Home Andreas Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss. Berlin: DeGruyter Oldenbourg 2020, 878 Seiten
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Andreas Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss. Berlin: DeGruyter Oldenbourg 2020, 878 Seiten

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Published/Copyright: August 26, 2021

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Lutsch Andreas Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss Berlin DeGruyter Oldenbourg 2020 1 878


Über die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland sind in den vergangenen 60 Jahren viele Bücher und Aufsätze erschienen. Man könnte damit eine kleine Bibliothek füllen. Warum, so muss man fragen, sollte man jetzt noch ein weiteres Buch zu diesem Thema lesen, insbesondere dann, wenn es sich um eine über 800 Seiten lange Dissertationsschrift handelt? Die Antwort auf diese Frage fällt dem Rezensenten nicht schwer: Man sollte es lesen und vor allem in allen einschlägigen Bibliotheken einstellen. Dafür sprechen folgende Gründe: Erstens bearbeitet der Verfasser in aller Gründlichkeit sechs wichtige Phasen der Geschichte der Bundesrepublik zwischen 1963 und 1979 unter Verwendung nicht nur der einschlägigen Literatur, sondern auch der mittlerweile zugänglichen Regierungsdokumente. Zweitens hat sich der Verfasser gründlich in die Problematik der Strategie- und Abschreckungsdebatte eingearbeitet und vermeidet so jene Verkürzungen, die die Debatte über nukleare Fragen in Bezug auf Deutschland häufig kennzeichnen, weil die betreffenden Autorinnen oder Autoren nur über unzulängliche Kenntnisse über militärstrategische und technische Fragen verfügen. Drittens greift dieses Buch viele als abgelegt betrachtete Themen der nuklearen Politik der Bundesrepublik in den Jahren bis 1979 auf und legt überzeugend dar, wie sehr wir manche Probleme falsch gesehen haben und neu betrachten müssen.

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Feststellung eines grundsätzlichen Dilemmas deutscher Verteidigungs- und Nuklearpolitik seit Beginn der 60er Jahre. Die Bundesrepublik war wegen ihrer Frontlage und hohen Verwundbarkeit mehr noch als die anderen westeuropäischen Staaten in ihrer Sicherheit abhängig von der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA. Die Glaubwürdigkeit der US-Abschreckung sank aber in dem Maße, in dem die USA selber verwundbar für sowjetische Nuklearschläge wurden. Die Bundesrepublik hatte politisch nicht die Möglichkeit, so wie Großbritannien und Frankreich dieses Dilemma durch eine eigene nukleare Abschreckungsmacht wettzumachen. Stattdessen musste die Bundesregierung versuchen, dieses Defizit auf andere Weise auszugleichen, sei es durch die Suche nach einer nuklearen multilateralen NATO-Streitkraft oder durch Einflussnahme auf die Quantität, Qualität und Dislozierung der amerikanischen Kernwaffen und auf den Prozess der Entscheidungsfindung über den Einsatz nuklearer Mittel (auch wieder im Rahmen der NATO). Dieses Dilemma wurde verstärkt durch die Notwendigkeit der Stabilisierung der nuklearstrategischen amerikanisch-sowjetischen Rüstungskonkurrenz durch eine Politik der Rüstungskontrolle. Diese beinhaltete aus amerikanischer Sicht zwei wesentliche Elemente: die Verhinderung der weiteren Verbreitung der Verfügungsgewalt über Kernwaffen im Rahmen einer globalen und multilateralen Übereinkunft (dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag) und die Stabilisierung der nuklearstrategischen Kräfte im Rahmen der SALT-Verhandlungen. Innerhalb dieses Bezugsrahmens versuchten die unterschiedlichen Bundesregierungen in den Jahren zwischen 1963 und 1979, die damit verbundenen Dilemmata auf unterschiedlichen diplomatischen Bühnen zu lösen oder zumindest abzumildern.

Das Buch beginnt mit der Analyse der Lage im Jahr 1963, wo sich die Konturen des Dilemmas deutlich abzeichneten und die Bundesregierung gefordert war, auf die neue Lage zu reagieren. Das zweite Kapitel beschreibt die Entwicklung in den Jahren 1964 bis 1966, wo die Bundesregierung versuchte, das Projekt einer multilateralen nuklearen Streitmacht der NATO zu bewahren, während gleichzeitig die amerikanisch-sowjetischen Konsultationen über einen Nichtverbreitungsvertrag liefen, bei denen von sowjetischer Seite alles versucht wurde, um genau diese Option zu verhindern. Das dritte und das vierte Kapitel beleuchten die Zeit der ersten großen Koalition (1966–1969), in der auf der einen Seite die hinhaltende Politik Bonns mit Bezug auf den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag beleuchtet wird und auf der anderen Seite der Strategiewandel innerhalb der NATO zu MC 14/3 (Strategie der flexiblen Antwort) und die Rolle taktischer Kernwaffen dargestellt werden. In beiden Kapiteln werden die innerdeutschen und die allianzpolitischen Entwicklungen präzise und mit großem Sachverstand dargestellt und die Probleme und deren Diskussionen innerhalb des relativ engen Kreises der Beteiligten überzeugend vorgestellt. Ebenso wird der enge Zusammenhang zwischen beiden Politikfeldern analysiert. Die Kapitel enden mit der Feststellung, dass die deutsche Verteidigungs- und Allianzpolitik zum Zeitpunkt des Machtwechsels zugunsten der sozialliberalen Koalition in eine Sackgasse geraten war.

Das darauffolgende Kapitel befasst sich mit den Jahren zwischen 1969 und 1976, die durch den Versuch gekennzeichnet waren, die festgefahrene Lage in der Verteidigungs- und Allianzpolitik durch eine politische Offensive in Richtung Entspannung und Rüstungskontrolle zu überwinden. In dieser Zeit wurde tatsächlich vieles geleistet, aber die Widersprüche und Dilemmata der Abschreckungspolitik blieben aus deutscher Sicht bestehen. Sie wurden – und das zeigt das abschließende Hauptkapitel von 180 Seiten deutlich auf – in dem Zusammenhang wieder akzentuiert, als der Ost-Konflikt erneut an Dynamik gewann und die sowjetische Führung versuchte, genau diese Schwäche auszuspielen. Die Ausführungen zu den Jahren 1976 bis 1979 gehören zu dem Besten, was zu dieser Zeit geschrieben worden ist.

Zusammengefasst stellt dieses Buch ein enormes Kompendium an Wissen und ein Reservoir tiefschürfender Analyse dar, welches es in dieser Qualität und Klarheit im deutschen Sprachraum nicht gibt. Enttäuschend sind eher die Zusammenfassung sowie der Versuch, die gesamte, hier untersuchte Phase als eine Entwicklung von einer Politik der Westintegration zu einer Politik des Gleichgewichts darzustellen. Es ist richtig, dass Adenauer in erster Linie eine Politik verfolgte, die auf Westintegration aus war und dass mit Helmut Schmidt ein Kanzler ab 1974 regierte, der Gleichgewichtspolitik in den Vordergrund stellte. Aber diese Formel ist eine zu grobe Reduktion von Komplexität, die der Verfasser andererseits in seinem Werk meisterhaft darzustellen vermag.

Published Online: 2021-08-26
Published in Print: 2021-08-24

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  3. Editorial
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  17. Andrea Kendall-Taylor/David Shullman: Navigating the Deepening Russia-China Partnership. Washington, DC: Center for a New American Security, Januar 2021.
  18. Miranda Priebe/Bryan Rooney/Nathan Beauchamp-Mustafaga/Jeffrey Martini/Stephanie Pezard: Implementing Restraint. Changes in U.S. Regional Security Policies to Operationalize a Realist Grand Strategy of Restraint. Santa Monica, CA: RAND Corporation, 2021.
  19. Stephanie Segal/Dylan Gerstel: Degrees of Separation. A Targeted Approach to U.S.-China Decoupling – Interim Report. Washington, DC: CSIS, Februar 2021.
  20. Paul Scharre/Ainikki Riikonen: Defense Technology Strategy. Washingon, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2020
  21. Konflikt und Kooperation in der Arktis
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  23. Jim Townsend/Andrea Kendall-Taylor: Partners, Competitors, or a Little of Both? Russia and China in the Arctic. Washington, D.C.: Center for a New American Security, März 2021
  24. Eugene Rumer/Richard Sokolsky/Paul Stronski: Russia in the Arctic – A critical examination. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, März 2021
  25. Russische Streitkräfte
  26. Estonian Foreign Intelligence Service: International Security and Estonia − Report on Russia. Tallinn: Estonian Foreign Intelligence Service, März 2021
  27. Dmitry (Dima) Adamsky: Moscow’s Aerospace Theory of Victory: Western Assumptions and Russian Reality. Washington, D.C.: Center for Naval Analyses, February 2021
  28. Europa
  29. Alice Billon-Galland/Richard G. Whitman: Towards a strategic agenda for the E3. Opportunities and risks for France, Germany and the UK. London: Chatham House, April 2021
  30. Wolfram Lacher: Unser schwieriger Partner: Deutschlands und Frankreichs erfolgloses Engagement in Libyen und Mali. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SWP-Studie 3, Februar 2021
  31. Stephen Tankel/Lisa Curtis/Joshua Fitt/Coby Goldberg: Positive Visions, Powerful Partnerships. The Keys to Competing with China in a Post-Pandemic Indo-Pacific. Washington, D.C.: Center for a New American Security, März 2021
  32. Cleo Paskal: Indo-Pacific strategies, perceptions and partnerships. The view from seven countries. London: Chatham House, März 2021
  33. Hiroyuki Suzuki: Building Resilient Global Supply Chains. The Geopolitics of the Indo-Pacific Region. Washington, DC: Center for Strategic & International Studies (CSIS), Februar 2021
  34. Indo-Pazifik
  35. Stephen Tankel/Lisa Curtis/Joshua Fitt/Coby Goldberg: Positive Visions, Powerful Partnerships. The Keys to Competing with China in a Post-Pandemic Indo-Pacific. Washington, D.C.: Center for a New American Security, März 2021
  36. Cleo Paskal: Indo-Pacific strategies, perceptions and partnerships. The view from seven countries. London: Chatham House, März 2021
  37. Hiroyuki Suzuki: Building Resilient Global Supply Chains. The Geopolitics of the Indo-Pacific Region. Washington, DC: Center for Strategic & International Studies (CSIS), Februar 2021
  38. Jason Bartlett: Exposing the Financial Footprints of North Korea’s Hackers. Washingon, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2020
  39. Globale Klimapolitik
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  41. Buchbesprechungen
  42. Wilfried von Bredow: Armee ohne Auftrag. Die Bundeswehr und die deutsche Sicherheitspolitik. Zürich: Orell Füssli Verlag, 2020, 200 Seiten
  43. Andreas Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss. Berlin: DeGruyter Oldenbourg 2020, 878 Seiten
  44. Jochen Maurer/Martin Rink (Hrsg.): Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2021, 432 Seiten
  45. Gregor Schöllgen/Gerhard Schröder: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2021, 256 Seiten
  46. Klaus Schwab/Thierry Malleret: COVID-19: The Great Reset. Genf: World Economic Forum 2020, Edition 1.0, 280 Seiten
  47. Alex S. Wilner/Andreas Wenger (Hg.): Deterrence by Denial. Theory and Practice. Amherst, NY: Cambria Press, 2021, 294 Seiten
  48. Bildnachweise
  49. Bildnachweise
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