Päpstliche Dekretalen haben eine lange Geschichte, und auch ihre Erforschung wird seit mehreren Jahrhunderten auf hohem Niveau betrieben. Die fortschreitende Spezialisierung der Forschung hat dabei bewundernswerte Ergebnisse ermöglicht, aber leider auch mit sich gebracht, dass die allgemeine Geschichtswissenschaft diese Ergebnisse nicht immer rezipiert.
David d’Avray hat nun mit „Papal Jurisprudence“ einen großen Wurf vorgelegt, der das ändert. Sein Werk ist ein wichtiger Beitrag gleich zu mehreren Forschungsgebieten: Zum einen handelt es sich um eine profunde Darstellung der wichtigsten Themen des frühen Kirchenrechts in ihrem sozialen Kontext: Wie lauteten, beispielsweise, die Vorschriften zur Ehe des Klerus, und was meinte Enthaltsamkeit innerhalb spätantiker christlicher Gemeinden? Zweitens klärt er die Rezeptionsgeschichte einer beachtlichen Zahl von frühen Dekretalen, sowohl auf Ebene des Wortlauts als vor allem auch hinsichtlich des sich wandelnden Verständnisses dieser Dokumente vom 5. bis zum 13. Jh.: Wie verstanden Zeitgenossen einerseits und spätere Leser andererseits diese Schreiben, welche davon kannten sie in welchen Fassungen? Drittens schließlich leistet er eine innovative Form des epochenübergreifenden Vergleichs, der sowohl theoretisch fundiert als auch sehr quellennah durchgeführt ist. Diese dreifache Leistung macht das Werk für ganz unterschiedliche Leserschaften attraktiv, was durch die prägnante Darstellung noch verstärkt wird.
Für d’Avray selbst ist wohl der dritte Aspekt der wichtigste: Nicht durch Synthese, sondern an einem Fallbeispiel will er einen Vergleich zweier Epochen leisten, indem er ein einzelnes Phänomen untersucht, das einerseits handhabbar ist, andererseits in beiden Epochen hinreichend relevant war. Denkbar wären hier verschiedene Beispiele (einige führt er skizzenhaft an: Bd. 2, S. 19), er selbst wählt eine größere Gruppe von Papstbriefen vor allem des 5. Jh., die viele Themen des kirchlichen Lebens regelten und dank breiter Rezeption in den Rechtssammlungen von der Spätantike bis in die Neuzeit zweifelsohne „in bedeutender Weise mit ihrer Umwelt interagierten“;[1] ihr Wortlaut wurde über viele Jh. immer wieder unterschiedlich ausgelegt, mit durchaus handfesten Folgen für das Leben vieler Menschen.
Zweifeln könnte man eher an der Annahme, dass der Wortlaut und Inhalt dieser Briefe, zumal unter Berücksichtigung der mittelalterlichen Rezeption, ein „handhabbares“ Corpus seien, doch solche Zweifel zerstreuen sich bei der Lektüre rasch. D’Avray verfügt über eine souveräne Text- und Methodenkenntnis, die er sehr sorgfältig ausbreitet, so dass auch Nicht-Fachleute seine Argumentation gut nachvollziehen können. Dazu dient vor allem der erste Bd., der jeweils den Text der untersuchten Papstbriefe, eine Übersetzung und eine knappe Darstellung der Rezeption enthält. Wo keine kritischen Editionen vorliegen (also in fast allen Fällen), hat d’Avray dafür Arbeitstexte erstellt, die er bescheiden „kritische Transkriptionen“ nennt. Diese beruhen im Wesentlichen auf dem Text von Mignes „Patrologia“, kollationiert mit einer Auswahl früher Hss. Wer meint, erst eine kritische Edition basierend auf allen erhaltenen Textzeugen und eines stemma codicum derselben könnte als Grundlage dienen, sollte immer dazusagen, dass eine solche Arbeit auch unter günstigen Umständen Jahrzehnte dauern kann. Die pragmatische Entscheidung für eine Auswahl an Hss. ist daher vollkommen richtig. Gestützt auf die einschlägige Spezialforschung hat d’Avray eine sinnvolle Auswahl an Textzeugen getroffen, und vor allem sind seine minutiös dokumentierten editorischen Entscheidungen überzeugend. Die Transparenz der Entscheidungen ist dabei nicht nur durch den apparatus criticus gewährleistet, d’Avray weist auch explizit auf alle Stellen hin, in denen andere Lesarten den Sinn verändern könnten. Zusätzlich hebt er bei seinen Übersetzungen alle Passagen hervor, an denen der lateinische Text mehrdeutig oder unklar ist, und kommentiert gegebenenfalls Satzbau und Grammatik. Sowohl Leser mit geringer Kenntnis der Quellen als auch Spezialisten, die d’Avrays Texte nachkollationieren, haben also alle Möglichkeiten, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. Dieses Maß an textkritischer Kompetenz, Transparenz und auch an Rücksicht gegenüber Nicht-Spezialisten ist vorbildlich.
Bereits in diesem Bd. hat d’Avray aber auch die weitere Rezeption im Blick. So wird immer auch angegeben, in welchen großen Sammlungen (von der Quesnelliana bis Gratian) die entsprechenden Passagen enthalten sind oder eben auch nicht. Insgesamt ist die Qualität der mittelalterlichen Überlieferung der frühen Dekretalen verhältnismäßig gut. Nebenbei ergibt sich, dass der von Migne zugrunde gelegte Text der Ballerini-Brüder von ausgezeichneter Qualität ist. Am ehesten waren es Aussagen zur Autorschaft, die im Laufe der Jh. durcheinandergingen, etwa in jenem Fall (Bd. 2, S. 215 f.), in dem ein Kommentator des 13. Jh. eine Dekretale Innozenz’ II. irrig Innozenz I. zuschrieb und zugleich versuchte, sie mit den einschlägigen Bestimmungen, die Innozenz III. erlassen hatte, in Einklang zu bringen. Dieser Fall des dreifachen Innozenz ist insofern typisch, als es die Schwächen ebenso wie die Stärken der mittelalterlichen Kanonistik schlaglichtartig beleuchtet: Die Schwäche, ältere Rechtstexte als historische Dokumente zu verstehen, aber auch die Stärke, unter Bewahrung des Wortlauts Regelungstraditionen der Spätantike, des früheren Mittelalters und der eigenen Gegenwart miteinander in Einklang zu bringen – nicht immer in intellektuell befriedigender Weise, aber doch oft erstaunlich schlüssig.
Vor allem der zweite Bd. widmet sich der Analyse dieses erstaunlichen Phänomens. Die Argumentation lohnt, detailliert vorgestellt zu werden:
Nach einem Methodenkap., das einige Modelle vorstellt, wie epochenübergreifende Phänomene studiert werden können (Braudel, Gibbon), skizzieren Kap. 2–4, wie die wachsende Christenheit der Spätantike sich in Gemeinden mit je eigenen Bräuchen und Normen ausdifferenzierte, deren Mitglieder aber räumlich mobil genug waren, um sich dieser Vielfalt bewusst zu sein: Wann und wie getauft wurde, wann Ostern zu feiern sei, wie Buße geleistet werden könne, wie Häretiker und ehemalige Häretiker zu behandeln seien, darauf fanden Christen verschiedene Antworten. Teils war die Vielfalt kein Problem, teils konnten Probleme lokal gelöst werden, aber manches verlangte doch nach überdiözesanen Entscheidungen. Das konnte im Westen nicht mehr durch den Kaiser bzw. Konzilien geleistet werden; stattdessen befriedigten die römischen Bischöfe diese Nachfrage, die nach dem Muster kaiserlicher Reskripte Schreiben verfassten, die auf dem Weg der Rezeption zu Recht wurden: Die Geburt der Dekretale (Kap. 5).
Kap. 6–11 stellen päpstliche Antworten auf dogmatische und vor allem disziplinarische Fragen des 4. und 5. Jh. vor (Gnadenlehre, Taufe, Buße, Sexualität und Ehe der Kleriker). Zu Recht hebt d’Avray die schon von Max Weber als eigentümlich bezeichnete Doppelstruktur des zunächst rein städtischen Klerus rund um den Bischof einerseits und des zunächst stadtfernen asketischen Mönchtums anderseits hervor (Kap. 6–7). Das 10. und 11. Kap. zeigen, wie aus solchen Briefen Recht wurde, nämlich durch Aufnahme in kanonische Sammlungen wie die Quesnelliana und die Dionysiana, die beide um 500 entstanden. Sie markieren das Ende des ersten Dekretalenzeitalters und stellen zugleich die Brücke ins Mittelalter dar. Im Frühmittelalter (Kap. 12 und 13) wurden die antiken Dekretalen bewahrt und gewannen neue Autorität, sei es durch Verbreitung der Dionysio-Hadriana, als Vorbild für Pseudoisidor oder durch Nutzung in der „Admonitio generalis“. Zugleich lenkt d’Avray den Blick auf die Etablierung der Landgemeinde, die nicht nur eine Christianisierung des pagus war, sondern auch eine De-Urbanisierung des Klerus bedeutete; anstatt enger Gemeinschaften von Klerikern, die mit ihren Ehefrauen mit dem Bischof in einer Stadt lebten, wurde nun ein verstreut lebender Landklerus (mit unterschiedlichen ehelichen und eheähnlichen Lebensformen) der Normalfall. Das spielt für das zentrale 14. Kap. eine Rolle, das der Wiederentdeckung der spätantiken Normen im 11. Jh. gewidmet ist. D’Avray betont den Kontrast nicht so sehr von „Norm und Realität“, sondern zwischen „Realität und Realität“, nämlich der der Spätantike einerseits und der des Hochmittelalters andererseits. Dieser Kontrast erzeugte Spannungen, die dann im späten 11. Jh. in verschiedener Form aufbrachen. Eine einfache „Wiedereinführung“ des alten Rechts, wie es teilweise erprobt wurde, vergrößerte den Klärungsbedarf eher noch mehr, und trug damit zum zweiten Dekretalenzeitalter bei (Kap. 15 bis 16): Die Ausdifferenzierung von „Theologie“ und „Kirchenrecht“ (keine notwendige Entwicklung, wie d’Avray mehrfach betont) im 12. und 13. Jh. geschah in einer Umwelt, die der Spätantike ähnlicher war als alle Jh. seither; eine wachsende, (wieder) mobile Christenheit, die sich ihrer inneren Vielfalt (einschließlich Häresien) neu bewusst wurde und sich nach Rom wandte, um Unsicherheiten zu klären. Die spätantiken Dekretalen stellten dabei ein Muster dar, und waren zugleich das Material, mit dem Päpste wie Juristen arbeiteten. Alte Texte erhielten einen neuen Sinn, aber d’Avray macht immer wieder deutlich, wie ernst die Juristen den erstaunlich gut bewahrten Wortlaut der Dekretalen nahmen, wenn sie diese auf die Probleme der eigenen Gegenwart bezogen. Eindrucksvoll führt d’Avray dies für ganz unterschiedliche Materien vor, insbesondere Ehen mit Nichtchristen (Kap. 16), die Immunität des Klerus (Kap. 17) und Bischofswahlen (Kap. 18). Zentrale Begriffe – „Enthaltsamkeit“, „Unfreiheit“, „Immunität“ – hatten ihre Bedeutung stark verändert, Institutionen wie die Ehe und das Bischofsamt sich über Jh. entwickelt, und doch wurden die einschlägigen antiken Normen letztlich erfolgreich in das kanonische Recht des späteren Mittelalters eingepasst. Dass dies überhaupt möglich war, nimmt d’Avray überzeugend als Indiz dafür, dass die Spätantike und das 12./13. Jh. mehr miteinander als mit dem Frühmittelalter gemeinsam hatten.
Scheinbar mühelos wechselt d’Avray von der detaillierten, textkritisch informierten Interpretation einzelner Texte zur Analyse größerer Zusammenhänge. In beiden Gebieten leistet er großartige Arbeit, und sein prägnanter Stil verwandelt die Mühen der Forschung in ein Vergnügen für die Leserschaft. Wer die Bände ohne große Vorkenntnisse liest, wird ebenso von ihnen profitieren, wie kritische Philologinnen und Philologen, die einzelne Lesarten mit den vorhandenen Hss. und Editionen vergleichen, oder Historikerinnen und Historiker, die über die Fragen transepochaler Geschichtsschreibung reflektieren.
David d’Avray hat ein Werk vorgelegt, wie es im Bereich der Papstgeschichte seit den Zeiten Erich Caspars nur wenige gibt. Die beiden Bde. sind eine bewundernswerte Leistung, von der die Geschichtswissenschaft auf lange Zeit profitieren wird. Kurz und knapp: „Papal Jurisprudence“ ist ein großes, ein großartiges Werk!
Rezension von
David L. d’Avray, Papal Jurisprudence, 385–1234. Social Origins and Medieval Reception of Canon Law, Cambridge (Cambridge University Press) 2022, 300 S., ISBN 978-1-108-47300-2, GBP 75 (vom Rezensenten als Bd. 2 bezeichnet), zugleich Rezension zu: David L. d’Avray, Papal Jurisprudence c. 400. Sources of the Canon Law Tradition, Cambridge 2019 (vom Rezensenten als Bd. 1 bezeichnet). – Eine Kurzrezension ist in der Zs. Early Medieval Europe erschienen (https;//doi.org/10.1111/emed.12618; 24.3.2023).
© 2023 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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