrbücher für Deutsch für die Sekundarstufen I und II -- in Reihen oder einzeln in Deutschland publiziert -- aufgenommen, die im Zeitraum 2009 bis 2014 erschienen sind. Insgesamt wurde ein Korpus von 76 Bänden ausgewertet, in dem Textstellen mit Hinweis auf das Fremdsein erfasst wurde: „Als zu identifizierendes Merkmal wurde *türk*, also *türkisch*, *Türke*, *Türkin*, *Türkei* festgelegt“ (265). Die quantitative Analyse ergibt, dass die genannten Merkmale des Fremdseins nur selten nachweisbar sind. Hinsichtlich der didaktischen Zielsetzung der Lehrwerke zeigt die Studie, dass die Chance zur „Anregung interkultureller Lernprozesse“ (277) nur selten genutzt werde. Jedoch schränkt der Osnabrücker Literaturdidaktiker schlussfolgernd ein, dass die Ergebnisse aus methodischer Sicht nur begrenzte Aussagekraft besitzen, jedoch bekannte Defizite für interkulturelles Erziehen in Lehrwerken bekräftigen.

Zusammenfassend betrachtet intendiert der von Susteck herausgegebene Band empirische Zugänge zum Themenfeld Migration und Deutschunterricht. Es ist sein Verdienst, eine Vielfalt an methodischen Inventaren zu versammeln, um verdeckte Zusammenhänge des komplexen Diskussionsfeldes herauszuarbeiten. Ferner bietet der Band zahlreiche Impulse für vertiefende Forschungen sowohl mit Bezug auf soziologische Dimensionen von Migration und Schulerfolg als auch mit Blick auf die Generierung von Lernarrangements zum gelingenden Spracherwerb und interkulturellen Lernen. Dank der erhellenden Einzelstudien sowie der thematisch vielfältigen, aber auf Kernfragen fokussierten Zusammenstellung bei gleichzeitiger Offenheit für interdisziplinäre Bezüge wird der Band dem Anspruch des Herausgebers, er möge die „Rolle, die Kategorien wie die der Migration und des Migrationshintergrundes für gegenwärtige Debatten um den Deutschunterricht spielen können“ (27), vor Augen führen, im besten Sinne gerecht.

Online erschienen: 2020-04-17

Erschienen im Druck: 2020-04-08

Articles in the same Issue

https://doi.org/10.1515/infodaf-2020-0080