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Der Krieg um Bergkarabach – Folgen für die deutsche und europäische Sicherheitspolitik

  • Stefan Hansen EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 26. August 2021

1 Einleitung

Die Kaukasusregion ist eher selten im Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Das hat sich in dem vergangenen Jahr allerdings gründlich geändert. So hat der zwischen dem 27. September und 10. November 2020 ausgetragene Krieg die Gemüter aufgeschreckt und gleichzeitig auch die große Bedeutung des Einsatzes von bewaffneten Drohnen für zwischenstaatliche Konflikte verdeutlicht. Dies ist für die aktuelle Diskussion um eine entsprechende Ausrüstung der Bundeswehr von hoher Relevanz. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass Deutschland ein wichtiger Kommunikationsraum zur Erlangung von Deutungshoheit auf diesem und auch auf anderen Kriegsschauplätzen geworden ist. Vor allem Russland, aber auch Aserbaidschan und die Türkei sind mit vielfältigen Mitteln darum bemüht, Einfluss auf den hiesigen Diskurs sowie auch direkt auf Entscheidungsträger auszuüben. So ist bekannt geworden, dass gleich mehrere Bundestagsabgeordnete, etwa Alex Fischer, Mark Hauptmann und die kürzlich verstorbene Karin Strenz, wie auch deutsche Abgeordnete im Europarat, etwa Eduard Lintner, mutmaßlich Gelder von aserbaidschanischer Seite im Gegenzug für ein wohlwollendes Abstimmungsverhalten bezogen haben.[1] Des Weiteren sollte der Krieg Anlass sein, sich über die Rolle Russlands und der Türkei in der Region weitergehende Gedanken zu machen und die Rolle der EU kritisch zu resümieren. Vor allem sollte die Östliche Partnerschaft daraufhin kritisch überprüft werden. Zweifellos hat das europäische Engagement den Karabachkrieg 2020 nicht bedingt, es hat aber durchaus „Zugzwänge“ bei dritten Staaten wie der Türkei und Russland größer werden lassen und so sein „Auftauen“ mitbeschleunigt.

2 Die Ursachen des Konflikts

Der Karabach-Konflikt galt jahrzehntelang als Prototyp eines eingefrorenen Konflikts.[2] Die Ursprünge liegen bereits in den ethnischen Spannungen im Verlauf der Nationalstaatswerdung und den unklaren Grenzziehungen, die zwischen den 1918 gegründeten ersten armenischen und aserbaidschanischen Republiken im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reiches erfolgten. Mit dem Einmarsch der Roten Armee im Jahr 1920 und den anschließenden wechselvollen Gründungen von Sowjetrepubliken auf den Gebieten wurden auf türkisches Verlangen hin 55.000 Quadratkilometer mehrheitlich (aber freilich nicht ausschließlich) armenisch bewohnten Landes, einschließlich des armenischen Nationalsymbols Berg Ararat, von Sowjetrussland an die Türkei abgetreten. Weitere 20.000 Quadratkilometer gingen an Aserbaidschan und 6.400 Quadratkilometer wurden Georgien zugesprochen. Das schon damals ebenfalls mehrheitlich armenisch besiedelte Karabach wurde 1923 – unter maßgeblicher Beteiligung von Josef Stalin als Kommissar der Nationalitäten – als Autonomer Oblast (NKAO) innerhalb der Grenzen der aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) gegründet. Diese scheinbar bedeutungslosen „innersowjetischen“ Grenzziehungen zwischen vermeintlichen „Brudervölkern“ haben über die Jahrzehnte hinweg beständig für gewaltsame ethnische Konflikte und Pogrome gesorgt.

Mit dem beginnenden Zerfall der Sowjetunion beschloss 1988 der Gebietssowjet von Bergkarabach eigenmächtig aus der aserbaidschanischen SSR auszutreten. Als neuer Name wurde „Autonomes Gebiet Arzach der Armenischen SSR“ gewählt, womit der historische Name Arzach wiederbelebt und die empfundene Zugehörigkeit zu Armenien verdeutlicht werden sollte. Nach der sowjetischen Verfassung stand ein Austrittsrecht jedoch nur den Republiken nicht aber Autonomen Gebieten zu. Und so gehörte Bergkarabach – trotz der Ausrufung der Republik Arzach am 2. September 1991 – völkerrechtlich zu der erst am 18. Oktober 1991 gegründeten Republik Aserbaidschan. Die Folge war der erste Krieg zwischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion von 1991 bis 1994. In diesem Krieg eroberte die Republik Armenien nicht nur das Gebiet von Bergkarabach, sondern auch sieben aserbaidschanische Provinzen, die fortan bis zum neuerlichen Krieg 2020, unter armenischer Kontrolle als Puffergebiet dienten. Zwischen 1994 und 2020 kam es zwar regelmäßig zu kleineren und 2016 auch durchaus größeren, kurzen „Grenzscharmützeln“ – stets mit Toten auf beiden Seiten – doch der Konflikt schien dennoch weitgehend stabilisiert und eingefroren zu sein, wobei „Einfrieren“ eben nicht bedeutet, dass der Konflikt stabil bleibt.[3]

Abb. 1: Landstraße in Bergkarabach
Abb. 1:

Landstraße in Bergkarabach

3 Das Aufflammen des Konfliktes im Jahr 2020

Am 27. September 2020 entwickelte sich der schwelende Konflikt zu einem heißen Krieg, der über sechs Wochen anhielt und mit einer Niederlage Armeniens endete. Erstmals seit 1994 wurden durch den Einsatz von Militär umfangreiche Geländegewinne gemacht und die seit 26 Jahren stabilisierten de-facto-Grenzen zugunsten Aserbaidschans verschoben: Etwa 33 Prozent des Gebiets von Bergkarabach sowie weitere knapp 40 Prozent der Pufferterritorien fielen an Aserbaidschan.

Voraus ging diesem Konflikt eine asymmetrische Rüstungskonkurrenz. Während Aserbaidschan in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Verteidigungsaufwendungen deutlich steigerte, blieb Armenien auf einem relativ niedrigen Rüstungsniveau. Armenien hat 2020 etwa 0,6 Milliarden US-Dollar für seine Verteidigung aufgewandt. Aserbaidschans Verteidigungsetat betrug im selben Zeitraum hingegen 2,3 Milliarden US-Dollar.[4] Auf armenischer Seite wurde das nicht als wirkliches Problem angesehen, denn das sehr bergige und schwach besiedelte Karabach ist leichter zu verteidigen als zu erobern. Der Einsatz von Drohnen hat diese Gleichung allerdings fundamental verändert: Aserbaidschan konnte die armenischen Stellungen mit eigenproduzierten Überwachungsdrohnen aufklären und alsdann mit Artillerie sehr präzise beschießen. Die armenische Seite hat dabei deutlich zu träge reagiert. Die armenischen Streitkräfte hatten ihre Stellungen nur unzureichend getarnt und waren nicht auf mobile Kriegführung vorbereitet. Bewaffnete aserbaidschanische Drohnen aus israelischer und türkischer Produktion konnten zudem auch nachgelagerte Positionen und Versorgungswege angreifen. Armenien hatte dem wenig entgegen zu setzen – die selbstproduzierten armenischen Drohnen, X-55, Krunk, Orlan-10, BEEB und HRESH, waren insbesondere den israelischen Systemen deutlich unterlegen und in zu geringer Stückzahl vorhanden.[5] Dabei wurde auch „herumlungernde“ Munition, sogenannte „Kamikaze-Drohnen“, eingesetzt, die über einem Zielgebiet kreisen bis ein definiertes Zielobjekt erfasst wird, auf das sie sich sodann stürzen und detonieren.

Dass ausgerechnet Israel massiv Waffen an das muslimische Aserbaidschan verkauft hat, ist in Armenien äußerst empfindlich registriert worden. Armenien setzt den von der jungtürkischen Regierung 1915/16 versuchten Völkermord, bei dem vermutlich bis zu 1,5 Millionen Armenier zu Tode kamen, stets mit dem Holocaust in Vergleich und hofft daher auf Verständnis für seine Belange in Israel. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan warf nunmehr Israel vor, beim „Völkermord gegen Armenier in Bergkarabach“ zu assistieren.[6]

Israel und Aserbaidschan empfinden jedoch beide den Iran als existenzielle Bedrohung und sind sich daher seit Langem erstaunlich nahe. Zudem deckt Israel circa 40 Prozent seines Ölbedarfs durch Lieferungen aus Aserbaidschan und hat im Gegenzug zwischen 2006 und 2019 Waffen im Wert von 825 Millionen US-Dollar an Baku verkauft.[7] Darunter waren auch die Kampfdrohnen und die „herumlungernde“ Munition. Aserbaidschan verfügt seitdem über ein umfangreiches Arsenal an Drohnen: Harop, Orbiter 1K, Orbiter-3, SkyStriker, Hermes-450, Hermes-900, Heron, Aerostar sowie Searcher aus israelischer Produktion, sowie umgebaute russische Antonov An-2 und türkische Bayraktar TB2. Letztere wurden von der Türkei bereits erfolgreich in Syrien und Libyen eingesetzt und haben sich auch im Bergkarabach-Krieg als vielseitiger Sensor und Effektor erwiesen. Auch ließen sich etliche Propagandavideos damit herstellen, die schon während des Krieges auf Youtube zu finden waren und den Gegner demoralisieren sollten.[8] Die in Armenien vorhandenen vergleichsweise fortschrittlichen, russischen Luftverteidigungssysteme Buk-M1 oder Pantsir S-1 konnten schon in Syrien durch türkische Drohnenschwärme ausgeschaltet werden. Mit Aufklärungsdrohnen wurden die dahinter befindlichen Flugabwehrsysteme oder Verteidigungsstellungen aufgedeckt und durch bewaffnete Drohnen oder Artillerie zerstört. Diese Vorgehensweise übernahm Aserbaidschan erfolgreich von der Türkei im Krieg gegen Armenien.

4 Der Krieg und die samtene Revolution in Armenien

Dieser Krieg kam für die Republik Armenien völlig zur „Unzeit.“ Das Land hatte durch den Krieg nichts zu gewinnen, aber durchaus viel zu verlieren. In den zwei Jahren zuvor hatte das Land erfolgreich eine „samtene Revolution“ durchlaufen, in der weitgehend gewaltlos die über 20 Jahre lang herrschende russlandnahe Republikanische Partei durch den „Druck der Straße“ und anschließende demokratische Wahlen entmachtet worden war. Dem Aufstand ging der Versuch des zu dem Zeitpunkt amtierenden Präsidenten Sersch Sargsjan voraus, seine Amtszeit durch eine Verfassungsänderung und den Wechsel ins Ministerpräsidentenamt zu verlängern – ganz nach dem russischen Beispiel. Nach massiven Protesten, die vorwiegend dezentral über soziale Medien organisiert waren, trat er jedoch zurück. Der Anführer der Protestbewegung, Nikol Paschinjan, war ihm im April 2018 ins Amt gefolgt und konnte sich seit den Neuwahlen Ende 2018 als Ministerpräsident auf eine Mehrheit von 70 % der Stimmen im Parlament stützen.

Armenien war bei Beginn der Kriegshandlungen im Herbst 2020 jedoch bereits stark von der andauernden Covid-19-Pandemie betroffen, das Militär war noch durch die Korruption und Kleptokratie unter dem zuvor regierenden oligarchischen Klan geschwächt, das gesamte Staatswesen war seit der Revolution in einem massiven Wandel und innovative Branchen der Wirtschaft befanden sich in einem frühen, fragilen Aufschwung. Aserbaidschan litt hingegen zu dem Zeitpunkt unter dem niedrigen Ölpreis, so dass eine populäre außenpolitische Aggression gut geeignet war, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Dem Kriegsausbruch im September ging ein gemeinsames Militärmanöver Aserbaidschans zusammen mit der Türkei unmittelbar voraus, von dem gemutmaßt werden kann, dass es der Verschleierung der direkten Kriegsvorbereitungen dienen sollte. Eine beginnende, nachhaltige demokratische und wirtschaftliche Stabilisierung des kleinen Armeniens einfach abzuwarten, war weder im Interesse Russlands noch Aserbaidschans oder der Türkei.

Die fatale Rolle des NATO-Landes und EU-Beitrittskandidaten Türkei ist aus westlicher Sicht besonders ernüchternd und offenbart, wie weit die Autokratisierung der Türkei bereits vorangeschritten ist.[9] So hat die Türkei offenbar in großem Umfang syrische Islamisten rekrutiert und an die Front in Bergkarabach geführt,[10] türkische Offiziere haben im Bergkarabach-Krieg bedeutende Führungsfunktionen wahrgenommen und türkisches Wehrmaterial einsetzen lassen. Dabei hat der NATO-Staat offenbar auch geduldet, dass Aserbaidschan völkerrechtlich geächtete Streu- und Phosphorbomben in Karabach eingesetzt hat,[11] und dass es zu Hinrichtungen und gezielten Zerstörungen ziviler Gebäude kam.

Zwischen Aserbaidschan und der Türkei besteht dabei eine ausgeprägte „brüderliche Nähe.“ In beiden Ländern wird gelegentlich von „einer Nation in zwei Staaten“ gesprochen.[12] Erdogan geht es neben der Unterstützung des „Bruders“ aber offenkundig auch um die Etablierung der Türkei als Ordnungsmacht in der Kaukasusregion sowie als Schutzmacht für Muslime. Eine weitere Rolle hat zudem die Ablenkung von innenpolitischen Problemen in der Türkei gespielt, wie etwa der Schwäche der türkischen Währung.

Ministerpräsident Paschinjan behauptete zudem am 8. Oktober 2020 in einem Interview, es ginge der Türkei bei der Kriegsunterstützung um die Schaffung eines Korridors zu Aserbaidschan durch armenisches Gebiet. Im Süden der Republik Armenien liegen nur ca. 50 Kilometer zwischen der zu Aserbaidschan gehörenden Enklave Nachitschewan und dem südlichen Karabach. Dieses Bestreben sei Teil eines türkischen Neo-Osmanismus. Auch einige türkische Analysten, etwa Hakan Günes von der Universität Istanbul, sympatiserten mit dieser Perspektive. Doch dies erschien den meisten westlichen Beobachtern zu dem Zeitpunkt doch zu abwegig, um wahr zu sein. Tatsächlich sieht aber der nur einen Monat später von Moskau oktroyierte Waffenstillstand die Schaffung einer – allerdings von russischen Soldaten – gesicherten Verkehrsverbindung zwischen der Türkei und Nachitschewan in genau diesem Bereich der Republik Armenien vor. Über ihn soll künftig der Verkehr von Bürgern, Fahrzeugen und Gütern unbehindert von armenischen Behörden laufen.[13] Dabei war dieses Gebiet von den Kriegshandlungen in keiner Weise betroffen und hätte somit nicht Bestandteil des Waffenstillstandes sein müssen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dies ein Entgegenkommen Russlands gegenüber der Türkei war, um Ankara dafür im Weiteren aus der russischen Einflusssphäre fernzuhalten.[14]

Aserbaidschan konnte im Verlauf des Krieges vornehmlich von Süden her in Richtung der karabachischen Hauptstadt Stepanakert vorrücken und am 8. November 2020 die strategisch (und kulturell) bedeutsame Stadt Shushi einnehmen, von der aus die Hauptstadt – und damit letztlich ganz Karabach – jederzeit massiv bedroht werden kann. Die armenischen Kräfte hatten die Stossrichtung der Aserbaidschaner nicht rechtzeitig erkannt und sich vielmehr starr auf das Halten der Befestigungslinie im Osten fokussiert. Zudem hatten sie Umfang und Intensität der Invasion nach jahrzehntelangem Stillstand völlig unterschätzt.

Am 9. November 2020 fror Moskau sodann die zu dem Zeitpunkt gehaltenen Positionen der Kontrahenten mit dem erwähnten Waffenstillstandsabkommen ein. Die armenische Seite wurde verpflichtet, die besetzten Puffergebiete binnen einer mehrwöchigen Frist an Aserbaidschan zurückzugeben.[15] Im Gegenzug verbleibt das Kerngebiet von Karabach/Arzach bis auf Weiteres unter armenischer Kontrolle und der oben erwähnte Laschin-Verbindungskorridor zwischen der Türkei und der Republik Armenien wird durch russische Soldaten gesichert. Knapp 2.000 russische Soldaten wurden für zunächst fünf Jahre in dem Gebiet stationiert und überwachen seitdem die Einhaltung des Abkommens. Aserbaidschan ließ derweil verlautbaren, dass auch türkische Soldaten nach Karabach entsendet werden sollen, was jedoch von russischer Seite umgehend ausgeschlossen wurde. Es ist zu vermuten, dass die Türkei ihre Soldaten dennoch symbolisch in der Nähe Karabachs auf aserbaidschanischem Territorium stationieren wird.

Für die Republik Armenien und Karabach kam das Abkommen einer Kapitulation gleich und wurde auch in dieser Weise von der Bevölkerung aufgefasst. Ohne dieses Abkommen hätte jedoch eine noch weitergehende Niederlage Armeniens gedroht. So wurden kurz nach dem Bekanntwerden das Parlament in Eriwan sowie das Wohnhaus Paschinjans von Demonstranten gestürmt und verwüstet. Wenige Tage später konnte ein Anschlag gegen den Ministerpräsidenten verhindert werden.[16] Paschinjan ließ in der Folge zahlreiche oppositionelle Politiker festnehmen, die vorwiegend dem alten Karabach-Klan zuzurechnen waren.

Im Februar 2021 äußerte Paschinjan in einem Interview, dass die russischen „Iskander“ Kurzstreckenraketen im zurückliegenden Krieg gegen Aserbaidschan kaum eingesetzt worden seien, weil sie nicht oder nur zu zehn Prozent funktioniert hätten. Das russische Verteidigungsministerium wie auch der stellvertretende Generalstabschef Armeniens, Tigran Chatschatrjan, stellten diese Aussage postwendend in Frage. Als Paschinjan daraufhin Chatschatrjan entließ forderte der Generalstab den Rücktritt des Ministerpräsidenten, was als versuchter Militärputsch ausgelegt wurde. Einen Antrag Paschinjans beim Staatspräsidenten Sarkisian, den Generalstabschef Onik Gasparjan zu entlassen, lehnte dieser jedoch ab. Es zeichnet sich hierin sehr deutlich der große Zwiespalt ab, der Armenien seit dem verlorenen Krieg 2020 durchzieht. Während Paschinjan sich laut einer Umfrage im Jahr 2018 noch auf 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung stützen konnte, lagen die Zustimmungswerte Anfang 2021 nur noch bei 30 Prozent.

Die Diskussion unter Demonstranten in Eriwan drehte sich dabei maßgeblich um die Frage nach der Schuld für den verlorenen Krieg gegen Aserbaidschan – laut einer Gallup-Umfrage halten 32 Prozent der Befragten die alte Regierung für verantwortlich und 28 Prozent sprechen Paschinjan die Schuld zu.[17] In Armenien hat somit Ende 2020 ein Machtkampf zwischen den alten moskautreuen Eliten und den jungen prowestlicheren Revolutionären begonnen.

Es war daher ein zutiefst demokratischer, für die gesamte Region unüblicher und sehr mutiger Zug Paschinjans, am 25. April 2021 zurück zu treten, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Denn es war alles andere als klar, dass das Regierungsbündnis bei der Parlamentswahl am 20. Juni 2021 die Mehrheit der Stimmen erlangen würde. Tatsächlich erhielt Paschinjans „Zivilvertrag“-Partei überraschend knapp 54 Prozent, so dass er weiter regieren kann. Paschinjan ist dennoch geschwächt und es bleibt abzuwarten, ob sich die modernisierungsorientierten Kräfte in Armenien angesichts der widrigen Umstände langfristig werden durchsetzen können. Es bleibt weiterhin eine Konterrevolution durch die alten Kräfte um den Karabach-Klan zu befürchten, die eine weitreichende Demokratisierung und wirtschaftliche Genesung Armeniens vermutlich deutlich bremsen würde. Die mittelfristig erwartbare, vorsichtige Forcierung einer Westannährung im Rahmen der komplementären Außenpolitik unter Paschinjan würde damit unwahrscheinlicher werden. Moskau käme es hingegen sehr gelegen, wenn wieder ein russlandfreundlicherer Staatschef eingesetzt werden oder Paschinjan künftig auf einen moskautreueren Kurs einschwenken würde, um sich überhaupt im Amt halten zu können – wofür es durchaus erste Anzeichen gibt.[18]

5 Konsequenzen für westliche Politik

Der Krieg um Bergkarabach fand zwar in großer Ferne statt, er hat aber Konsequenzen, die für die Sicherheitspolitik Deutschlands und der westlichen Allianz von Bedeutung sind. Auch stellen sich Fragen bezüglich der eingeschlagenen Richtung der Partnerschaftspolitik der Europäischen Union (EU) sowie der Rolle Russlands in der Region.

In erster Linie sind militärtechnische Konsequenzen aufzuzeigen. Schon in Syrien hatte sich gezeigt, dass die syrische Luftverteidigung einen großen Schwarm türkischer Drohnen nicht mehr verfolgen und bekämpfen konnte und selber durch diese in Bedrängnis geriet. Bei dem sodann ersten zwischenstaatlichen Einsatz von vergleichsweise kostengünstigen Drohnenschwärmen im Karabach-Krieg haben Drohneneinsätze die noch schlechter ausgerüstete armenische Seite vollständig überfordert. Zwar sind die Bundeswehr und andere Streitkräfte der NATO besser ausgerüstet als diejenigen Armeniens, aber der Einsatz einer großen Anzahl an – zusätzlich noch mit Tarnkappentechnik ausgestatteter – Drohnen wäre auch für sehr fortschrittliche Luftverteidigungssysteme eine große Bedrohung.[19] Diese Entwicklung sollte bei der in Deutschland ohnehin sehr zögerlichen Diskussion um eine eigene Ausrüstung mit bewaffneten Drohnen wie auch bei Luftverteidigungskonzepten in herausragender Weise berücksichtigt werden.

Kritisch zu betrachten ist auch die Rolle der EU. Die nahezu völlige Abstinenz der Europäischen Union in der Krisendiplomatie in Bezug auf den Karabach-Krieg ist sehr zu bedauern. Dabei wollte sich die EU doch im Rahmen ihrer wertegeleiteten Außenpolitik mit dem Format der Östlichen Partnerschaft explizit darum bemühen, einen Ring von gut regierten Staaten in ihrer östlichen Nachbarschaft zu schaffen. Unter Ministerpräsident Paschinjan deutete sich genau diese gewünschte Tendenz seit 2018 deutlich an. Eine merkliche Unterstützung der EU für Paschinjan hat es jedoch nicht gegeben. Die USA waren im Übrigen im November 2020 mit den Präsidentschaftswahlen befasst – der Zeitpunkt des Karabach-Krieges hätte also kaum günstiger gewählt werden können. Der beständige Verweis auf den internationalen „Minsk-Prozess“ seitens der EU ist in diesem Zusammenhang auch nicht zielführend, da dieser – nicht zuletzt aufgrund der Zusammensetzung des Ko-Vorsitzes – seit Jahren völlig unfruchtbar ist und stagniert.[20] Die EU hätte sich vielleicht selbst in das „Minenfeld“ dieses Konflikts trauen und ihrerseits Lösungsimpulse erarbeiten müssen, da sie im Rahmen der Östlichen Partnerschaft vollmundig verkündet hatte, positiven Einfluss nehmen zu wollen. Der beispielsweise am 31. Oktober 2020 kurzzeitig von kalifornischen Politikern vorgebrachte Vorschlag, skandinavische Friedenstruppen in Karabach zu stationieren – die selbst keine politischen Interessen in der Region verfolgen – wäre eine der denkbaren, durchaus sinnvollen Herangehensweisen des Westens gewesen.

Besondere Aufmerksamkeit muss auch der Rolle Russlands gewidmet werden. Dieses hatte stets den bis 2018 regierenden Karabach-Klan unterstützt. Die Samtene Revolution hatte einen ganz erheblichen innenpolitischen Spielraum bei allen politischen Parteien und Akteuren Armeniens freigesetzt. Die Frage stellte sich, inwieweit Russland bereit war, seinen Bündnisverpflichtungen zu entsprechen. Die armenischen Erwartungen an eine militärische Unterstützung durch den Bündnispartner Russland waren bereits beim zurückliegenden Aufflammen des Karabach-Konflikts im März und April 2016 enttäuscht worden. Sicherheitspolitisch hatte Armenien wegen seiner geographischen Lage aber keine Alternative zu Russland und der Collective Security Treaty Organisation (CSTO). Aber dieses Bündnis war durch die russlandkritische Haltung Paschinjans und seine Zerschlagung des russlandnahen Karabach-Klans geschwächt worden.[21] So ließ schon die diplomatische Reaktion Moskaus auf die aserbaidschanische Invasion auffallend lange auf sich warten und der von Russland mit Wirkung zum 10. November 2020 erzwungene Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien kam zu einem Zeitpunkt, wo Paschinjan bereits ausreichend geschwächt und eine militärische Eroberung Stepanakerts durch aserbaidschanische Kräfte zum Greifen nah war. Der Waffenstillstand erfolgte somit gerade noch so rechtzeitig, dass Moskau seinen Einfluss in der Region nicht zugunsten der Türkei einzubüßen Gefahr lief.

Dass sich die demokratische, prowestliche Bewegung unter Paschinjan nach den Parlamentswahlen im Juni 2021 angesichts der außenpolitischen „Einkesselung“ nun vorerst hat halten können, ist fast schon verwunderlich. Das Verdienst der EU ist es jedenfalls nicht.

Literatur

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Published Online: 2021-08-26
Published in Print: 2021-08-24

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1
  6. Deutschland am Scheidepunkt – eine aktive Verteidigungs- und Bündnispolitik ist überfällig
  7. Governance vulnerabler strategischer Wertschöpfungsketten im Zeichen der Deglobalisierung
  8. Kurzanalysen und Berichte
  9. Deutsche Sicherheitspolitik im Indo-Pazifik zwischen Anspruch und Realität
  10. Der Krieg um Bergkarabach – Folgen für die deutsche und europäische Sicherheitspolitik
  11. Kommentar
  12. Betrachtungen einer Millennial über das „Neue Deutsche Problem“ nach 30 Jahren Frieden
  13. Literaturbericht
  14. Westliche Russlandpolitik: Mythen, Fehlbeurteilungen und Strategien
  15. Ergebnisse strategischer Studien
  16. Großmächtekonkurrenz
  17. Andrea Kendall-Taylor/David Shullman: Navigating the Deepening Russia-China Partnership. Washington, DC: Center for a New American Security, Januar 2021.
  18. Miranda Priebe/Bryan Rooney/Nathan Beauchamp-Mustafaga/Jeffrey Martini/Stephanie Pezard: Implementing Restraint. Changes in U.S. Regional Security Policies to Operationalize a Realist Grand Strategy of Restraint. Santa Monica, CA: RAND Corporation, 2021.
  19. Stephanie Segal/Dylan Gerstel: Degrees of Separation. A Targeted Approach to U.S.-China Decoupling – Interim Report. Washington, DC: CSIS, Februar 2021.
  20. Paul Scharre/Ainikki Riikonen: Defense Technology Strategy. Washingon, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2020
  21. Konflikt und Kooperation in der Arktis
  22. Paul Stronksi/Grace Kier: A Fresh Start on U.S. Arctic Policy Under Biden. Moskau: Carnegie Moscow Center, 17. Mai 2021
  23. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor: Partners, Competitors, or a Little of Both? Russia and China in the Arctic. Washington, D.C.: Center for a New American Security, März 2021
  24. Eugene Rumer/Richard Sokolsky/Paul Stronski: Russia in the Arctic – A critical examination. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, März 2021
  25. Russische Streitkräfte
  26. Estonian Foreign Intelligence Service: International Security and Estonia − Report on Russia. Tallinn: Estonian Foreign Intelligence Service, März 2021
  27. Dmitry (Dima) Adamsky: Moscow’s Aerospace Theory of Victory: Western Assumptions and Russian Reality. Washington, D.C.: Center for Naval Analyses, February 2021
  28. Europa
  29. Alice Billon-Galland/Richard G. Whitman: Towards a strategic agenda for the E3. Opportunities and risks for France, Germany and the UK. London: Chatham House, April 2021
  30. Wolfram Lacher: Unser schwieriger Partner: Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SWP-Studie 3, Februar 2021
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  32. Cleo Paskal: Indo-Pacific strategies, perceptions and partnerships. The view from seven countries. London: Chatham House, März 2021
  33. Hiroyuki Suzuki: Building Resilient Global Supply Chains. The Geopolitics of the Indo-Pacific Region. Washington, DC: Center for Strategic & International Studies (CSIS), Februar 2021
  34. Indo-Pazifik
  35. Stephen Tankel/Lisa Curtis/Joshua Fitt/Coby Goldberg: Positive Visions, Powerful Partnerships. The Keys to Competing with China in a Post-Pandemic Indo-Pacific. Washington, D.C.: Center for a New American Security, März 2021
  36. Cleo Paskal: Indo-Pacific strategies, perceptions and partnerships. The view from seven countries. London: Chatham House, März 2021
  37. Hiroyuki Suzuki: Building Resilient Global Supply Chains. The Geopolitics of the Indo-Pacific Region. Washington, DC: Center for Strategic & International Studies (CSIS), Februar 2021
  38. Jason Bartlett: Exposing the Financial Footprints of North Korea’s Hackers. Washingon, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2020
  39. Globale Klimapolitik
  40. Christian Schaller: Der Meeresspiegelanstieg als Herausforderung für die maritime Ordnung. Kann das Seevölkerrecht Stabilität gewährleisten? Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 1, Januar 2021
  41. Buchbesprechungen
  42. Wilfried von Bredow: Armee ohne Auftrag. Die Bundeswehr und die deutsche Sicherheitspolitik. Zürich: Orell Füssli Verlag, 2020, 200 Seiten
  43. Andreas Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss. Berlin: DeGruyter Oldenbourg 2020, 878 Seiten
  44. Jochen Maurer/Martin Rink (Hrsg.): Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2021, 432 Seiten
  45. Gregor Schöllgen/Gerhard Schröder: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2021, 256 Seiten
  46. Klaus Schwab/Thierry Malleret: COVID-19: The Great Reset. Genf: World Economic Forum 2020, Edition 1.0, 280 Seiten
  47. Alex S. Wilner/Andreas Wenger (Hg.): Deterrence by Denial. Theory and Practice. Amherst, NY: Cambria Press, 2021, 294 Seiten
  48. Bildnachweise
  49. Bildnachweise
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