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Eugene Rumer/Richard Sokolsky/Paul Stronski: Russia in the Arctic – A critical examination. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, März 2021

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Published/Copyright: August 26, 2021

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Rumer Eugene Sokolsky Richard Stronski Paul Russia in the Arctic – A critical examination Washington, DC Carnegie Endowment for International Peace März 2021


Die Arktis ist aus russischer Sicht auch nach dem Ende des Kalten Krieges eine geopolitische Schlüsselregion. Dies hat mehrere Ursachen und ist Gegenstand des Papiers der amerikanischen Russlandexperten Eugene Rumer, Richard Sokolsky und Paul Stronski vom Think Tank Carnegie Endowment for International Peace. Alle drei verfügen nicht nur über eine ausgewiesene akademische Russland-Expertise, sondern auch über langjährige Erfahrungen in der US-Administration. In ihrem Papier fragen die Autoren nach den Treibern, Interessen, Mitteln und Erfolgsaussichten der russischen Arktispolitik. Ebenso werden die möglichen Auswirkungen auf die Interessen der USA und der NATO in den Blick genommen.

Sie beginnen mit der Feststellung, dass Russland seit 2014 eine konfrontativere Haltung in Arktis-Fragen einnehme und die Region als Arena seiner ökonomischen und militärischen Großmachtambitionen betrachte. Die Autoren machen deutlich, dass das besondere Verhältnis Russlands zur Arktis keine neue Erscheinung ist, sondern das Ergebnis der jahrhundertelangen Expansions- und Kolonisationsgeschichte des Landes. Die wesentlichen Treiber und Interessen Moskaus seien indes ökonomischer und militärischer Natur. Die reichhaltigen Naturressourcen (Öl, Gas, Metalle, Fisch) bildeten auch nach mehr als 20 Jahren Putin-Herrschaft die Grundlage der russischen Wirtschaft. Das sei keine neue Erkenntnis, zeige jedoch, dass die Modernisierungsbemühungen der russischen Regierung, die Wirtschaft breiter aufzustellen und die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor zu verringern, bislang wenig erfolgreich waren. Und so werde die Arktis trotz klimawandelbedingter Erschwernisse in der rohstoffökonomischen Verwertungslogik des Kremls auch künftig bedeutsam sein. Ob diese Politik tatsächlich so weiterverfolgt werden kann, ist mit einigen gewichtigen Fragezeichen verbunden, denn die Region ist infrastrukturell nach wie vor schlecht entwickelt, die Finanzmittel Russlands begrenzt und der Bevölkerungsrückgang verschärft sich.

In militärischer Hinsicht, so die Autoren, verfolge Russland drei Ziele: Das wichtigste sei die Sicherstellung der ballistischen Zweitschlagfähigkeit durch die russischen Unterseebootkräfte auf der Halbinsel Kola. Sieben der elf russischen U-Boote mit ballistischen Raketen seien dort für einen eventuellen Konflikt mit der NATO stationiert. Das zweite Ziel sei die Gewährleistung der Durchführung militärischer Operationen im Nordatlantik und in den europäischen Arktisgewässern. Das dritte Ziel betreffe die militärische Absicherung der russischen Wirtschaftsinteressen und Investitionsvorhaben auch mit Blick auf eine mögliche kommerzielle Nutzung der künftigen eisfreien Arktisroute zwischen Asien und Europa. Entscheidend seien jedoch nicht Moskaus Ankündigungen, sondern die verfügbaren Mittel zu deren Durchsetzung; und diese seien vielfältiger Art und reichen von eher weichen bis harten Instrumenten. Zu den eher weichen Mitteln zählten rechtliche und regionalpolitische Anstrengungen, wie etwa die angestrebte Ausweitung der Grenzen des russischen Festlandssockels und die Verfolgung eigener Interessen im Arktischen Rat. Ökonomische Mittel seien vor allem Steueranreize und Subventionen für russische Unternehmen aus dem Energie-, Bergbau- und Infrastruktursektor, um Investitionen zu stimulieren und die Region zu entwickeln. Da die strategischen Unternehmen des Landes durch Schlüsselpersonen aus dem Umfeld des Präsidenten kontrolliert werden, verwundere es nicht, dass die staatliche Arktispolitik mit den Wirtschaftsinteressen der Elite überlappt: „The Arctic economic interests of the state and of the ruling elites are intertwined“ (S. 10).

Moskaus mächtigstes Instrument in der Arktis sei die Nordmeerflotte. Diese wurde kürzlich zu Russlands fünftem Militärbezirk aufgewertet und den Militärbezirken an Land gleichgestellt. Eine Flotte zu einem eigenen Militärbezirk zu erklären, passe zu dem ambitionierten Rüstungsprogramm, das seit einigen Jahren verfolgt werde und nicht nur die russische Marine umfasse. Hinzu kämen neu aufgestellte Kampfverbände an Land, moderne Luftverteidigungssysteme und das gesamte Spektrum nachrichtendienstlicher und computergestützter Aufklärungs-, Kommunikations- und Kommandosysteme. Die Ausrichtung des militärischen Modernisierungsprogramms bewerten die Autoren dennoch als eher defensiv: „Based on the current pace and scope of this force modernization program, Russia does not appear to be on a trajectory to establish naval superiority in the region or a true blue-water navy“ (S. 9). Die meisten Militärfähigkeiten seien weniger für offensive Machtprojektionen konzipiert, sondern vorgesehen für die „close-in perimeter defense and protection of borders“ (S. 9). Man muss jedoch kein Militärexperte sein, um zu wissen, dass auch defensive Fähigkeiten für offensive Zwecke genutzt werden könnten.

Positiv hervorzuheben ist, dass die Autoren tiefer schauen und nicht nur oberflächlich von Russlands Wirtschafts- und Militärinteressen sprechen, sondern im Kapitel „Stakeholders“ relevante Unternehmen und Personen benennen, die die Arktispolitik maßgeblich vorantreiben und von ihr profitieren. Zu diesen zählen der Gasproduzent Novatek, der staatliche Atomkonzern Rosatom und der Sekretär des Sicherheitsrats und ehemalige Leiter des Inlandsgeheimdiensts FSB, Nikolai Patruschew. Insgesamt gleiche die Situation zwischen Russland und der NATO im hohen Norden einem klassischen Sicherheitsdilemma aus gegenseitigen Drohungen, Beschuldigungen und Aufrüstungsrunden. Mit dieser Situation könnten die USA und die NATO am besten umgehen, wenn sie gleichzeitig auf Diplomatie und Abschreckung setzten, um jederzeit Spannungen reduzieren, Kooperationsfelder bewahren und eigene Interessen verteidigen zu können. Die Autoren enden mit der Warnung, die Lage in der Arktis durch das Prisma eines Großmächteringens zu betrachten, da dies nur die russische Sichtweise stärke. Der Rezensent fragt sich allerdings, ob es dafür nicht schon zu spät ist.

https://carnegieendowment.org/files/Rumer_et_al_Russia_in_the_Arctic.pdf

Published Online: 2021-08-26
Published in Print: 2021-08-24

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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