Abstract
Since the end of the 1980s, Italian capitalism has been struggling. Low growth rates, increasing inequalities and relative impoverishment are compromising the pursuit of happiness and fuelling political discontent. Against this background of crumbling economic and social structures, the article explores historical and sociological perspectives on Italian capitalism’s contemporary dynamics. To this end, it first summarises some central lines of development and then maps existing explanatory approaches onto them. Third, it discusses what a historical contribution to these debates might look like. Finally, it recalls the promise of the Italian case within theoretical debates centred on the political economy of modernity.
Der italienische Kapitalismus hat seine Faszinationskraft seit langem verloren. Überboten sich in den 1960er Jahren noch internationale Kommentatoren mit Lobpreisungen des Miracolo Economico – George Hildebrand sprach 1965 gar von einer „göttlichen Intervention“,[1] die Italien zur Blüte verholfen habe –, und rieben sie sich zu Beginn der 1990er Jahre verwundert die Augen, wie trotz politischer Instabilität derartige Wachstumsraten zustande kämen,[2] dominieren heute Mitleid oder Hohn den öffentlichen Diskurs zur ökonomischen Lage des Landes.[3] Der Diskurs spiegelt damit die wissenschaftlichen Debatten wider. In ihnen wird Italien seit Jahren entweder eine „dysfunktionale Politische Ökonomie“ attestiert,[4] als Exemplar ineffizienter, weil konfliktaffiner, „mediterraner Marktwirtschaften“ verhandelt,[5] oder schließlich als Beispiel angeführt, dass Wachstumsmodelle auch an ihrer zentralen Aufgabe – der Erzeugung von Wachstum – scheitern können.[6] So dramatisch solche Beschreibungen im Einzelnen klingen mögen, so zutreffend scheinen sie zu sein: Italien mangelt es seit Jahrzehnten partout an Wachstum, was stagnierende Reallöhne, kollabierende Sparquoten und hohe Jugendarbeitslosigkeit wiederholt ins Gedächtnis rufen. Dabei steht die „Tragweite jenes grundlegenden Tatbestandes“[7] außer Frage. Spätestens seit der Jahrtausendwende, wenn nicht bereits seit Mitte der 1980er Jahre, löst sich die einst behauptete Trennung von Politik und Wirtschaft zusehends auf. In Italien sind politische Fragen ökonomische – und vice versa. Seine jüngere Geschichte, und das ist die der Zweiten Republik, kann deshalb kaum abseits der Transformation der politischen Ökonomie Italiens verstanden werden. Eine neue „kapitalistische Entwicklungsdynamik“[8] löste die Wirtschaftsverfassung des Kalten Kriegs ab. Ihre Logik und Folgewirkungen gilt es auf den Begriff zu bringen.
Eine zeitgeschichtliche oder historisch-soziologische Perspektive,[9] die die „Kulturbedeutung“ solcher Entwicklungen motiviert, sieht sich allerdings mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Zunächst muss das Bild des zeitgenössischen italienischen Kapitalismus an Schärfe gewinnen, weshalb in einem ersten Schritt einige zentrale Entwicklungslinien der vergangenen 40 Jahre betrachtet und Kontinuitäten wie Einschnitte vergleichend herausgestellt werden. Sodann scheint gerade vor dem Hintergrund interdisziplinärer Debatten zwischen Wirtschaftswissenschaften und -geschichte, Politischer Ökonomie und Soziologie weitgehend unklar, wie sich dieser eigenwillige Übergang von glorreicher Prosperität zu trister Stagnation erklären lässt. Fernab des Anspruches, offene Fragen ungleich stärker spezialisierter Fachdiskurse abschließend zu beantworten, kartiert dieser Beitrag daher in einem zweiten Schritt ihre diversen Erklärungsansätze und klopft sie auf ihre Implikationen ab. Das bereitet die Bühne für die beiden zentralen Fragestellungen des vorliegenden Forschungsberichts: So steht zum einen zur Diskussion, wie der genuine Beitrag historisch-soziologischer Forschung zu diesem Themenkomplex angesichts der verzweigten Debattenlage aussehen kann. Zum anderen bleibt im Rahmen eines Fazits auszuloten, welche theoretischen Potenziale die Analyse des italienischen Falls bietet.
1 Ökonomische Strukturen
Die ökonomische Lage Italiens ist nicht katastrophal, aber trist. Entgegen apokalyptischer Deutungen beheimatet das Land gemessen am Bruttoinlandsprodukt weiterhin eine der zehn reichsten Volkswirtschaften des Planeten, verfügt über eine positive Handelsbilanz und bietet seiner Bevölkerung bei hohem Privatvermögen mit beinahe 83 Jahren die zweithöchste Lebenserwartung in der G20.[10] Mit einer jährlichen Wirtschaftsleistung von ca. 1,7 Billionen Euro – 1980 betrug sie knapp zwei Drittel dessen – schöpft die italienische Bevölkerung pro Kopf seit 2017 sogar mehr Wert als die Japans. Gesellschaftlich stellen weder Hunger noch Kindersterblichkeit ein drängendes Problem dar, auch die CO2-Bilanz des Landes fällt besser als die vieler seiner Nachbarn aus. Wohl nie zuvor herrschten also auf der italienischen Halbinsel derart gute sozio-ökonomische Bedingungen wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.[11] Dieses positive Bild trübt sich jedoch merklich ein, wenn wir es historisch in die Entwicklungen der vergangenen 40 Jahre einordnen.
Sobald wir nämlich die jüngere Geschichte des italienischen Kapitalismus mit der anderer großer Industrienationen Europas vergleichen – hier also dem französischen, bundesrepublikanischen und spanischen Kapitalismus –, wird ersichtlich, weshalb sie negative Assoziationen weckt. Denn relativ betrachtet verschlechtert sich die Position Italiens seit Jahren beständig. Entsprach das italienische BIP pro Kopf zu Beginn der 1980er Jahre noch in etwa dem der Bundesrepublik, übertraf das französische und betrug fast ein Drittel mehr als in Spanien; lag es 2019 beinahe gleichauf mit dem Spaniens, war nun hinter den Wert Frankreichs zurückgefallen und notierte ein Fünftel niedriger als in Deutschland. Solche Positionsverluste gehen auf verlangsamtes Wachstum zurück. Prosperierte die italienische Wirtschaft in den 1980er Jahren noch eindrücklicher als in den anderen genannten Ländern, hat sich das Verhältnis seit Mitte der 1990er Jahre umgekehrt. Zwischen 1996 und 2019 betrug das Wirtschaftswachstum in Italien durchschnittlich nur 0,6 % – Deutschland (1,4 %), Frankreich (1,6 %) und Spanien (2,2 %) prosperierten allesamt kräftiger. Dies bedeutet, dass Italien heute in etwa so wohlhabend ist, wie zu dem Zeitpunkt, als Apple das erste iPhone auf den Markt brachte und die Staats- und Regierungschefs der G8 sich inklusive Wladimir Putin, George W. Bush und Romano Prodi im mecklenburgischen Heiligendamm zu Beratungen trafen – also 2007. In Italien ereignete sich offensichtlich ein tiefer Einschnitt, ein Strukturbruch, der seine wirtschaftliche Entwicklung von der der anderen großen europäischen Kapitalismen abkoppelte und auf beschwerliche Pfade führte.
Solch abstrakte Kenngrößen machen sich im Alltag der Bevölkerung bemerkbar. An erster Stelle sticht die weit verbreitete Arbeitslosigkeit ins Auge. Lag ihre Quote nach der Jahrtausendwende noch unterhalb der bundesrepublikanischen, beträgt sie mit 9,9 % mittlerweile das doppelte derselben. Die 15–24-Jährigen befinden sich in einer ungleich dramatischeren Lage. In den 2010er Jahren konnten teilweise über 40 % von ihnen während dieses für die Erwerbsbiographie so wichtigen Zeitraums keine Arbeit finden – nur in Spanien war die Situation prekärer. Ein Effekt jener umfangreichen industriellen oder dienstleisterischen Reservearmee lautet, dass individuelle Löhne stagnieren. 2019 notierten die Reallöhne unter denen des Jahres 2006 und betrugen nicht einmal 4 % mehr als im Jahr 1990. In der Bundesrepublik und Spanien stiegen sie hingegen seither beinahe kontinuierlich um insgesamt gut ein Drittel, also bis zu achtmal stärker an. Auf Ebene der Haushalte führt dies dazu, dass auch ihr verfügbares Einkommen langsamer als in den anderen drei betrachteten europäischen Ländern anstieg – der zunehmenden, wenngleich weiterhin (zu) geringen Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und der niedrigen Geburtenrate zum Trotz. Zugleich können die Haushalte immer weniger Geld sparen und für Investitionen wie etwa Wohneigentum auf die Seite legen. Die traditionell hohe Sparquote in Italien ist erodiert. Sie sank seit 1996 von über 16 % auf unter 2,4 % des verfügbaren Einkommens. Das altbekannte Modell, wonach dem Auszug aus dem Elternhaus der Erwerb des eigenen, neuen Familienheims vorausging, ist damit passé.
Das zeitigt auf die Sozial- und Vermögensstruktur der italienischen Gesellschaft reale Konsequenzen. Zum einen führen die Entwicklungen zu einer Verarmung in der Breite. Die Armutsquote, also der Kreis der Personen, die mit weniger als der Hälfte des Median-Einkommens wirtschaften muss, steigt seit Mitte der 2000er Jahre an und liegt heute gut eineinhalbmal so hoch wie in der Bundesrepublik. Eine Folge ist, dass absolute Armut, hier der Bevölkerungsanteil, dem unter US$ 6,85 am Tag zur Verfügung steht, in Italien dreizehnmal höher als in der Bundesrepublik und dreiundzwanzigmal höher als in Frankreich notiert. Sie ist stärker ausgeprägt als noch 1986.[12] Zum anderen polarisieren sich im gleichen Zuge die Strukturen des dank hoher Eigenheimquote weiterhin umfangreichen Privatvermögens: Auch weil mehr Kredite aufgenommen wurden – Finanzialisierung und niedrige Zinsen verdoppelten die Verschuldungsquote der Haushalte zuletzt auf gut 90 % des BIP[13] – reduzierten die Individuen in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung zwischen 1995 und 2016 ihren Anteil am Gesamtvermögen um Zweidrittel. Zugleich verdoppelten die 0,01 % reichsten Haushalte ihren Anteil auf 6 %. In Italien treten damit die Polarisierungsdynamiken von Vermögen deutlicher als in Spanien, Frankreich oder der Bundesrepublik auf; sie verlaufen am ehesten parallel zu denen der Vereinigten Staaten von Amerika.[14] Folglich fällt die Vermögensverteilung in Italien heute ungleicher als vor dreißig Jahren aus.[15] Niedriges Wirtschaftswachstum führte langfristig zu einer Umverteilung von unten nach oben, die mit der relativen Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einherging.
Insofern relative Verarmung und rückläufiges Wirtschaftswachstum zusammenhängen, bleibt offen, aus welcher Wertschöpfung letzteres resultiert und wo Probleme bestehen. Dazu sind einige Charakteristiken des italienischen Kapitalismus in Erinnerung zu rufen. Erstens verfügt die italienische Wirtschaft weiterhin über einen harten industriellen Kern, vor allem im Norden des Landes.[16] Im Gegensatz zu Entwicklungen in Spanien oder Frankreich, verantwortet das verarbeitende Gewerbe immer noch knapp 16 % der nationalen Wertschöpfung. Laut ISTAT arbeiteten 2019 in diesem Sektor fast 3,8 Mio. Personen, womit sie die Zahl der Beschäftigten im Groß- und Einzelhandel übertreffen[17] – industrielle Wertschöpfung bildet immer noch das Fundament des italienischen Kapitalismus. Diese ist besonders im Bereich des Maschinenbaus oder der pharmazeutischen Industrie hochkompetitiv. Basierte der italienische Exportsektor in den 1980er Jahren noch auf Möbeln und Mode, setzt mittlerweile das verarbeitende Gewerbe die Weltmarktpreise für viele Produktgruppen. Monetärer Kompetitivitätseinbußen zum Trotz verantwortet es den Bärenanteil der Exportüberschüsse von insgesamt über 60 Mrd. Euro und damit die positive Zahlungsbilanz des Landes.[18] Die anderen beiden tragenden Säulen der Wirtschaft bilden der Tourismus und die Lebensmittelindustrie.[19] Obgleich das Wohl des italienischen Kapitalismus aufgrund des großen Binnenmarktes und der Stellung der Industrie nicht von den Strömen des internationalen Tourismus abhängt, nahm dessen Bedeutung nach dem Preisschock im Zuge der Euroeinführung zuletzt wieder zu. Als Land mit ca. 5 Mio. Hotelbetten und den weltweit viertmeisten touristischen Übernachtungen gingen vor der Covid-19-Pandemie gut 13 % der Wirtschaftsleistung direkt oder indirekt auf das Geschäft mit Reisenden aus dem In- und Ausland zurück.[20] Agrarerzeugnisse, Lebensmittelverarbeitung und Weine spielen in Italien kulturell wie ökonomisch aber eine ebenso wichtige Rolle. Das Land erzielt auch mit Auberginen, Reis, Dosentomaten oder Pasta signifikante Exportüberschüsse. Bei niedrigeren Agrarsubventionen als Spanien, Deutschland oder Frankreich liegen sie in der Lebensmittelindustrie bei gut 7 Mrd. Euro, wovon allein der Pasta-Außenhandel fast 2 Mrd. Euro auf sich vereint.[21] Die Geschichte des Weinanbaus ist wiederum eine der ebenso nachhaltigen wie profitablen Qualitätssteigerung. Seit 1986 halbierte sich beinahe die Menge des in Italien abgefüllten Weins, was, gerade weil er mittlerweile als teurer Wein gilt, zu mehr als einer Verdoppelung des mit ihm erzielten Umsatzes führte. Im Ergebnis exportiert heute kein Land der Welt größere Mengen Qualitätswein als das Belpaese.[22]
Diese Verschiebungen in der Wertschöpfungsstruktur haben ihre Spuren im Wesen des italienischen Kapitalismus hinterlassen. Erstens verschwanden mit dem Wechsel von Mode und Möbel zu Maschinen und Pharmazie große Industriefirmen ebenso wie der unternehmerische Staat weiter von der Bildfläche. Nicht zuletzt dank der Privatisierungswellen im Verlauf der 1990er Jahre[23] arbeiten heute weniger als ein Viertel der Industriebeschäftigten in Betrieben mit mehr als 250 Kollegen. Wichtiger als die wenigen großen sind daher die vielen kleinen, häufig familiengeführten Unternehmen. Jedoch nahm gesamtwirtschaftlich, und d. h. gerade im Dienstleistungssektor, zuletzt die Rolle größerer Firmen zu.[24] Zweitens konserviert insbesondere der Tourismus die hohe Selbstständigenquote Italiens: Lag sie 1984 bei über 30 %, gehen heute weiterhin fast 23 % der Beschäftigten solchen Tätigkeiten nach. Das ist ein deutlich höherer Anteil als in Deutschland (10 %), Frankreich (12 %) oder Spanien (16 %). Der Großteil dessen lässt sich dem Dienstleistungssektor zuordnen: In Italien wurden bspw. 2019 über 170 000 Bars und rund 750 000 Einzelhandelsgeschäfte selbstständig geführt.[25] Betreffend der Beschäftigungsstrukturen wird man bezüglich der vergangenen 40 Jahre dennoch von allenfalls einer verhaltenden Tertiarisierung sprechen können: In Italien schrumpfte der Anteil der Industriebeschäftigten weniger stark als in Deutschland, Spanien oder Frankreich und lag 2019 mit 26 % nur knapp unterhalb dem der Bundesrepublik von 27 %.[26] Drittens sorgte die seit den 1990er Jahren verfolgte Reformagenda mitsamt vieler Sparrunden dafür, dass Zahl wie Anteil der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst zurückging: 2020 arbeiteten im europäischen Vergleich nur in Deutschland und den Niederlanden ein geringerer Anteil der Erwerbstätigen dort; zwischen 1980 und 2019 fiel ihre Quote von 17 % auf 14 %.[27] Viertens stützt die Konzentration des Exportsektors im Norden, sowie die Dominanz von Selbstständigen und kleinen Betrieben im Süden des Landes den Fortbestand einer umfangreichen Schattenwirtschaft: Obgleich sie in den vergangenen 20 Jahren stetig an Bedeutung einbüßte, notierte ihre Größe 2019 bei 18,7 % des BIP und damit höher als in Deutschland (8,5 %), Frankreich (12,4 %) oder Spanien (15,4 %).[28]
Diese neue Form des italienischen Kapitalismus weist nun eine Reihe von Problemen auf, die u. a. niedriges Wachstum, relative Verarmung und polarisierte Vermögensstrukturen verantworten. Zum einen schmälern die vielen Selbstständigen und kleinen Betriebe sowie die Stellung des Tourismus die Produktivität der italienischen Wirtschaft.[29] Je Arbeitsstunde wird in Italien heute mit 58 Euro ein Fünftel weniger Wert geschöpft als in Frankreich oder Deutschland (jeweils 73 Euro). Auch hinsichtlich multifaktorieller Produktivität zeigt Italien einen suboptimalen Einsatz ökonomischer Mittel – anders lässt sich kaum erklären, weshalb diese 1994 höher als 2019 lag, wohingegen sie im französischen und deutschen Kapitalismus seit 1985 fast kontinuierlich anstieg.[30] Zum anderen erweisen sich niedrige Investitionen in Technologie sowie geringe Innovativität als mit diesen Defiziten eng verzahnt.[31] Im direkten Vergleich zu seinen westeuropäischen Nachbarn wird in Italien mit nur 1,5 % des BIP relativ wenig Geld für Forschung und Entwicklung ausgegeben – in Deutschland liegt der Wert mehr als doppelt so hoch, in Frankreich bei 2,2 %. Auch die Unternehmen selbst stellen nur wenige Beschäftigte für solche Aufgaben ein, wenngleich ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit den 1980er Jahren steigen.[32] Ein Ausdruck dessen ist die niedrige Anzahl angemeldeter Patente – in Deutschland werden 274, in Italien nur 78 Patente auf eine Million Einwohner angemeldet[33] –, ein anderer die geringen Wachstumsimpulse durch Digitalisierung im Anschluss an die digitale Revolution.[34] Schließlich befindet sich die öffentliche Verwaltung wie die Infrastruktur des Landes in einem schlechten Zustand. Schrumpfende Beschäftigtenzahlen und rückläufige Investitionen haben kaum der Entwicklung entgegengewirkt, dass Regierungseffektivität oder Korruptionsbekämpfung von der italienischen Bevölkerung schlechter als in den Vergleichsfällen bewertet wird;[35] dass die im Bildungssystem erzielten Abschlüsse nicht den Bedürfnissen der Unternehmen entsprechen, die dann Personal mit mathematischen, sprachlichen und digitalen Defiziten einstellen müssen;[36] und dass dank der laut fast allen Indikatoren miserablen Verkehrsinfrastruktur die Italienerinnen und Italiener durchschnittlich 38 Stunden im Jahr im Stau stehen – in der EU sind es im Schnitt nur 30 Stunden.[37] Zustände, gegen die angesichts einer klammen öffentlichen Hand – 2019 (!) notierte die Staatsverschuldung bei 154 % des BIP – nur schwer konzertiert vorgegangen werden kann.
Die Geschichte des italienischen Kapitalismus seit 1980 ist also die seiner tiefgreifenden Strukturbrüche: Nachlassendes Wachstum, relative Verarmung, polarisierte Vermögensstrukturen, reorganisierte Wertschöpfungsprozesse, stagnierende Produktivität und ein schlecht verfasster öffentlicher Sektor stehen im starken Kontrast zu einer noch in den 1980er Jahren vorherrschenden kapitalistischen Kultur, deren Attraktivität auf fortschrittlichem Design, hoher Qualität und beeindruckender Anpassungsfähigkeit beruhte. Die Realität wurde seither armseliger, was nicht bedeutet, dass die Lage als katastrophal zu bewerten ist. Angesichts dieser Strukturbrüche scheint es dennoch verständlich, dass kaum jemand noch Hoffnungen auf die Politik setzt – 2019 vertraute in Italien nur ein Bevölkerungsanteil von 22 % der Regierung, in Deutschland waren es 57 % – und auf diese Entwicklungen zuletzt mit Resignation, Ressentiment, Protest und eigensinnigen Wahlentscheidungen geantwortet wurde. Jedoch stellte sich dieser Wandel keineswegs zufällig ein. Viel mehr geht er auf Ursachen zurück, die zwischen Demographie, strukturellen Defiziten, gemeinsamer Währung und dem Timing politischer Reformprojekte changieren.
2 Vier Erklärungsangebote kapitalistischer Transformation in Italien
Die Strukturumbrüche des italienischen Kapitalismus waren keinesfalls das Ergebnis von Prozessen, die sich hinter dem Rücken der historischen Akteure abspielten. Die Frage, was die erlebten Veränderungen verursachte und worauf sie letztlich zurückgingen, erregt viel mehr seit vielen Jahren die Gemüter. Unzählige Seiten wurden daher bereits mit Thesen, Theorien und Modellen gefüllt, die teilweise in offenem Widerspruch miteinander über die Hintergründe der italienischen Misere aufklären.[38] Selbstredend vermengen diese Beiträge häufig Erklärungsangebote mit politischer Agenda – wer den Grund des Übels in mangelnder Liberalisierung ausmacht, wird auf eben solche Reformen drängen; wer die negativen Effekte der gemeinsamen Währung herauskehrt, mag mit einem Italexit liebäugeln –, was, wenn man bedenkt, dass solche Beiträge ihrerseits „Theorieffekte“[39] zeitigten, sie selbst zu einem nicht allein diskursgeschichtlich relevanten Phänomen macht. Doch auch jenseits dessen wird jede zeithistorische Auseinandersetzung mit dem italienischen Kapitalismus etwaige Quellen in diese Debatten einordnen müssen. Das ist im Grunde aber nicht weiter kompliziert, da sie sich um vier Argumente gruppieren lassen: Entweder scheint die kapitalistische Entwicklungsdynamik in Italien nicht weiter bemerkenswert, da sie nur ein besonders fortgeschrittenes Stadium der allgemeinen Tendenz zu säkularer Stagnation darstellt; alternativ wird eine unzureichende Liberalisierung zur Verantwortung gezogen; zu scheiden sind davon, drittens, Argumente, die die negativen Effekte der gemeinsamen Währung hervorheben; schließlich fokussieren andere Beiträge die Abfolge und den konkreten Inhalt der tatsächlich durchgeführten Reformen. Jene Argumentationsmuster bilden den Hintergrund, um die Potenziale einer historisch-soziologischen Perspektive herauszukehren und das theoretische Versprechen Italiens zu umreißen.
Der erste Erklärungsansatz relativiert die Besonderheit des italienischen Falls. So sei es doch zunächst nur wenig überraschend, dass eine derart alte Gesellschaft kaum stärker wachse – in der OECD weist nur Japan einen höheren Altenquotienten auf, in Deutschland, Frankreich und Spanien liegt er in dieser Reihenfolge niedriger; Italiens Fertilitätsrate gehört seit Jahren weltweit zu den niedrigsten. Alte Menschen sparen anstatt zu investieren, arbeiten weniger, und müssen darüber hinaus noch versorgt werden. Zu wenige Geburten und zu wenige junge Menschen lassen demnach die „demographische Dividende“, also den Effekt der Altersstruktur auf das Wirtschaftswachstum, in Italien mittlerweile negativ notieren – eine weitere Differenz zum italienischen Kapitalismus der 1980er Jahre.[40] Seine Entwicklung stellt damit die unrühmliche Avantgarde eines Phänomens dar, das seit 2014 vermehrt unter dem Begriff der „säkulären Stagnation“ diskutiert wird. Er bezeichnet das wiederholte Auftreten einer Lücke zwischen dem realisierten und potenziellen Wachstum einer Volkswirtschaft bei gleichzeitigem Rückgang ihres prognostizierten Potenzials: Die Prosperitätschancen schwinden also und werden dennoch nicht ausgeschöpft.[41] Erschwerend kommt hinzu, dass die hohe Verschuldung des italienischen Staates nach dieser Lesart nicht nur die Spielräume einengt, um gegen das Phänomen vorzugehen, sondern es noch verschärft:[42] Schließlich bereite sie niedrigen Realzinsen den Boden und schmälere ab einem gewissen Punkt die Qualität der öffentlichen Infrastruktur.[43] An Italien lässt sich somit die insgesamt triste Zukunft der westlichen, vielleicht sogar insbesondere der europäischen[44] Volkswirtschaften ablesen. Die jüngere Geschichte des italienischen Kapitalismus erscheint damit als Ausdruck einer allgemeinen historischen Tendenz, die sich an ihm selbst exemplifiziert.
Wo der erste Erklärungsansatz zu Fatalismus neigt, formuliert der zweite eine explizit politische Agenda. Indem er die negativen Konsequenzen der Strukturbrüche als Ausdruck einer unzureichenden Reformpolitik deutet, spricht er konkrete Handlungsempfehlungen aus: Italien müsse endlich seine Institutionen modernisieren, um die Kräfte des Wettbewerbs zu entfesseln und wieder prosperieren zu können.[45] Demnach lassen sich die entgegengesetzten Entwicklungspfade in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien auf unterschiedliche Ausmaße von Liberalisierung zurückführen. Kurz gesagt wuchs Deutschland nur deshalb so beeindruckend, da Gerhard Schröder zu Beginn der 2000er Jahre die Hartz-Reformen durchs Parlament peitschte und einen großen Niedriglohnsektor schuf, während in Spanien dem Finanzsektor umfassende Freiheiten eingeräumt und die Arbeitsmärkte flexibilisiert wurden. Italien wird im Vergleich dazu als ein störrischer Patient porträtiert, der sich vor allem dank starker Gewerkschaften und erfolgreicher Populisten konsequent weigerte, rational gebotene Reformen, etwa im Bereich des Wettbewerbsrechts oder des Rentensystems, in hinreichendem Ausmaß zu implementieren.[46] Produkt dessen sei eine bürokratische Verkrustung der Gesellschaft, in der ausgeprägter Protektionismus jedwede Wachstumsimpulse erdrossele.[47] Des Rätsels Lösung, weshalb Italien derart langsam wuchs, scheint damit gefunden. Indem der Ansatz vor allem politische Faktoren für die Entwicklung in Italien verantwortlich macht, verknüpft er säkuläre Stagnation mit wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen auf nationaler Ebene, die diese jedoch nicht mehr als notwendiges Schicksal erscheinen lassen – Fehler können künftig schließlich noch korrigiert werden.
Die Bedeutung solcher Zusammenhänge bestreiten, drittens, Beiträge, die die relative Verarmung Italiens und die Spreizung der Wachstumsraten auf den für Italien negativen Einfluss der gemeinsamen Währung und des Vertrags von Maastricht zurückführen.[48] Die Leitidee dieses Erklärungsansatzes lautet, dass Volkswirtschaften auf adäquate Geldpolitiken angewiesen sind und zudem relevante Unterschiede zwischen inflationsaversen und inflationsaffinen Wirtschaftskulturen bestehen, die nicht einfach überbrückt werden können. Dabei exemplifiziert die BRD den ersten und Italien und Spanien den zweiten Fall.[49] Diese Kulturen konnten im Europa der 1980er Jahren noch gemeinsam bestehen, da ein System geordneter, aber flexibler Wechselkurse sie voneinander abschirmte und ständig politisches Kapital investiert wurde, um das System aufrechtzuerhalten.[50] Seit 2001 nivellierte die Gemeinschaftswährung aber solche Unterschiede und glich Zinssätze, Inflationsraten und Wechselkurse an. Das hatte auf die jeweiligen Kulturen des Kapitalismus genuine Effekte. Zum einen implizieren neutrale Wechselkurse, dass Firmen in Italien unmittelbar auch mit solchen in Baden-Württemberg und dem Sauerland konkurrieren. Das konnten sie zum Teil nicht erfolgreich, weshalb sie erst Absatzmärkte und damit Umsätze einbüßten, was gesamtwirtschaftlich zu sinkenden Löhnen, steigender Arbeitslosigkeit und schlussendlich ausbleibendem Wachstum führte. Zum anderen zeitigte die einheitliche Geldpolitik auf die Volkswirtschaften jeweils genuine Effekte, die sich nicht nur an der makroökonomischen Struktur, sondern ebenso an historisch bereits beschrittenen Wegen ausrichteten. Während etwa im spanischen Kapitalismus insbesondere die Finanz- und Baubranche bis 2008 von niedrigen Zinsen übergebührlich profitierte, verhinderte in Italien der hohe Staatsschuldenstand eine expansive, die Inlandnachfrage ankurbelnde Fiskalpolitik. Zugleich benachteiligte ein aufgrund des Euros zu hoch notierender effektiver Wechselkurs den italienischen Exportsektor, wobei der deutsche im Gegenzug von einer effektiven Unterbewertung durch den Euro profitiert habe.[51] Festzuhalten bleibt, dass dieser dritte Erklärungsansatz nicht Demographie oder Liberalisierungsdefizite, sondern die inter- und supranationale Position des italienischen Kapitalismus als zentrales Motiv hinter seinen jüngeren Strukturbrüchen ausmacht. Selbst bei umfangreicherer Liberalisierung hätte demnach Italien nicht stärker prosperiert, was gänzlich andere Verantwortlichkeiten und Lösungen nahelegt.
Das gilt besonders, wenn mit dem vierten und finalen Erklärungsansatz ein genauerer Blick auf den Inhalt und die Abfolge der Reformen gelegt wird.[52] Im Anschluss an die Varieties of Capitalism-Literatur[53] und gegen die in seinen Augen engstirnige Liberalisierungsthese gibt er zu bedenken, dass im Kapitalismus diverse Pfade zu wirtschaftlicher Prosperität koexistieren, man sich aber für einen der beiden Hauptpfade entscheiden müsse: Entweder man gestalte Institutionen so, dass sich Firmen hierarchisch über Märkte koordinieren oder man baue korporatistische Formate auf, die vom Marktgeschehen teils isoliert werden. Beide Varianten versprechen dabei grundsätzlich Erfolg, in Italien laute das Problem aber, dass im Verlauf der 1990er Jahre beinahe stümperhaft versucht worden sei, eine traditionell koordinierte Marktwirtschaft zu einer liberalen umzubauen – mit teils desaströsen Folgen. So hätten beispielsweise italienische Firmen traditionell auf lokale Banken gesetzt, um mit Krediten ihre Investitionen zu finanzieren. Die Vergabe dieser Kredite war durch implizites Wissen gedeckt, denn die Banken wussten dank persönlicher und politischer Kontakte vor Ort um die Reputation ihrer Schuldner. Das änderte sich zu Beginn der 1990er Jahre, als der italienische Bankensektor reformiert und privatisiert wurde. Das Zusammenschmelzen des Sektors – zwischen 1990 und 2004 kam es zu knapp 620 Übernahmen – und der Rückzug des Staates aus ihm – der Anteil staatlicher Banken fiel innerhalb von zehn Jahren von 70 % auf 10 % – zeitigte nun unerwartete Konsequenzen. Denn mit ihnen ging ihr exklusives Wissen über die kleineren und mittleren Unternehmen verloren, weshalb diese in Zeiten expandierender globaler Märkte in eine Kreditklemme gerieten. Sie konnten profitabler Geschäftsmodelle zum Trotz nicht investieren, weil sie von den neuen Banken – die ihr mangelndes Wissen aufgrund non-komplementärer Firmenstrukturen nicht auf anderem Weg kompensieren konnten –, keine Kredite mehr erhielten, was sie dank sinkender Produktivität auf globalen Märkten in eine schlechte Wettbewerbsposition brachte.[54] Wichtig ist die hintergründige Logik dessen: Liberalisierung kann, wie das Beispiel zeigt, zu nicht-intendierten Effekten führen, insbesondere wenn Aspekte beider Kapitalismusvarianten ebenso wild wie unglücklich miteinander vermischt werden. Auch seien koordinierte Marktwirtschaften liberalen nicht unbedingt unterlegen, es existiere kein Königsweg zur Prosperität. Auf diese Weise koppelt der Erklärungsansatz die Misere des italienischen Kapitalismus explanativ von übergreifenden Entwicklungslogiken ab und zieht die kontingenten historischen Logiken vor Ort primär zur Verantwortung.
Die vier Erklärungsansätze treten selten in Rein-, dafür umso häufiger in Mischformen auf. Sie alle finden in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte innerhalb und jenseits Italiens viele Fürsprecher, weisen jeweils eigene Stärken wie Schwächen auf und bilden keineswegs das Universum aller existierender oder prinzipiell möglicher Erklärungen vollständig ab. Dennoch steht jeder Beitrag, der die relative Verarmung Italiens, die Transformation seines Kapitalismus und dessen politische Folgen adressiert, automatisch im Kontext ihrer Argumente. Der von ihnen eingeforderte Fokus auf säkuläre Stagnation, Liberalisierungsdefizite, monetäre Integration oder institutionelle Komplementaritäten legt je unterschiedliche Thesen zu seiner jüngeren Geschichte nahe und präfiguriert so Quellenauswahl wie -interpretation. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie eine zeitgeschichtliche Untersuchung hinreichend Distanz zu dieser Debatte aufbauen und dennoch gleichzeitig einen relevanten Beitrag zu ihr leisten kann.
3 Potenziale einer zeithistorischen Perspektivierung
Der zentrale Schwachpunkt des hier nur in Umrissen skizzierten Diskurses zur jüngsten Geschichte des italienischen Kapitalismus ergibt sich nicht aus seinen inneren theoretischen Widersprüchen – die eher produktiv nutzbar gemacht werden können –, sondern aus seiner Abkopplung von genuin historischen Forschungsstrategien und Fragestellungen. Denn obgleich allerorts starke geschichtsphilosophische Thesen zur Logik der gezeigten Entwicklung aufgestellt werden – des Pudels Kern sei demnach entweder ein malthusianischer ‚Methusalem-Komplott‘; das ewige Beharren eines ‚Traditionalismus‘ gegen die Kräfte (liberaler) Rationalisierung; die Interdependenz von Zentrum und Peripherie im Weltsystem; oder die kontingent intervenierende Fortuna des Politischen –, fällt die Beschäftigung mit der genuin geschichtlichen Dimension eher zurückhaltend aus: Zum einen verlagern viele Beiträge ihren Betrachtungszeitraum relativ weit nach vorne. Sie ignorieren so häufig die Entwicklungen der 1980er Jahre und setzen die Leserinnenschaft vor allem hinsichtlich der Modernisierungsoffensive ab 1992, die im Rahmen der Euroeinführung stattfand, vor vollendete Tatsachen.[55] Das solche Politiken auf spezifische wirtschaftspolitische Herausforderungen antworteten und selbst umfassender zu historisieren wären, gerät dabei schnell aus dem Blick. Zum anderen verharrt die Debatte in aller Regel – und der vorliegende Beitrag stellt dazu keine Ausnahme dar – auf der Ebene makroökonomischer Indikatoren und theoretischer Modelle. Analysen, die die Wahrnehmungen und Entscheidungssituationen von Akteuren rekonstruieren und ihren begrenzten Erfahrungsraum würdigen, anstatt ihn ex-post in den Kategorien des eigenen (strukturalistischen) Ansatzes zu beurteilen, fehlen.[56] Ferner rekurriert der Diskurs zumeist auf öffentlich zugängliche Quellen und präsentiert dabei repetitiv dieselben bekannten Sachverhalte mit verändertem normativem Vokabular. Zuletzt sorgt der argumentative Stil jener Beiträge dafür, dass widersprüchliche Deutungen und Unabwägbarkeiten systematisch in den Hintergrund treten. Je mehr es darum geht, in einer Debatte um Italien einen Punkt zu machen, desto mehr sinkt der Informationsgehalt der dazu vorgebrachten Beschreibungen. Das Verstehen der Strukturbrüche des italienischen Kapitalismus tritt dabei unweigerlich hinter ihre Erklärung zurück.
Die bisher nicht-realisierten Chancen zeitgeschichtlicher Forschung zu diesen ebenso weitläufigen wie intensiven Debatten implizieren umgekehrt, dass eine Beschäftigung mit den dort aufgeworfenen Fragestellungen reiche Erträge verspricht. Diese sind einerseits systematisch-theoretischer Natur. Anstatt die Widersprüche zwischen den bisherigen Erklärungsansätzen aus unterschiedlichen Disziplinen aufzulösen und abschließend die Frage zu beantworten, weshalb der italienische Kapitalismus heute in schlechter Verfassung ist, könnten auf diesem Weg die angebotenen Ansätze am Quellenmaterial geprüft und so rekonstruiert werden, wie die Debatte selbst wirkmächtig wurde, wie ökonomische Entwicklungen kulturell gedeutet wurden, welche Optionen den Akteuren tatsächlich offenstanden, welche sie aus welchen Gründen entweder ignorierten oder gar nicht erst sahen und schließlich welche sie dann bevorzugten und realisierten. Dergestalt könnte auch genauer untersucht werden, welche Folgewirkungen und welchen Sog einmal gefällte Entscheidungen entfachten, welche Prozesse sie anstießen und inwiefern diese einer übergreifenden Strategie oder einem gemeinsamen Modell entsprachen. Dabei ließe sich auch prüfen, welche Reichweite neueren Theorien kapitalistischer Entwicklungsdynamik zukommt. Andererseits sind die in Aussicht stehenden Erträge historiographischer Natur. Die Wirtschaftsgeschichte ist ein weites Feld, dennoch kann die Literatur zu den vergangenen 40 Jahren doch als überschaubar charakterisiert werden. Gerade die 1990er Jahre sind auf Quellenbasis nicht umfassend erschlossen, was nicht nur, aber insbesondere für den italienischen Fall gilt. Die Arbeit an der Grenze archivalischer Sperrfristen verspricht zudem gerade hier Forschungsergebnisse mit hoher gesellschafts- und geschichtspolitischer Relevanz: Schließlich ist die mangelhafte Wirtschaftsentwicklung Italiens ein Streitthema ersten Ranges, auch weil die „Kulturbedeutung“ dessen weit über genuin ökonomische Fragestellungen hinausreicht.
Ein historisch-soziologischer Beitrag, der angesichts dessen geschichtlich weiter zurückgreifen, qualitativ statt quantitativ argumentieren, eigenes Quellenmaterial erheben und ihrem Verständnis einen hohen Stellenwert einräumen will, wird sich allerdings kaum allein auf Italien fokussieren können: Denn weder können die aufgerufenen Entwicklungen fernab von Vergleichen überzeugend eingeordnet werden noch sind sie kausal isoliert. Die Differenzen zwischen dem spanischen, deutschen, französischen und italienischen Kapitalismus sind nicht nur erhellend, sondern eben auch erklärend – schließlich standen dortige Akteure in jenem Zeitraum vor ähnlichen Problemen, griffen aber zu anderen Strategien oder setzten sie mit anderen Ergebnissen um. Angesichts dessen wird ein solcher Beitrag systematische Vergleiche zu anderen Ländern nicht aussparen können. Ihre trans- und supranationale Kooperation bzw. ihre dortigen Konflikte wären ebenfalls zu beleuchten – wobei nicht zu vergessen wäre, dass die Akteure aus diesen Ländern sich wechselseitig beobachteten und miteinander mögliche Lösungen für ihre teils gemeinsamen Probleme diskutierten. Im gleichen Maße wird dieser Beitrag eine theoretische Perspektive erarbeiten müssen, in dem die oben angerissenen Erklärungsansätze produktiv aufgerufen und am konkreten Material gegeneinander abgewogen werden. Das heißt zuletzt auch begriffliche Präzisierung vorzunehmen und zu diskutieren, inwiefern die jüngste Geschichte des italienischen Kapitalismus einen Sonderfall darstellt oder ob er nicht viel eher die Entwicklungen in anderen (mediterranen) Ländern exemplifiziert oder gar vorwegnimmt.
4 Schluss: Das theoretische Versprechen Italiens
Italien firmiert in der Literatur nicht als Modellfall.[57] Im Gegensatz zu England und Frankreich, die dort spätestens seit Marx als Gradmesser entweder der ökonomischen oder der politischen Entwicklung gelten,[58] und auch anders als Deutschland, dessen Entwicklung gerade Max Weber als Taktgeber bürokratischer Rationalisierung diskutierte,[59] wird Forschung zu Italien theoretisch eher unter ferner liefen verhandelt. Zu eigenwillig scheinen die dortigen Konflikte, zu disparat die sich kristallisierenden Entwicklungsmuster, als dass auf ihrer Basis generalisiert werden könnte. Italien wird demnach als Sonderfall verhandelt, dessen Eigenheiten allenfalls ein gewisser ästhetischer Reiz zukomme.
Jedoch haben die Ereignisse der vergangenen Jahre starke Zweifel an einer solchen Charakterisierung gestreut. War die Wahl eines medienaffinen, unter Ermittlungsdruck stehenden, partiell gescheiterten Unternehmers zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wirklich präzedenzlos?[60] Kann die Rolle von Justiz und Korruptionsbekämpfung für den Aufstieg Jair Bolsonaros als neuartig gelten?[61] Und waren die Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen Zentrum und Peripherie in Deutschland besonders auffällig?[62] All solche Thesen wird man vor dem Hintergrund der Geschichte der Zweiten Republik vermutlich relativieren müssen. Wenn dies allerdings zutrifft, dann stellt sich umgekehrt die Frage, ob das epistemische Objekt einer Analyse der jüngeren Strukturbrüche in Italien nicht notwendigerweise über ihren konkreten Fall hinausweist: sie zu erkennen würde dann bedeuten, vergleichend die Zusammenhänge und Widersprüche zwischen Neoliberalisierung und scheiternden Wachstumsstrategien aufzuklären, und damit nicht allein die Dynamiken des italienischen, sondern des westeuropäischen Kapitalismus auf den Begriff zu bringen.
© 2023 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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