Abstract
The relationship between Germany and Italy is a special one, as Italy was already a place of longing in Goetheʼs time and became so even more in the 1950s post-war period, with the first travel abroad, interest in the new guest workers and the general desire for everything non-German. Italy thus became a very important place of the imagination in the Schlager-songs of West Germany: in addition to specifically German and Alpine themes, Italian subjects in particular can be found at this time and in this genre. The foundation for these attitudes, as this essay will show, lie in the approaches to Italy developed in the 19th century, based in part on escapism and exoticism. Even today, alongside pop and rock artists whose production functions differently, one German-Italian showmaster in particular still plays heavily with clichés but also with irony, as this essay will demonstrate. Through his staging, he implies that these patterns and paradigms are not yet completely obsolete.
Heimat, Sehnsucht und Fremde im deutschen Schlager
„Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär’“, sang Caterina Valente 1956 im Film „Bonjour, Kathrin“ an der Seite von Peter Alexander und anderen.[1] Der Film, in dem drei mittellose Musikerinnen und Musiker sich in einem Hotel während des San Remo-Festivals verdingen und es durch eine List doch noch auf die große Bühne schaffen, traf den Nerv der Zeit: Nicht nur die launige Handlung an einem schönen Urlaubsort, sondern auch eingängige Schlager wie „Komm ein bisschen mit nach Italien“, die nicht von der Heimat, sondern von anderen Orten und insbesondere von Italien handelten, finden sich in der damaligen Zeit zuhauf. Sie perpetuierten einerseits Klischees über das Fremde, andererseits lokalisierten derartige Songs ihre Sujets in der Fremde, exotisierten sie und erfüllten damit auch ein Bedürfnis nach Weltflucht (beziehungsweise einer wenigstens imaginären Flucht aus Westdeutschland) bei den Hörerinnen und Hörern. Diese Schlager bildeten einen Gegenpol zu den allgegenwärtigen Heimat-Sujets (zu sehen bis heute in den Festen der Volksmusik und in verschiedenen Schlagerformaten in den sogenannten dritten Programmen), die dem Schlager oftmals bis heute anhaften.
Gemeinsam ist beiden Schlager-Arten, dass sie Klischees, in diesem Kontext in Form von abgenutzten Bildern, bekannten stilistisch-musikalischen Elementen und oft gehörten Textbausteinen, vermitteln. Klischees und der sich auf Personen beziehende Begriff „Stereotyp“ sind in ihrer Definition allerdings mehrdeutig. Bernd Six konstatiert, dass in vielen Untersuchungen Vorurteilen, die immer wieder genannt werden, „ein Körnchen Wahrheit“ seitens der Forscherinnen und Forscher zugestanden wird.[2] Nun gibt es auch positive Vorurteile und diese Bewertungen setzen ethnische, moralische oder normative Standards voraus, die einem Beobachter, der als fiktive Instanz fungiert, zugeschrieben werden.[3] Erlauben negative Klischees und Stereotype im Alltag die schnelle und grundlose Abwehr dessen, was fremd erscheint, so birgt diese abwehrende Haltung gegenüber der Außenwelt ein aggressives Potential.[4]
Im schlimmsten Fall führen diese abwertenden und vorurteilsbehafteten Einstellungen zu Rassismus. Versucht man die Gründe des einzelnen für rassistisches Verhalten zu ergründen, bewegt man sich im Forschungsfeld der Soziologie und Psychologie: Ausgehend vom Konzept des „klassischen Rassismus“ beschreibt René Baston mit Bezug auf das Standardwerk der Rassismusforschung, Gordon Alports „The Nature of Prejudice“ (1954), Vorurteile, Antipathie, Generalisierungen und Inflexibilität, die ihrerseits, wie neuere Forschung aufzeigte, auf Naturalisierung (wie etwa Klima, Geographie), Biologisierung und Essentialisierung beruhen.[5]
Die gängigen Klischees über Italien aus deutscher Sicht sind sowohl positiver als auch negativer Natur. Dass es sich weder bei ‚den Deutschen‘ noch bei ‚den Italienern‘ um eine homogene Gruppe mit gleicher Sichtweise handelt, ist selbstredend, doch werden bestimmte Klischees dennoch auf immer gleiche Weise wiederholt. Sie hängen, auch wenn ‚das Fremde‘, das Italien sein kann, mit Projektion, also die Übertragung internalisierter Meinungen und Erfahrungen auf ein größeres Bild, zusammen. Auch die Imagination eines Sehnsuchtsortes spielt eine Rolle, die geschichtlich weit zurückreicht.
Italien als Imaginationsort
Die komplexe Beziehung von Italien als Imaginationsort zur deutschen Kultur kann an dieser Stelle nur in komprimierter Form nachgezeichnet werden, doch hat ein Aufenthalt in Italien spätestens seit Goethe einen Platz im kulturellen Gedächtnis der deutschsprachigen Welt. Durch die veränderten Reisegewohnheiten und Interessen im 18. Jahrhundert, bei der im Rahmen von Reisen auch Wissensaneignung zur Persönlichkeitsbildung durch das Reisen gehörte, wurde insbesondere Italien zu einem Sehnsuchtsort deutschsprachiger Menschen. Als Vorläufer sind die Grand Tour und die Kavalierreisen seit dem 16./17. Jahrhundert und damit einhergehende frühere Reiseberichte zu nennen. Damit verbunden ist auch der Blick zurück, im Falle von Italien besonders in die Antike, die als Kunstideal anzusehen eine zentrale Vorstellung der Weimarer Klassik war.[6] Goethe, dessen Vater 1740/1741 schon eine Italienreise unternommen hatte, war zudem auf seiner Bildungsreise begeistert vom milden Klima, den reichhaltigen Pflanzen und von Italien als „Ort des Einklangs von Mensch, Kultur und Natur“.[7] Negative Stereotype über Italiener sind allerdings auch schon im 18. und 19. Jahrhundert zu finden und wurden beispielsweise an den klimatischen Verhältnissen in Italien im Zusammenhang mit damit angeblich verbundenen Temperamentsdispositionen festgemacht und auch auf die Musik der Musikerinnen und Musiker von „sonnigem Gemüt“ übertragen.[8] Nach dem Zweiten Weltkrieg baute das Image von Italien als in der Bundesrepublik Deutschland hochbeliebtem Urlaubsland in gewisser Weise darauf auf. Hasso Spode, Leiter des Historischen Archivs für Tourismus, fasst dies wie folgt zusammen: „Ein arkadisches Traumland voll Kunst und Geschichte – nur die ‚faulen Italiener‘ störten diese Idylle. In der Nachkriegszeit wurde diese Tradition fortgeschrieben, einschließlich einer gewissen Herablassung gegenüber den Bereisten, nun allerdings zusätzlich befeuert durch die Medien und Schlager wie die Capri-Fischer.“[9] In diese Zeit fällt auch der Beginn des Massentourismus und die Ankunft der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in einer politisch stabilen, aber konservativen Zeit, in der sich in der Rezeption vermeintlich italienischer Lebensart auch mitten in Westdeutschland Sehnsuchtsorte zu eröffnen schienen: „Im kriegszerstörten, sittenstrengen Adenauer-Deutschland brach eine ‚Italo‘-Manie aus mit Eisdielen, Pizza, Ravioli, Miracoli, Lido-Kragen und Capri-Hose. Auch der Italienurlaub, anfangs eher ein Medienhype, wurde allmählich Realität: Um 1960 ging knapp ein Zehntel der Haupturlaubsreisen nach Italien.“[10]
Untrennbar damit verbunden ist die Beobachtung, dass auch in der deutschen Popularmusik eine gezieltere Italienrezeption stattfand: einmal in Form von populären italienischen Künstlerinnen und Künstlern und einmal mit Schlagern über Italien und einzelne Aspekte, die mit Italien assoziiert werden. Birgit Mandel, Kulturwissenschaftlerin, konstatiert in Hinblick auf die Massenmedien der 1950er Jahre reduktionistische Images und Klischeebilder in Zusammenhang mit Italien als Imaginationsraum, die auch in der Musik jener Zeit präsent waren: Zum einen wurde dort ein historisch geprägtes Italien-Image rezipiert, beispielsweise in Zeitschriften, die sowohl im Redaktionsteil als auch in Form von Werbeanzeigen italienische Architektur, Apfelsinenbäume oder das Meer zeigten.[11] Bemerkenswert ist neben den Referenzen auf elegante Mode und schmackhaftes Essen der häufig gefundene Verweis auf das Thema Liebe, das sich in den von Mandel untersuchten Zeitschriften in Überschriften wie „Adriareise – Liebe inbegriffen“ oder „Amore ist heißer als Liebe“ zeigte und auf der Bildebene mit eingeölten Körpern italienischer Männer und blonder Frauen auch sexualisiert wurde. In den von Mandel untersuchten Illustrierten wird Italien, wenig überraschend für diese Gattung von Freizeitliteratur, fast ausschließlich auf seine Funktion als Urlaubsland reduziert, und in Verbindung damit auf Schlagworte wie Süden, Sonne, blaues Meer, Lebensfreude, Traum, Freizügigkeit und Liebe. Auch über Sex wurde in chiffrierter Weise gesprochen.[12] Das Italienbild im Schlager der 1950er Jahre beschränkte sich ebenfalls weitestgehend auf diese Attribute und verschränkte so Tourismus mit massenmedial simplifizierten Bildern und Musik.[13] Italien als Imaginationsort ist dort und auch in Filmen nicht mehr als eine Kulisse, wie auch der Heimatschlager sowohl visuell als auch textlich eine dem Zeitgeist der Nachkriegszeit geschuldete Projektionsfläche war.
Einen Anteil an der Prägung dieses Bildes, das zumindest die Italienerinnen und Italiener und weniger die besungene Natur und das Klima betrifft, hatte sicherlich die Präsenz der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die Mitte der 1950er Jahre nach Westdeutschland geholt wurden und deren Präsenz die Projektionen noch befeuert haben, da sie eben nicht selbst zu Wort kamen, sondern von Textdichterinnen und Textdichtern ein Dolce Vita auf den Leib geschrieben bekommen haben, das mit der Lebensrealität in ihrer Heimat sicherlich wenig zu tun hatte. Ist heute die Wahrnehmung Italiens aus deutscher Sicht „kaum noch durch die Semantik der Migration“ geprägt, da Italien wirtschaftlich zu den ‚westlichen‘ europäischen Ländern aufgeschlossen hat, war dies in der frühen Nachkriegszeit nicht der Fall. Italien galt als ‚Armenhaus Europas‘ und den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern wurden mit Migration verbundene Attribute wie „arm“ und „fremd“ zugeordnet.[14] Sala und Wöhrle stellten zudem fest, dass beispielsweise spanischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern wenig neue Attribute nationaler „Eigenschaftlichkeit“ zugeordnet wurden, der Gruppe der Italienerinnen und Italiener hingegen schon aufgrund ihrer medialen Sichtbarkeit und „Bebilderbarkeit“.[15] Letzteres speist sich laut den Autoren aus der Idee des Dolce Vita, die auf den Mythos der „Nische der Gewerbetreibenden zurück [geht], der maßgeblich der Legende Vorschub leistete, dass der italienische ‚Gastarbeiter‘ einen beneidenswerten italienischen Lebensstil nach Deutschland gebracht habe“.[16] Im Zuge dieses Narrativs wurde Norditalien als industrialisierte, metropolenreiche Region wahrgenommen, sodass „der projektionsgesättigte ‚Sehnsuchtsort‘ der Deutschen nicht mehr in gleichem Maße als exotische Fremdheitserfahrung ausgedeutet wurde, wie dies noch in den Anfängen des deutschen Nachkriegstourismus der Fall gewesen sein mag. Dies hat zur Folge, dass die Romantisierung Italiens heute zwischen entschleunigter Einfachheit und beschleunigter Lebenslust zwar nach wie vor Bestand hat, nun aber nicht mehr systematisch die Annahme einer grundsätzlichen ‚kulturellen Differenz‘ beinhaltet, sondern eher auf Eigenheiten einer besonderen ‚Lebensart‘ aufbaut …“.[17]
In Form der damals populären ‚Italo‘-Schlager findet also zum einen eine De-Lokalisierung aus der Heimat und damit aus Deutschland statt und zum anderen eine Re-Lokalisierung in den westdeutschen Imaginationsraum Italien. Schlager, die im Allgemeinen von Fremde und Exotik handeln, gab es in der bundesdeutschen Nachkriegszeit viele, wie etwa „Ananas aus Caracas“ von Vico Torriani oder auch „Steig in das Traumboot der Liebe“ von Caterina Valente.[18] Werner Mezger spricht in seiner kulturkritischen Auseinandersetzung über den deutschen Schlager beispielsweise von der „Südsee-Masche“.[19] Er bezieht sich damit auf Schlager, in denen von Urlaub „Unter Palmen am Meer fern in Hawaii“ gesungen wurde, und beschreibt nicht nur eine Re-Lokalisierung der thematisierten Örtlichkeiten im Schlager, sondern auch des typischen übergeordnet stehenden Schlager-Sujets „Sehnsucht“, das sowohl in Songs über die Heimat als auch über die Fremde in Form von Fernweh gefunden werden könne.[20] Der Schlager finde, so die These, wenn er lokal begrenzt sei, in verschiedenen Räumen statt, die alle unter dem Oberbegriff „Sehnsucht“ gewisse Bedürfnisse der Adressatinnen und Adressaten artikulieren. Dies könne in Form des Heimatschlagers mithilfe einer alpenländisch anmutenden artifiziellen pandeutschen Erlebniswelt stattfinden, in Form von exotisierenden Sujets wie in Südsee-Schlagern oder konkreter durch lokal eingebundene, aber ebenso mit gewissen Bildern und Images spielende Schlagerinhalte zu Italien.
Im Heimatschlager wird die Sehnsucht mit Rückgriff auf die romantische Lyrik mit Textbausteinen wie Heimweh, Traum und Einsamkeit und Bildern wie plätschernden Flüssen und grünen Tälern verhandelt.[21] Zwei von vielen plakativen Beispielen für die Verhandlung von Heimat sind etwa aus dem eher maritimen-norddeutschen Raum Freddy Quinns „Heimweh (Dort, wo die Blumen blüh’n)“ oder auch, eher alpin, „Fliege mit mir in die Heimat“ von den Kastelruther Spatzen.[22] Analog dazu kombiniert der Fernweh-Schlager den Topos Sehnsucht mit der Fremde, mit Meer, Strand, Sorglosigkeit und Exotik. Konkretisiert wird dies im ‚Italo‘-Schlager durch Attribute, die gemeinhin mit Italien verbunden werden. Heimat- und Fernweh, respektive ‚Italo‘-Schlager haben allerdings nicht nur das verbindende Element Sehnsucht, sondern die Parallelen lassen sich auch auf der Metaebene bezüglich der Imaginationsräume finden. Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger stellte hierzu fest: „Weil das Exotische nicht mehr jenseits eines festen Horizontes liegt, sondern inmitten der erfahrbaren Welt erlebt wird, und weil umgekehrt das Heimatliche gar nicht mehr auf den eigentlichen Heimatraum beschränkt ist, vereinigen sich die ursprünglich entgegengesetzten Tendenzen in einer Art Binnenexotik, wie man diese am Pittoresken orientierte, Heimatpflege und Weltbegegnung vereinigende Form nennen könnte.“[23]
Zudem zeigten sich die Parallelen in der gleichsamen Beliebtheit dieser beiden Arten des Schlagers. In der noch jungen Bundesrepublik fand durch die Einbeziehung der Fernweh-Themen, den zahlreichen sich selbst exotisierenden Ausländern wie Caterina Valente, Vico Torriani, Karel Gott und falschen Akzenten in der damaligen Schlagerwelt einerseits eine Annäherung an die internationalen Weiten der Popmusik statt, andererseits auch Exotismus.[24] Die Sehnsucht nach der Fremde bewegte die Deutschen, die durch den wachsenden Wohlstand die Möglichkeit dazu hatten, mit ihren Autos über den Brenner zu fahren. Xenophobe Themen wie Überfremdung und Identitätsverlust kamen in diesen Schlagern nicht zum Tragen, denn es wird die Perspektive des außenstehenden Touristen eingenommen, eine gewisse Unverbindlichkeit bleibt also bestehen.[25] Hinter der Thematisierung von Heimat, der Sehnsucht nach anderen Ländern – wenn auch eher nur aus Neugier, Erholung oder Eskapismus in Form einer Urlaubsreise – und auch der Stilisierung und Neutralisierung von als ‚typisch deutsch‘ konnotierten (interessanterweise immer eher süddeutsch erscheinenden) Orten wie beispielsweise bergigen Landschaften im Heimatschlager steht die Frage nach der nationalen Identität, die ohnehin ein belastetes Thema darstellt: Nach 1945, also nach NS-Regime, Holocaust, verlorenem Krieg mit Besatzung und Vertreibung, ist die Heimatliebe bei den Deutschen vermint. Eine abstrakte, geradezu kitschige und artifizielle ‚deutsche‘ Heimat, die romantisch-alpin dargestellt wird, fungiert dabei als Surrogat, was sich in der Popularisierung des volkstümlichen Schlagers in den 1980er und 1990er Jahren fortsetzt, worauf noch an späterer Stelle eingegangen wird. Die Evozierung eines bestimmten Gefühls, das oftmals durch die Assoziation mit Begriffen aus dem Themenfeld „Heimat“ geweckt wird, kann beispielsweise auch mit Exotik, fremden Ländern und Fernweh gekoppelt werden und dabei positive Gefühle wie Zärtlichkeit, Romantik oder gar Vertrautheit hervorrufen. Diese Themen bzw. Räume werden dann ebenso wie die Heimatorte zu einer Projektionsfläche. So wird auch die Ferne zu einem Imaginationsort und ist der Heimat gar nicht mehr so fremd.[26] Der Ethnomusikologe Julio Mendívil und der Experte für Popmusik Christoph Jacke sehen auch in Schlagern, die vordergründig nicht einen geographischen Ort besingen, einen Rückgriff auf dieses Thema, beispielsweise in Form einer Erinnerung an vergangene Zeiten. Als Beispiel nennen sie ein Duett von Helene Fischer und Andreas Gabalier in der Helene-Fischer Show von 2016, in der sie alte Schlager sangen. Sie rekonstruierten so eine vergangene erlebte Zeit als „Evokation erlebten Glücks als Ersatz für Geborgenheit“, wodurch die Konstruktion einer imaginierten Heimat entsteht, indem die ebenfalls imaginierten Welten der damaligen Schlager nochmal nostalgisch evoziert wurden:[27] „Die imaginiert erlebten Orte und Zeiten sollen auf diese Art und Weise auf die defektive reale Welt projiziert werden, um diese Welt besser zu machen.“[28]
Als konkretes Thema wird die Heimat kaum noch im zeitgenössischen Schlager verhandelt. Es ist daher nicht falsch, bezüglich der besungenen Sujets und Inszenierungen von einer wenigstens momentanen De-Lokalisierung des Schlagers zu sprechen, auch wenn noch vor Kurzem der Begriff untrennbar mit dem Genre Schlager verbunden schien. Zu vorherrschend war das sogenannte volkstümliche, oft auch „Heimatschlager“ genannte Subgenre. Insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren war der volkstümliche Schlager im Fernsehen bei älteren Zielgruppen äußerst populär.[29] Alpenländische Kulissen, sattgrüne Wiesen und tradierte Geschlechterrollen machten dieses Genre damals zum „gesellschaftliche[n] Sedativum“.[30] Durch seinen durchschlagenden Erfolg einerseits und die darauffolgende kulturkritische Auseinandersetzung von Kritikerinnen und Kritikern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern andererseits, prägte der volkstümliche Schlager die Sicht auf das Gesamtgenre nachhaltig, sodass insbesondere ab den frühen 2000er Jahren Künstlerinnen, allen voran Helene Fischer, die sich alpenländischer Folklore weder musikalisch noch performativ bedienen, fast schon messianisch im Feuilleton verhandelt wurden. Fischer, die Anführerin des hochpopulären Popschlagers, und andere Künstlerinnen wie Kerstin Ott, Vanessa Mai und Andrea Berg bedienen heimatliche Themen nicht. Wenn doch einmal Schlüsselwörter wie „Zuhaus“ fallen, dann in einer delokalisierten Art und Weise, die sich an die Überlegungen von Jacke/Mendívil als virtuelle und doppelt evozierte Heimat 2.0 anschließt.[31] So singt Fischer im Song „Zuhaus“ (2021) „ich bin dein Zuhaus’“, denn der Ort ist bei ihr von einem Realort entkoppelt: „Der Mond bewegt die Meere, die Sonne weckt uns auf / Schlafende Vulkane, der Fluss nimmt seinen Lauf / Oasen in der Wüste, Wolken schwimm’n im Blau / Zwischen all den Sternen, hier sind wir zuhaus“.[32] Auch der Antagonist der Heimat und des Zuhauses, nämlich die Fremde, wird hier nicht mehr so eindeutig benannt wie in älteren Schlagern. So werden im aktuellen Popschlager abgesehen von einigen wenigen Urlaubsschlagern die Themen „Urlaub“, „Fremde“ und „ferne Länder“ weniger konkret besungen. Vielmehr bedienen sich diese Songs auf der klanglichen Ebene etwas komplexerer Rhythmen und exotisierender Elemente, wie beispielsweise in „Terra Australia“ (2019) von Beatrice Egli, das mit Didgeridoo- und Steeldrum-Klängen spielt, oder in „Viva la Vida“ (2017) von Helene Fischer, das mit spanischer Gitarre und südamerikanisch klingenden Bläsern eine Urlaubsatmosphäre projiziert.[33] In „Vamos a Marte“ (2021) nutzt Fischer ein moderneres, wenig exotisierendes Klangbild, bedient im Musikvideo und verklausuliert auf der textlichen Ebene mit Luis Fonsi allerdings das Klischee des Latin Lovers recht anspruchslos.[34] Auf der Bildebene verhandeln diese Songs, sofern ein Musikvideo vorhanden ist, Urlaubswelten ziemlich deutlich und greifen auch bei eigentlich anders gelagerten Themen auf Aufnahmen, die kaum in Deutschland entstanden sein können, zurück. So etwa in Beatrice Eglis Musikvideo zu „Verliebt, verlobt, verflixt nochmal“ (2018), das in Granada spielt, klanglich aber in den konventionellen Fahrwassern des Popschlagers bleibt, oder in „Ich sterb für dich“ (2016) von Vanessa Mai, das an einem südlichen Strand gedreht wurde, aber musikalisch auch eher Konventionelles bietet.[35] Dezidiert italienische Räume finden sich lediglich in Vanessa Mais Song „Venedig (Love is in the Air)“ (2020) und dem dazugehörigen Musikvideo, das visuell und inhaltlich tradierte Italienbilder einsetzt, die sich auch in älteren Schlagerfilmen finden.[36] Allerdings thematisiert der Song anders als an älteren Schlagern noch zu zeigen sein wird kein konkretes Verhältnis zu Italien oder Italienerinnen und Italienern, sondern orientiert sich am Klischee von Venedig als der ‚Stadt der Liebenden‘. Mais Song bleibt dahingehend unkonkret, mit wem sie die besungene Liebe in Venedig erlebt: „Wir feiern in Venedig und komm’n uns immer näher / Ich zieh dich an mich ran und flüster: ‚Love is in the Air‘ / Diese Nacht hält ewig, um uns rum das Meer / Alles so perfekt und wir sing’n: ‚Love is in the Air‘“.
Italien ist bei Vanessa Mai also mehr Kulisse als Gegenstand inhaltlich-musikalischer Verhandlungen, und auch kein Zitat der Italienverhandlungen in älteren Schlagern, die deutlich plakativer und klischeeanfälliger mit den Sujets, Images und Klängen spielten. Dennoch wird hier ein beliebtes Bild heraufbeschworen: Venedig als Stadt zahlreicher romantischer Phantasien und Bilder, eine Fahrt mit der Gondel als Inbegriff von Romantik. So bietet Mai mit dem Untertitel „Love is in the Air“ nichts Neues, sondern nur Altbekanntes.
Konkrete textlich-bildliche Verhandlungen von Italien, Italienerinnen und Italienern finden also im aktuellen Popschlager nicht mehr statt. Die exotischen Urlaubswelten ohne eindeutigen geographischen Ort, die sich in einigen Musikvideos finden lassen, sind mehr Kulisse als Thema oder Ausgangspunkt eines Handlungsstrangs. Der (visuelle) Blick auf die jeweiligen Orte im Musikvideo, beispielsweise in „Venedig“ von Vanessa Mai und auch in „Terra Australia“ von Beatrice Egli, bleibt touristisch-unverbindlich. Es findet allerdings auch kein othering[37] oder ein Reproduzieren von rassistischen Klischees statt. In der unmittelbaren und etwas späteren Nachkriegszeit gab es hingegen viele Schlager, die mit Exotismen und insbesondere mit italienischen Sujets, Stereotypen und Vorurteilen spielten. Die Wurzeln dieser recht spezifischen Art des Schlagers waren das Produkt einer dem Zeitgeist verhafteten Projektion von Italien als Imaginationsort, wie nachfolgend exemplarisch anhand von Schlagern der 1950er Jahre erläutert wird.
Musik und Massentourismus
Die im Kontext dieses Textes zentralen Untersuchungsgegenstände sind weniger italienische Künstlerinnen und Künstler und ihre Rezeption, sondern deutsche Schlagersongs über Italien, Italienerinnen und Italiener. Der Schlager „Zwei kleine Italiener“ (1962) von Conny Froboess ironisiert beispielsweise recht unverblümt das Heimweh der „zwei kleinen Italiener“, die zusätzlich durch das Attribut „klein“ verniedlicht werden. Froboess nimmt als Erzählerin und song personality[38] die Rolle der überlegenen Deutschen ein, die sich über den in ihren Augen übertriebenen Gefühlsausdruck der Sehnsucht, der sich im Chorus zeigt und über die prekäre Lebenssituation amüsiert, in die sie selbst niemals geraten wird. Deutlich wird der wirtschaftliche Unterschied zwischen ihr, der Deutschen, und den prekär beschäftigten Arbeitern schon in der ersten Zeile: „Eine Reise in den Süden / Ist für andre schick und fein“. Bereits hier wird der Unterschied zwischen dem nicht nötigen Luxus einer Vergnügungsreise („schick und fein“) und der Notwendigkeit für die beiden Besungenen, nach Hause zu kommen („Doch zwei kleine Italiener / Möchten gern zu Hause sein“.) aufzeigt. Der schwelgerische Chorus „Oh Tina, oh Marina …“ parodiert durch die spannungsgeladene Oszillation die Sehnsucht der beiden Männer nach zwei Frauen, die vermutlich ihre Partnerinnen sind. Interessanterweise nahm Froboess den von Christian Bruhn geschriebenen Song auch in anderen Sprachen auf – unter anderem auf Italienisch, wo der Text vollständig ausgetauscht wurde und seinen offen rassistischen Tenor verloren hat, allerdings nun auf rassistisch-sexualisierende Weise von Küssen aus aller Welt berichtet: „Un sol bacio all’italiana mi fa tanto bene al cuor / Dopo un bacio all’italiana nasce sempre un grande amor / I baci alla viennese la testa mi fan girar …“. Die kulturelle Differenz, die sich laut Sala und Wöhrle im Lauf der Zeit nach der Einwanderung der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter eher abgebaut hat, findet sich hier allerdings noch sehr stark: Zum einen wird der erzwungene Abschied der Gastarbeiter von Tina und Marina als Differenz zur bunderepublikanischen Lebenswirklichkeit markiert und durch die humoristische Verhandlung die prekäre Lage der beiden ins Lächerliche gezogen: Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation in Italien mussten die „zwei kleinen Italiener“ persönliche Opfer bringen und als Arbeitsmigranten Neapel und ihre Frauen verlassen. Bemerkenswert ist, dass der Song, vermutlich der Begeisterung für ‚Italo‘-Schlager dieser Zeit geschuldet, der deutsche Beitrag für den Grand Prix Eurovision 1962 war. In der Fernsehübertragung des Wettbewerbs sieht man Froboess, begleitet von einem Orchester, mit kaum unterdrücktem spöttischem Lächeln in einem halblangen Abendkleid über das Schicksal der beiden Arbeiter singen.[39]
Auch der Song „Alle Mädchen aus Italien“ (1958) von Peter Alexander arbeitet mit othering und sexualisiert zudem italienische Frauen. „Alle Mädchen aus Italien lassen grüßen (oh) / Weil sie dich vermissen (oh) / Und die dunklen, schönen werden zärtlich dich verwöhnen / Wenn du endlich wieder kommst.“[40] Auch hier zeigt sich eine Stereotypisierung von Italienerinnen und Italienern, hier ebenfalls in einer Urlaubssituation in Italien, die darauf warten, dass das lyrische Ich, das von seinem Freund namens Alfredo von der Sehnsucht der italienischen Frauen per Brief unterrichtet wurde und beim „Vino in der Bar von Marcellino / Alle, alle wieder küssen“ wird. Da der Angesprochene „alle“ küssen soll, wird hier, wie von Mandel im Kontext der eingeölten Körper auf Werbeplakaten für Italienurlaube dargelegt, auf eine weniger rigide Sexualmoral als in der Bundesrepublik angespielt, was an eine bereits in den 1960er Jahren gängige Perspektive auf Italien erinnert: „Die immer dichter werdende Enge in den Ferienorten, die Massierung der Geschlechter, die im Urlaub nur allzu leicht die bürgerlichen Hemmungen des Alltags abstreifen – das alles führt zu einer immer beängstigenderen Verflachung der Sitten.“[41] Ähnlich einzuordnen ist der balladesk-erzählende Song „Es war in Napoli“ (1954) von Peter Alexander.[42] Ähnlich wie „Zwei kleine Italiener“ handelt dieser von einem Abschied und infantilisiert die besungene Nina – einerseits mit dem Zusatz „Piccolina“, andererseits, indem der von ihr erlittene Betrug („Und er herzte abends unter gold’nen Sternen / Wo der Pinien schlanke Linien ihn am Uferrand begrüßten / Fand er eine Kleine, die ihr Herz ihm bald geschenkt“) karikiert wird.
„Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“ (1952) von René Carol arbeitet mit typischen Assoziationen wie Meer, Liebe, Nacht und Sonne, eingebettet in eine Immersionserfahrung: „Wenn die Nacht herniederfällt / Vergißt man die Welt …“.[43] Ähnliche Bilder bedient „Mandolinen und Mondschein“ von Peter Alexander von 1959.[44] Die folkloristisch anmutende Mandoline untermalt Vorstellungen von Liebe, südlicher Nacht und Gondeln in Venedig. In dem Klassiker „Capri-Fischer“, ursprünglich 1943 von Magda Hain aufgenommen, aber ab den späten 1940er Jahren von verschiedenen Interpreten populär gemacht, kommen Motive wie die rote Sonne, die im Meer versinkt, und jenes von sehnsüchtigen Fischern, die ihre Frauen in ihrer Abwesenheit zu Treue mahnen, zum Einsatz. Der eingangs erwähnte Song „Komm ein bisschen mit nach Italien“ wirkt fast wie ein Werbelied für den Italienurlaub. Er bemüht ebenfalls die bekannten Schlagwörter Sonne, Mond, Meer, Serenade und illustriert außerdem eine Art von Immersion und Weltflucht durch die Zeile „Und wir tun als ob das Leben eine schöne Reise wär“. In „Gitta Gittarina Maddalen“ (1956) werden die beliebten Gemeinplätze (hier: Liebe, Wein, Sterne, Orangenhain, Sehnsucht) auch von Peter Alexander besungen.[45] Ein etwas neueres Beispiel, das zeigt, dass Xenophobie und rassistische Sexualisierung gegenüber Italienerinnen und Italienern lange nach den 1950ern keineswegs abgelegt wurden, ist der Song „Sie will einen Italiener“ von den Flippers aus dem Jahr 2001. Der Protagonist möchte eine Frau für sich gewinnen und unternimmt dazu einige Anstrengungen. Doch sie möchte einen Italiener, was die Flippers mit einer Parodie auf Belcanto-Gesang kommentieren und Zeilen wie: „Sie will einen Italiener / Mit schwarzen Haaren auf der Brust / Die verstehn was von l’amore / Das hat sie immer schon gewusst / Sie will einen Italiener / Der für sie singt wie ein Tenor“ unterstreichen.
Die Liste dieser Songs ließe sich weiter fortsetzen, doch können schon anhand dieser Beispiele einige Zuordnungen vorgenommen werden: Einige Songs arbeiten offen mit Stereotypisierungen. Negativen Erfahrungen der besungenen italienischen Protagonistinnen und Protagonisten mit Sehnsucht wird nicht neutral oder empathisch begegnet, sondern mit Häme, sie werden dadurch unterkomplex dargestellt. Zum anderen werden Schlagworte, die sich in der damaligen Berichterstattung über Italien finden, auch in den Schlagern dieser Zeit rezipiert: Meer, Zitronenhaine, Mandolinen, Mondschein, Sehnsucht und Liebe. Die Schlager werden somit kommunikativ in die massentouristische Konsumkultur eingebettet und liefern den passenden Soundtrack zu den imaginierten und ersehnten Bildern von Italien. Denn auch der Massentourismus braucht bis heute plakative Schlagworte und Bilder: Ein komplexes, vielschichtiges Bild eines Landes lässt sich weder auf Websites, in Reiseführern oder in den Nachfolgern der Neckermann-Kataloge zeichnen. Es soll ein Produkt verkauft werden, welches klar umrissene, schnell erkennbare Klischeebilder beinhaltet, die in wenigen Augenblicken Gefühle wecken und eine gewisse „Eigenschaftlichkeit“ im Sinne von Sala/Wöhrle vermitteln.
Italienische Musikerinnen und Musiker und ihre Rezeption
Ein weiterer Aspekt der musikalischen Beschäftigung mit Italien findet sich auf dem Gebiet populärer italienischer Musik der 1970er bis 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum. Hier geht es um eine Gruppe von erfolgreichen italienischen Künstlerinnen und Künstlern, deren Nationalität aufgrund der gesungenen Sprache im Vordergrund steht. Sie repräsentieren nicht so sehr den Blick von außen, wie dies bei deutschsprachigen Songs über Italien der Fall ist; gleichwohl können, ob bewusst oder unbewusst, auch über diese Künstlerinnen und Künstler und ihr Repertoire bzw. den Umgang damit Italienklischees bedient werden. Zur Gruppe der italienischen Künstlerinnen und Künstler, die auch in Deutschland Erfolge feierten, gehört etwa Eros Ramazzotti. Wie Al Bano und Romina Power kann Ramazzotti eher der Popmusik zugeordnet werden, rockigere Klänge bedient beispielsweise Gianna Nannini. Bereits in den 1960er Jahren wurden außerdem Adriano Celentano und Mina international bekannt. Sie waren wie die übrigen in Italien und Deutschland höchst erfolgreich. Mina sang nicht nur auf Italienisch, sondern auch (wie damals üblich, vgl. Nana Mouskouri oder Connie Francis) in verschiedenen Sprachen – von Deutsch über Türkisch oder Spanisch bis hin zu verschiedenen italienischen Dialekten.[46] Daneben veröffentlichte Mina Werke nur für den deutschsprachigen Markt wie „Heißer Sand“ (1962), welche als erste von sechs Singles in die deutschen Charts einstieg.[47] Adriano Celentano verkörperte ein neues Italien und verband, wie Prato es beschreibt, Züge von Elvis mit solchen von Jerry Lee Lewis und dem Archetyp eines Folksängers, der thematisch tiefer gehende Texte singt als bloß solche, die die üblichen „boy meets girl“-Geschichten der Popularmusik beinhalten. Auch Celentano nahm Songs auf Deutsch auf, wie etwa „Es bleibt die Zeit für keinen steh’n“ (1980).[48]
Die italienischen Interpretinnen und Interpreten sangen (und singen) in erster Linie italienischsprachiges Repertoire, das gleichwohl auch für einen größeren Markt konsumierbar ist. Da die meisten Hörerinnen und Hörer dieser Musik wahrscheinlich der italienischen Sprache nicht mächtig sind, funktioniert diese Musik über die fremde Sprache als assoziative Vermittlerin in den Imaginationsraum Italien. Zusätzlich können musikalische Elemente wie etwa Mandolinenklänge die Hörerwartung nach ‚typisch italienischer Musik‘ einlösen. Eine Transformation der Klischees durch affirmative Aneignung nahm Toto Cutugno mit seinem Song „L’italiano“ von 1983 vor:[49] Offensiv bittet Cutugno, der als song personality[50] zweifelsohne die Rolle des „italiano“ annimmt, darum, sein eigentlich vor Klischees triefendes Lied zu singen: „Lasciatemi cantare / Perché ne sono fiero / Sono un italiano / Un italiano vero“ („Lasst mich singen / weil ich stolz darauf bin / ich bin ein Italiener / ein echter Italiener“). Indem er sich italienbezogene Klischees – die Rede ist von einem Partisanen als Präsident, von einem Kanarienvogel über dem Fenster, von Augen voller Melancholie und von Minz-Rasiercreme – zu eigen macht, nimmt Cutugno etwaigen Fremdzuschreibungen die Macht. Cutugno singt von Nationalstolz mit einem Augenzwinkern und nimmt damit zahlreiche Angriffspunkte vorweg. Die Anhäufung von Klischees wird damit primär für seine Landsleute verständliche Selbstironie und für diese gedacht.
Italienrezeption und -klischees heute
In der Gegenwart fallen die Italienklischees in der Populärkultur kaum raffinierter aus als in den 1950er Jahren. Birgit Schönau verweist auf den Bestseller „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ von Jan Weiler (2003),[51] der den Kulturschock eines deutschen Vertreters der Mittelschicht in der Begegnung mit der italienischstämmigen Gastarbeiterfamilie seiner Frau thematisiert.[52] Dabei wird ein Italienbild aufgebaut, das die Italiener als Gastarbeiter zeigt und menschlich überwiegend positiv darstellt, aber auch als kulturell und ökonomisch unterlegen und provinziell-rückständig porträtiert. Etwas weiter gefasst spricht Schönau von einem infantilen Bild von Italien als einem „Volk von Kindern“.[53] In der Berichterstattung über Italien, insbesondere bezüglich der Themen Fußball, Silvio Berlusconi bzw. dessen Lebensstil und durch anachronistische, da als betont feminin und extrem familienorientiert portraitierten Darstellungen von italienischen Frauen, sieht Schönau die Klischees oftmals unreflektiert weitergeführt.[54] Bücher wie „So sind sie, die Italiener“ von Martin Solly aus der Reihe „Die Fremdenversteher“ (2017) warten mit derartig generalisierenden Klappentexten auf: „Geben wir es ruhig zu: Die Italiener sind manchmal seltsam. Sie essen seltsame Dinge. Sie benehmen sich seltsam. Sie sind mal zu steif und mal ein bisschen zu locker. Sie lachen über Dinge, die nicht lustig sind.“[55]
Wie findet heutzutage eine Italienrezeption im deutschen Schlager und allgemeiner in der in Deutschland rezipierten Populärkultur statt? Wurden die Klischees der 1950er Jahre transformiert? Ein Beispiel zur Behandlung dieser Frage ist die sich weniger national als international inszenierende Rockband Måneskin, die 2021 mit „Zitti e buoni“ sowohl beim Sanremo-Festival als auch beim Eurovision Song Contest siegte.[56] Die Band hat einen dänischen Namen, singt auf Englisch und Italienisch und stellt sich auf der Bühne als Glamrocker der 1970er Jahre dar. Eine Inszenierungsstrategie, die sich recht nah an den tradierten Erwartungen bewegt, wählt Giovanni Zarrella, ein ehemaliges Boyband-Mitglied und nun Showmaster und Sänger von italienischen und deutschen Schlagern. Obwohl er in Deutschland geboren wurde und aufgewachsen ist, gibt er sich als Kind von Gastarbeitern als durch und durch italienisch. Exemplarisch für seine musikalische Selbstdarstellung ist der Song „Senza Te“, eine teilweise in die italienische Sprache überführte Cover-Version des Songs „Ohne dich (schlaf’ ich heut’ Nacht nicht ein)“ der Band Münchener Freiheit von 1986.[57] Zarrella singt seine Version im Duett mit dem ebenfalls italienischstämmigen Pietro Lombardi. Modern mit typischen Schlagerbeats, die sich an den Popsound der 1980er des Originals anlehnen, aber auch mit Gitarre in der Klangwelt italophiler Popsongs verhaftet sind. Auch in seinen Shows, beispielsweise in „Die Giovanni Zarrella Show“, in der nacheinander Schlagersängerinnen und Schlagersänger auftreten, spielt der 1978 in Hechingen geborene Zarrella mit seinen italienischen Wurzeln und streut italienische Floskeln in seine Moderationen ein. Sein 2021 erschienenes Album „Ciao“ erreichte Gold-Status und besteht aus Covern bekannter Schlager und Deutschpop-Songs auf Italienisch und eigenen italienischen Songs. Sonia Galster spricht im Zusammenhang mit Italienern und italienischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern, die ein eigenes Gewerbe führen, von „ethnischer Ökonomie“, wenn die italienische Herkunft bewusst oder unbewusst im Zentrum steht wie etwa bei einer Pizzeria.[58] Aus dieser Hervorhebung der nationalen Identität in Verbindung mit dem Produkt, das angeboten wird, baut sich Galster zufolge eine positive Andersartigkeit auf.[59] Eine ähnliche Strategie verfolgt Zarrella in der Konstruktion seiner (musical) persona.[60] Seine italienischen Wurzeln, obwohl in Baden-Württemberg geboren, unterstreicht er fast überdeutlich durch Ausrufe wie „Ciao“, „Benvenuto“ oder Duette mit seinen Show-Gästen, bei denen er den dargebotenen Song auf Italienisch statt Deutsch mitsingt. Interessanterweise hat sich ein deutlich größerer Erfolg und die momentan sehr hohe mediale Sichtbarkeit in der Schlagerbranche bei Zarrella erst eingestellt, als er seine Herkunft als Teil seiner persona integriert hat. Ebenfalls medial sichtbar als Italienerin erscheint die tatsächlich im Tessin geborene Michelle Hunziker, die sowohl in Italien als auch in Deutschland und in der Schweiz als Moderatorin in Erscheinung tritt und Zarrella bei seinem Karrierestart im italienischen Fernsehen helfen soll.[61]
Die Klischees persifliert aktuell die Band Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, die sich als ‚Italo‘-Schlager-Band der 1980er Jahre inszeniert.[62] Zeilen wie „Sag Ciao zu deinem Padre, (Padre, Padre) / Ab jetzt nur noch spumante, (ho spumante) / Komm steig in den Ferrari lalala“ transformieren etablierte Klischees durch einen Hang zum Absurden, zumal die Texte von Schlagern aus den 1950er Jahren mit Mehrsprachigkeit spielten, um eine gewisse Weltläufigkeit zu demonstrieren. Die Bedürfnisse, die der Schlager erfüllen soll, haben sich verändert. Der aus heutiger Sicht politisch nicht immer korrekte Umgang mit der neuen Möglichkeit zu Reisen und dem Ankommen der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zeigte sich in den 1950er Jahren in heute rassistisch wirkenden Texten, die Italienerinnen und Italiener infantilisierten und sich insbesondere über Beziehungsgefüge lustig machten, die noch dazu auf lange kultivierte Klischees wie etwa das des besonders leidenschaftlichen Italieners zurückgeht.[63] Andere ‚Italo‘-Schlager bedienten sich textlich Gemeinplätzen aus dem Reisekatalog und boten so Gelegenheit zur Welt- oder zumindest Deutschlandflucht. Ob insbesondere Zarrella als medial sichtbarer Italiener und Sänger es schafft, vielleicht ein etwas differenziertes Bild Italiens zu zeichnen, wird sich in Zukunft zeigen müssen. Dass er mit ‚italianisierten‘ Coversongs und den üblichen Kulissen mediterraner Schauplätze an die 1950er Jahre höchst erfolgreich anschließt, zeigt zumindest, dass das Bedürfnis nach einem imaginierten Italien noch immer vorhanden zu sein scheint.
© 2023 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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