Als Carl Erdmanns Habilitationsschrift im Herbst 1935 im Druck erschien, war seine akademische Karriere schon zerstört. Er zählte zu keiner jener Gruppen, die von den Nationalsozialisten systematisch verfolgt wurden. Im Gegenteil, er stammte aus einer nationalkonservativen Familie, war stolz auf die Nation und ein unpolitischer Mensch. Außerdem war er einer der besten Mediävisten seiner Generation, und seine Habilitationsschrift erwies sich als eines der wirkungsreichsten Werke der deutschen Mediävistik im 20. Jh. Doch Erdmann hatte nie verborgen, dass er die Nationalsozialisten ablehnte. Das kostete ihn seine berufliche Zukunft. Mit schlecht bezahlten Stellungen sicherte er seinen Lebensunterhalt. Trotzdem erschloss er sich selbst und der deutschen Mittelalterforschung zukunftsträchtige Arbeitsfelder. Seine Abneigung gegen das Regime zeigte er weiterhin recht offen. Im Herbst 1943 wurde er eingezogen, am 7. März 1945 starb er in Zagreb an einer Krankheit, die sich nicht genau bestimmen lässt. Sein Mut verschaffte ihm großen Respekt unter denjenigen Menschen in seinem engeren Umfeld, die zu ihm standen, und sie vermittelten dieses Bild der Nachwelt. Der Mediävist ist in der gesamten deutschen Geschichtswissenschaft bekannt, spätestens seit 2011, als der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands beschloss, den Preis für hervorragende Habilitationsschriften nach ihm zu benennen. Eine Biographie dieses aufrechten Gelehrten gab es jedoch bislang nicht.
Folker Reichert konnte bei seinem Vorhaben kaum auf Vorarbeiten zurückgreifen. Die Angaben zu Erdmanns Lebenslauf, die verfügbar waren, stammten aus den Nachrufen, die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht worden waren. Das vorliegende Werk gründet größtenteils auf dem Material, das Reichert selbst in den Nachlässen von Erdmanns vielen Korrespondenzpartnern und in unzähligen Archiven aufspürte; Erdmann hinterließ keinen wohlgeordneten Fonds mit seinem Briefwechsel. Die Biographie, also Bd. 1 des Werks, bietet daher so viel Neues, dass eine Rezension nur die wichtigsten Aspekte erwähnen kann. Im zweiten Bd. seines Werks hat Reichert obendrein einen Teil seiner Quellen auch gleich herausgegeben, nämlich 218 von den über 550 überlieferten Briefen Erdmanns. Problematisch ist, dass sich die Edition bewusst auf Briefe und Postkarten beschränkt, die ab 1933 entstanden sind und „die Bedingungen des wissenschaftlichen Arbeitens im sogenannten Dritten Reich illustrieren“ (Bd. 2, S. 13). Pragmatisch betrachtet ist jedoch sehr zu begrüßen, dass diese Texte gedruckt wurden. Sie bieten viele Anknüpfungspunkte für weitere Studien und schildern unzählige Details des wissenschaftlichen Alltags.
Der Titel des Werks geht auf eine Äußerung Erdmanns zurück, die seine Haltung prägnant zum Ausdruck bringt. Als er seinem Freund Gerd Tellenbach am 1. Januar 1939 Grüße zum Neuen Jahr schickte, leitete er aus den Ereignissen der vergangenen Monate eine moralische Verpflichtung ab: „Auf welchem Wege unsere Fackel durch das anbrechende Zeitalter der Finsternis hindurchgetragen wird, wissen wir nicht … Aber die Möglichkeit, daß das auf irgendeinem privaten Wege schließlich doch noch geschieht, ist gegeben. Und darum müssen und dürfen wir fortfahren.“ (Bd. 2, S. 196) Erdmanns entschiedene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ist jedoch nur ein Aspekt seiner Persönlichkeit, wie Reichert zu Recht ausführt. Der standhafte Mediävist hatte einen schwierigen Charakter. Er war ein Einzelgänger, neigte zu scharfen Urteilen und machte sich damit Feinde. Ferner ist zu beachten, wie sein Charakter in seinen jungen Jahren und vor allem in seiner Familie geprägt wurde. Schließlich sind Erdmanns Reisen zu erwähnen, erwünschte wie erzwungene, bei denen er seinen intellektuellen Horizont begierig erweiterte. Tatsächlich zeigt sich immer wieder, wie diese Aspekte zusammenspielen und damit Erdmanns Lebenslauf beeinflussten.
Das Werk beginnt eigenartigerweise mit dem Ende von Erdmanns Leben. Zweifellos ist die Haltung Erdmanns zu allem, was ihm damals wiederfuhr, höchst eindrucksvoll. Er arrangierte sich, so gut es ging, mit den Eigenheiten des Militärs, die seinem Naturell völlig widersprachen. Am Ende schloss er mit seinem Leben ab und fand Trost in antiker Philosophie. Warum er aber in den Krieg musste und nicht unabkömmlich gestellt oder als untauglich eingestuft wurde (das eine wie das andere wäre durchaus möglich gewesen), erfährt man erst rund 300 Seiten später, und von der Darstellung von Erdmanns letzter Zeit als Mitarbeiter der MGH springt die Darstellung dann zu seinem Nachleben. Die chronologische Darstellung setzt mit der Herkunft des späteren Mediävisten ein, die ihn stark prägte. Die Erdmanns waren eine baltendeutsche Familie. Sie zählten sich zum Bildungsbürgertum und bekannten sich demonstrativ zur deutschen Kultur, denn das Mutterland war weit und die Abgrenzung zu den Angehörigen der baltischen Völker und den Russen nicht nur eine Frage der Sprache und Kultur, sondern auch der sozialen Stellung. Der Vater der Familie war Professor für baltisches Provinzialrecht an der Universität Dorpat (heute: Tartu). Diesen Posten gab er 1893 auf, weil die Unterrichtssprache bislang Deutsch gewesen war, die Regierung aber nun auf Russisch bestand. Die familiäre Überlieferung stellte die Entscheidung des Vaters offenbar als notwendigen Akt dar. Carl, der jüngste Sohn, übernahm später diese Deutung. Er wurde 1898 geboren, kurz nach dem Tod des Vaters. Drei Jahre später zog die Mutter mit ihren fünf Kindern nach Blankenburg am Harz. Die beiden älteren Brüder kamen im Ersten Weltkrieg um. Carl hingegen wurde 1916 als „untauglich“ gemustert und leistete nur einen zivilen Hilfsdienst bei der Eisenbahn. Die Tradition der Familie legte es nahe, dass Erdmann studierte. Ein Theologiestudium brach er ab. An der Münchner Universität belegte er dann in zwei Semestern Veranstaltungen in ganz unterschiedlichen Fächern. Er suchte nach einem Gegenstand, der ihn herausforderte, und fand ihn in der mittelalterlichen Geschichte. Zugleich zog ihn ein akademischer Außenseiter an, Paul Joachimsen, dessen geistesgeschichtlichen Ansatz er begierig aufgriff. Einen akademischen Lehrer im engeren Sinn hatte Erdmann jedoch nicht. Er suchte intellektuelle Anregungen, erschloss sich seine Forschungsthemen aber stets selbst. Seine Diss. fertigte Erdmann völlig eigenständig an, während er aus Geldnot als Hauslehrer bei einer deutschen Familie in Lissabon arbeitete. Er fand in den Archiven das Material für eine Doktorarbeit über den Kreuzzugsgedanken in Portugal, die den Forschungsstand energisch korrigierte. Einen Doktorvater suchte er sich erst, als die Dissertation fertig war: Anton Chroust, der in Würzburg lehrte und einer der wenigen deutschen Historiker war, die sich für die Kreuzzüge interessierten. Erdmanns Talent fiel Paul Fridolin Kehr auf, dem einflussreichsten Organisator von großen historischen Forschungsprojekten in der Weimarer Republik. Ein halbes Jahr lang durchsuchte Erdmann im Auftrag Kehrs die portugiesischen Archive nach Papsturkunden. Dann stellte ihn Kehr am Deutschen Historischen Institut in Rom an. Erdmann verbrachte dort sechs ertragreiche und glückliche Jahre. Auf Dauer aber kamen der Autokrat und der allzu selbstständige Untergebene nicht miteinander aus. Erdmann strebte nun die Habilitation an, und zwar an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. So entstand das berühmte Werk über „Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens“, das seinen Autor nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland bekannt machte, jedenfalls bei jenen, die deutsche Bücher lasen. Den eigentlichen Erfolg in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft erzielte das Werk allerdings erst durch die Übersetzung ins Englische, die 1977 erschien.
Wie viele Angehörige des Bildungsbürgertums war Carl Erdmann ein unpolitischer Mensch. Er äußerte sich kritisch über die Nazis, aber das betraf vor allem deren Habitus; sie waren zu laut, zu vulgär, zu ungebildet. Erst als sie mit brutaler Gewalt ihr Regime festigten, begann er, politischer zu denken. Bald machte er sich keine Illusionen mehr über Hitlers Ziele und darüber, wie der Größenwahn enden musste. Als Erdmann sich im Herbst 1932 habilitierte, schien er gute Chancen zu haben, bald eine Professur zu erhalten. Doch wenige Wochen später wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Ganz detailliert kann Reichert zeigen, wie Erdmanns Äußerungen ihn zum Opfer von ehrgeizigen Kreaturen machten, die ihre Karriere mit Hilfe des Regimes fördern wollten. Seine Chancen auf eine Professur wurden zerstört, er selbst aus der Berliner Universität herausgedrängt. Mit der Gestapo oder der Polizei hatte Erdmann hingegen nie zu tun. Der Repressionsapparat wurde nicht gebraucht, um die Universitäten auf Parteilinie zu bringen; das erledigten die willfährigen Handlanger. Erdmann selbst wiederum verhehlte seine Einstellung zum Regime nicht, aber sein Wirkungskreis war klein. Für einzelne Personen war er unbequem, aber für das Regime keine Gefahr.
In den nächsten Jahren engagierte Erdmann sich zwei Mal energisch, um die Geschichtswissenschaft zu verteidigen. Einmal ging es, oberflächlich betrachtet, um die Rolle Karls des Großen in der deutschen Geschichte, tatsächlich aber darum, ob die Geschichte nach den Wünschen von NS-Funktionären manipuliert oder mit wissenschaftlichen Mitteln erforscht werden sollte. Erdmann drängte erfolgreich darauf, dass bekannte Historiker in einer gemeinsamen Veröffentlichung zu dieser Frage eindeutig Stellung nahmen. Daraufhin wurde er im „Schwarzen Korps“ angegriffen, dem Organ der SS. Zwei Jahre später wies er nach, dass das angebliche Grab König Heinrichs I., das man in der Stiftskirche von Quedlinburg gefunden haben wollte, in Wahrheit das Grab eines Heiligen sein musste. Weil Heinrich Himmler, der „Reichsführer SS“, die Grabungen in Quedlinburg veranlasst hatte, schien die Angelegenheit recht heikel. Sie hatte aber keine Folgen für Erdmann. In den folgenden Jahren wirkte Erdmann in den MGH, die bald „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde“ hießen. Er genoss dort aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung eine Sonderstellung. Seine eigene Forschung konzentrierte sich jetzt insbesondere auf Briefsammlungen, und auch auf diesem Gebiet schuf er Beachtliches. Seine Lage verschlechterte sich schlagartig, als im Frühjahr 1942 Theodor Mayer, ein entschiedener Nazi, neuer Präsident wurde. Er überschüttete Erdmann mit Verwaltungs- und Organisationsaufgaben. Vor allem aber beantragte er nicht ein weiteres, drittes Mal, dass Erdmann „unabkömmlich“ gestellt wurde. So wurde sein wichtigster Mitarbeiter eingezogen und fand schließlich den Tod.
Nach Kriegsende erschienen einige Nachrufe auf Erdmann, die meist aus der Feder von Weggefährten stammten. Sie verfestigten das Bild vom bedeutenden Gelehrten und moralisch standhaften Menschen. Erdmanns wissenschaftliche Arbeiten wirkten weiter, nicht nur in Deutschland, sondern mit seinem Kreuzzugsbuch auch international. So blieben sein Name und sein Ruf im Gedächtnis.
Mehrfach spricht Reichert das Problem an, wie Quellenforschung und übergreifende Darstellung miteinander vereint werden können. Am Ende seines Werks zeigt er, wie es gelingen kann. In einem fulminanten Essay fasst er auf nur 16 Seiten das Ergebnis seiner Quellensuche und Quelleninterpretation zusammen: Erdmanns Lebensweg, seine Erfolge und sein „selbstbestimmtes Scheitern“, das „ehrenvoll“ war, weil es sein Weg war, sich der Diktatur zu entziehen.
Carl Erdmann hat mit diesem weitgehend aus den Quellen erarbeiteten Buch knapp 80 Jahre nach seinem Tod die umfassende, sorgfältige und kenntnisreiche Würdigung erhalten, die er als Historiker und als Mensch verdient hat.
Rezension von
Folker Reichert, Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2022, 2 Bde., 880 S., Abb., ISBN 978-3-534-27403-1, € 150.
© 2023 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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