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Ikonen und Klischees

Tourismus in Italienbildern des ‚Falles Bond‘ & Co.
  • Marita Liebermann EMAIL logo
Published/Copyright: November 14, 2023

Abstract

Astonishingly, the trio ‚action film – Italy – tourism‘ has to date received little attention from the perspective of cultural studies and semiotics. The aim of this article is thus to show that communication strategies have made tourist travel a complex phenomenon of contemporary everyday culture from a semiotics perspective: conceptually, theoretically, and through a cursory examination of select examples from film. By doing so, it outlines the ways in which the combination of tourism and action films contributes to common clichés about Italy.

Ein Großteil der heutigen Menschheit begreife Jonathan Culler zufolge die Welt als einen Ort zum Bereisen.[1] Mit dieser Beobachtung beschreibt der Kultursemiotiker eine Art epistemischer Tiefenschicht des Tourismus, deren Paradigmen in der Populärkultur zeichenhaft (re)produziert werden. Denn wenn, wie schon Culler vor über 30 Jahren konstatiert hat, in den wirtschaftlich bessergestellten Ländern praktisch alle Globusbewohner wissen, was ‚man‘ z. B. in Paris sehen ‚muss‘, dass und warum ‚man‘ Rom oder San Francisco besucht ‚haben‘ und dort der einen oder anderen Aktivität nachgegangen sein ‚muss‘,[2] so geht die Konstruktion und Verbreitung dieses Wissens mittels weltumspannender Kommunikationsprozesse vonstatten, die sich einer Vielzahl von Medien, verstanden als Bedeutungs- oder Zeichenträgerinnen, bedienen: der Schrift ebenso wie des Bildes, des gesprochenen oder gesungenen Wortes ebenso wie der Musik, des menschlichen Körpers ebenso wie dessen Präsentation, Ausstattung und Mobilisierung durch Kosmetik, Kleidung, Fortbewegungsmittel und andere Formen der Mitteilung von Bedeutungen. Und wenn die Gesamtheit dieses ebenso vielgestaltigen wie effizienten Kommunikationssystems, das sich mit Culler und Dean MacCannell in einem semiotischen Sprachgebrauch als „touristischer Code“ bezeichnen lässt,[3] der machtvollste und meistverbreitete Konsens der Welt ist,[4] so trägt der Actionfilm in der Variante des Agenten- und Verschwörungsfilms maßgeblich zur Stärkung solcher Macht und solchen in der Regel unreflektierten Einvernehmens bei: eine Figur wie James Bond bildet – gemeinsam mit einer Reihe anderer, meist männlicher Helden wie Indiana Jones oder Robert Langdon, um nur zwei weitere, nachfolgend thematisierte Serienprotagonisten zu nennen – gleichsam feste Bestandteile der Grammatik des „touristischen Codes“. Ein anderes konstantes Element bildet, wie schon die Reihe von Cullers Beispielen zeigt, Italien bzw., genauer gesagt, ein vermeintliches ‚Italienisch-Sein‘: internationale Imaginarien von ‚italianeity‘[5], Klischees, die gleichfalls kollektiv (re)produzierte Kommunikationsinhalte darstellen und in vielen medialen Formen Verbreitung finden.

Angesichts der gegenwärtig massiven Präsenz sowohl des Tourismus als auch des Actionfilms in den sozialen Lebenswirklichkeiten zumindest des globalen Nordens könnte es auf den ersten Blick erstaunen, dass dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Formen der Populärkultur im Allgemeinen wie auch der Trias ‚Actionfilm – Italien – Tourismus‘ im Besonderen aus kulturwissenschaftlicher und -semiotischer Perspektive bislang eher wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.[6]

Zwar steht die elementare Rolle von filmischen Fiktionen als – oftmals kostenfreiem – Werbemittel für die Tourismusindustrie außer Frage. Es ist mittlerweile belegt, dass etwa das Alnwick Castle im englischen Northumberland, Kulisse und Drehort so unterschiedlicher Filmwerke wie „Harry Potter“, „Downtown Abbey“, „Transformers: The Last Knight“ oder „Robin Hood: Prince of Thieves“, ebenso wie die Ruinenstadt Petra in Jordanien, wo „Star Wars“ und „Indiana Jones“-Folgen aufgenommen wurden, oder auch die Rosslyn Chapel bei Edinburgh in Schottland, die in „Da Vinci Code“, einer der Dan Brown-Verfilmungen mit der Robert Langdon-Figur,[7] durch die filmischen Inszenierungen höhere Touristinnenzahlen verbuchen konnten.[8] Auch wird verschiedentlich konstatiert, dass durch die Filme, von den quantifizierbaren Zuwächsen abgesehen, die ‚Locations‘ zu Elementen eines globalen Wissensarchivs werden, das ihnen schier unbezahlbare Popularität bringt.[9] Die Schattenseiten dieser Bekanntheit, die negativen Folgen für das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben der bereisten Orte, deren Besucherzahlen die Zahl der in ihnen Wohnenden oft um ein Vielfaches übersteigt, werden dabei durchaus problematisiert.[10] Allerdings weisen die diesbezüglichen Studien in der Regel den Fragehorizont der Tourismusforschung auf, deren Erkenntnisinteresse hinsichtlich der herrschenden touristischen Praxis in der Hauptsache von den Bedürfnissen der Tourismusindustrie vorgegeben wird. Mit anderen Worten: Ziel der Forschung ist, die touristische Vermarktung noch effizienter bzw. gegebenenfalls auch sozialverträglicher zu gestalten. Und so kann es auf den zweiten Blick kaum verwundern, dass der geschilderte Zusammenhang bislang vor allem als Gegenstand des Tourismusmarketings in Erscheinung tritt: als Aspekt des Filmtourismus, des Movie- oder Film-induced tourism, im Italienischen als cineturismo bezeichnet, einer Form des Kulturtourismus, bei der die „touristische Aktivität … durch ein Faible für das Betrachten von Bewegtbildern ausgelöst wird“.[11] Gemeint sind näherhin „Reisen zu Schauplätzen von Film- und Fernsehproduktionen“, Besuche „filmbezogene[r] Freizeiteinrichtungen und Events“ wie „Wohn- und Wirkungsstätten von Schauspielern“, Studios, „Filmparks“, „Filmfestivals und -prämierungen“;[12] einbezogen findet sich zudem der berufsbedingte Tourismus von Reisenden der Filmindustrie.[13] Allerdings wird in diesem Untersuchungsrahmen eher nebenbei festgestellt, dass der filmisch verbreitete Tourismus-Code auch und gerade dort wirksam ist, wo nicht bewusst auf den Spuren des Films und dessen Heldenapparat gereist wird – dass also der Film „einer der wichtigsten Auslöser – oder Push-Faktoren – für das touristische Reisen an sich“[14] ist. Nur in Ansätzen scheint entsprechend nach den im Film besonders wirksamen Kommunikationsstrategien gefragt zu werden, die das touristische Reisen überhaupt erst zu dem komplexen Phänomen der Alltagskultur werden ließen, das es heute ist.

Der vorliegende Beitrag will diese Frage konzeptionell-theoretisch und durch eine kursorische Betrachtung von Filmbeispielen perspektivieren um sich dem Thema des Italien-Klischees zu nähern. Wie anhand der Gestaltung von Venedig- und Rombildern in ausgesuchten Episoden aus James Bond-Geschichten unterschiedlicher Zeiten – „Moonraker“ (Christopher Wood, 1979), „Casino Royale“ (Martin Campbell, 2006), „Spectre“ (Sam Mendes, 2015) – sowie einzelner Szenen aus „Indiana Jones and the Last Crusade“ (Steven Spielberg, 1989) und des Robert Langdon-Films „Inferno“ (Ron Howard, 2016) gezeigt werden soll, ist der Begriff des Klischees für den skizzierten Zusammenhang unter verschiedenen Gesichtspunkten von elementarer Bedeutung. Zum Einstieg mag ein erstes Streiflicht auf die Bond-Figur deren paradigmatische Valenz hinsichtlich des Verhältnisses des Tourismus’ zum Agenten- bzw. Verschwörungsfilm konturieren (1), bevor Überlegungen zur visuellen Markierung Italiens im Film angestellt werden, der Funktionalisierung von Bildern als Marker in einem semiotischen, von Culler und MacCannell in die kulturwissenschaftliche Tourismusdiskussion eingeführten Sinn (2). Die dabei in den Fokus rückende Beziehung zwischen Klischees und Visualität umfasst verschiedene Vorstellungen vom Ikonischen, die es für eine exemplarische Beschreibung einer tourismuswirksamen Semiotik von ‚italianeity‘ in ihren Umrissen abzustecken gilt. Auf dieser Grundlage werden ausblickweise schließlich auch die Touristen selbst, insofern sie Elemente der Filme sind, in die Betrachtungen einbezogen (3). Dass die Sphäre des Visuellen im Mittelpunkt steht und die auditive Dimension der Filme (einschließlich der Bildlichkeit von Musik) allenfalls oberflächlich thematisiert werden kann, reflektiert zum einen die zentrale Rolle, die dem Sehen oder Blicken in der Tourismuskultur zukommt,[15] liegt zum anderen jedoch in der fachlichen Herkunft der Verfasserin des hier vorgeschlagenen Ansatzes begründet.

1 Paradigma Bond – Held, Tourist, Touristenheld

James Bond-Filme werden aus Sicht der ökonomischen Tourismusforschung (unter rhetorischem Rekurs auf ein anderes, filmisch vielfach, auch in der Indiana Jones-Reihe mediatisiertes Klischee) als ‚Eldorado‘ beschrieben. 007 ist eine der populärsten Figuren der Filmgeschichte, seit 1962, dem Jahr des ersten Bond-Films „007 jagt Dr. No“ bei verschiedenen Generationen rund um den Globus in hohem Maße beliebt.[16] Zum einen sind die Drehorte Ziele filmtouristischer Reisen, die aufgrund ihrer symbolischen und ideologischen Dimension mit religiös motivierten Pilgerreisen verglichen werden; zum anderen reichen die Leinwandfiktionen auch dahingehend in die Realität hinein, dass die Filmtouristen den Helden etwa durch die Anmietung bestimmter Fahrzeuge oder Unterkünfte nachahmen.[17] Ein besonders kurioses Angebot solcher Fiktionsverlängerung stellt die Kostüm-Parade zum Totenfest dar, die das Tourismusministerium von Mexiko 2016 in Mexiko Stadt veranstalten ließ: Es handelte sich um einen zuvor nie stattgefundenen Karneval, von dem die Anfangssequenz von „Spectre“ erzählt und den die Behörden gewissermaßen nacherfinden mussten, um die Besucherinnen nicht zu enttäuschen.[18] Doch nicht nur zum Filmtourismus unterhält James Bond eine Wechselbeziehung, zugleich reflektieren die Filmplots mit ihren spezifischen Mitteln mehr als ein halbes Jahrhundert Tourismusgeschichte.

Im Rahmen seines 59-jährigen Leinwandlebens hat der Protagonist viele Wandlungen durchlebt, die mehr oder weniger subtil auch über die jeweils dominanten gesellschaftlichen und politischen Diskurse – etwa Freund- und Feindbilder im Kontext des Kalten Krieges, Schönheitsideale, Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, Geschlechterverhältnisse u. ä. m. – Auskunft geben können. Eben deshalb wurde bereits 1965 von Oreste Del Buono und Umberto Eco – mit einer Formulierung, in deren Tradition sich die Überschrift des vorliegenden Beitrags stellt – von einem „caso Bond“ gesprochen,[19] einem ‚Fall Bond‘, der sowohl ein Modell als auch ein Phänomen der Gegenwarts- oder Populärkultur darstellt und insofern mit den historischen Kontexten wächst, schrumpft, sich verändert. Umso gewichtiger sind die konstanten Signifikate, auf die das Setting seiner Aktivitäten durchgehend rekurriert. Der Tourismus gehört in maßgeblicher Weise zu diesen transhistorisch präsenten Elementen: „From the very first moments of the very first James Bond film, then, tourism associated places and practices are present.“[20] Wenn in „Moonraker“ Miss Moneypenny den Agenten mit der Bemerkung begrüßt, er sähe aus, als habe er einen Abenteuerurlaub hinter sich (01:14.08),[21] lässt sich das als metamedialer Selbstkommentar zu sämtlichen 25 Filmen der Reihe verstehen, insofern sie alle von Reisen zu abenteuerlichen, exotischen Orten erzählen. Die Reise ist für die James Bond-Geschichten unentbehrlich; sie ist ein Grundelement der Handlung, ebenso strukturbildend wie der Kampf zwischen Gut und Böse. Und von Anfang an ist es auch und vor allem die touristische Reise, deren vielfältige Formen in den Filmen durchdekliniert werden. Zu Recht ist insofern beobachtet worden, dass die narrativen, visuellen und auditiv-musikalischen Komponenten, die in der Reihe im Verlauf der Jahre zum Einsatz kommen, wie andere Elemente der Alltagskultur auch zentrale Momente und Entwicklungen der touristischen Praxis reflektieren.[22] Doch der Tourismus bildet nicht nur einen Kontext der Geschichten, vielmehr ist 007 selbst unter verschiedenen Aspekten ein Tourist:

„The secret agent possesses a very strong touristic capital, in the Bourdieu sense of the word. Wherever he is in the world and whatever he is doing, he has substantial monetary capital to hand, always in the appropriate currency, which seamlessly provides for all his needs and satisfies his taste for luxury tourism. … Furthermore, he always changes hotels when the standard does not seem to meet his high expectations … In addition to his monetary capital, 007 has cognitive capital. Despite the fact he never has a map, GPS or a dictionary, he never encounters orientation problems or linguistic difficulties. His crowning capital, however, could be described as political. The secret agent never encounters any problems when crossing borders, even though he travels with false papers and a number of dangerous items. He even seems immune to all the inconveniences that jet lag and changes in diet can bring.“[23]

Als ‚heroischer‘ oder ‚Super-Tourist‘ wird Bond zudem nicht lediglich unter dem Aspekt inszeniert, dass ihm die banalen Probleme der ‚Normal-Touristen‘ nichts anhaben können. Darüber hinaus erscheint er als deren ideeller Verbündeter, eine Art moralisches Vorbild, da er an den jeweiligen Orten immer das ‚Andere‘ oder den ‚Fremden‘ repräsentiert, dabei jedoch – im Gegensatz zu den alltagswirklichen Touristen – souverän und selbstsicher wirkt, auch und gerade in Situationen, die genrespezifisch lächerlich oder gefährlich gestaltet sind. Er hebt sich unübersehbar von den ‚Einheimischen‘ ab, ist nicht dazugehörig par excellence, ein Besucher, der anders als die meisten ‚echten‘ Touristen die Lage beherrscht und nicht umgekehrt, wie die berühmte Gondelfahrt-Episode in „Moonraker“ und eine nächtliche Verfolgungsjagd durch Rom in „Spectre“ auf je eigene Art exemplifizieren können (s. u.).

Hinsichtlich dieser ‚touristischen Funktionalisierung‘ lässt 007 sich als paradigmatische Ausdrucksform betrachten, insofern auch andere Action-Helden wie Indiana Jones oder Robert Langdon von ähnlichen, situations- und geschichtenübergreifenden Grundeigenschaften geprägt sind. Beide Wissenschaftler sind äußerst kompetente Touristen, und beide bieten sich auf je eigene Weise als Identifikationsfiguren für das Filmpublikum an, von dem wohl angenommen werden darf, dass es zugleich einen repräsentativen Durchschnitt der weltweiten Touristinnen darstellt: Wenn im wohlhabenderen Teil der Menschheit praktisch alle Touristen waren, sind oder sein werden,[24] dürften diese zugleich eine maßgebliche Zahl unter den Zuschauern der meistgesehenen Kinofilme bilden.

2 Marker Italiens – Klischees und Ikonen

Italien gehört zu den touristischen Reisezielen, in denen sich der Tourismus aufgrund seiner Bedeutung für die nationale Ökonomie Marco d’Eramo zufolge als „abnormer“ oder „anomaler“ Faktor beschreiben lässt, insofern „die Zahl der Besuche aus dem Ausland die Zahl der Einwohner übersteigt“.[25] Zugleich scheint Italien bzw. die landläufige Vorstellung davon eine besondere ‚ikonische‘ Disposition zu besitzen, verstanden zunächst allgemein als ‚Wirkfähigkeit in Bildern‘, die sich etwa in einer herausragenden Fotogenität oder einem ‚Film-Appeal‘ äußert. Im Bond-Kino figuriert die Apennin-Halbinsel unter den nicht im UK und nicht in den USA gelegenen Handlungsorten am häufigsten; sie wird in acht der bislang 25 Filme explizit (visuell z. B. durch Wahrzeichen wie den Markusplatz und/oder sprachlich etwa durch Dialoge oder Einblendungen von Ortsangaben) als Element des Plots präsentiert.[26] Mit welcher Entschiedenheit die Bondverfilmungen hier – nicht nur in Bezug auf Italien – ihre medienspezifischen Möglichkeiten der audiovisuellen Persuasion mit einer Fokussierung des Reisemotivs verbinden,[27] kann schon eine weitere rein quantitative Information erahnen lassen, die eines der literarischen Bezugswerke betrifft: In Ian Flemings Roman „Casino Royale“[28] (1953) reisen Bond und Vesper wenig bis gar nicht. Sie führen ihren Auftrag im französischen Städtchen Royale aus und gönnen sich nach der überstandenen Entführung (einschließlich der Folterung Bonds durch den Schurken) Ferien an einem nahegelegenen Badeort, den sie wie Durchschnittsurlauber mit einem Auto erreichen. Am Schluss begeht Vesper aus ähnlichen Gründen wie im späteren Film Selbstmord – jedoch still und heimlich mit Schlaftabletten im Hotelzimmer. Das diluviale Ton- und Bild-Spektakel in Venedig, das im Kontext des ersten Einsatzes von Daniel Craig als Bond-Figur (2006) aufgeboten wird, hat mithin keinerlei Bezug zum Roman, wie überhaupt der Film die Reise vollkommen unabhängig von Flemings Text zur dominierenden Handlungszutat werden lässt. Bond und Vesper reisen praktisch unentwegt, zunächst in Erfüllung ihrer Aufgaben, spätestens mit ihrer Ankunft in Venedig aber auch mit markant touristischer Konnotation (an dieser Stelle ähnlich wie im Roman): Sie sind bereits ein Sehenswürdigkeiten fotografierendes Liebespaar, als sie die Wasserstadt im Segelboot erreichen. Gleichsam nebenbei und daher umso klischeehafter und wirkungsvoller wartet die filmische Inszenierung zudem mit den gängigen Venedig-Topoi von der überirdischen Schönheit über die unheilvolle Liebe bis zum Tod auf.

So gewinnt der schon etymologisch manifeste Zusammenhang von Klischees und Visualität im „Casino Royale“-Film eine geradezu mustergültige, weitgehend ironiefreie Gestalt: Die Kamerafahrt über die türkisblauen Wellen der Lagune im Sonnenlicht erzeugt wie die Totale auf das Becken von San Marco mit der unverkennbaren Stadtsilhouette im Hintergrund und schließlich das wortlos-heitere Einvernehmen des Paares auf dem Boot nicht nur im obigen Sinn ‚ikonische‘ Bilder, nicht nur schön Anzusehendes, sondern diffuse Vorstellungen von (bedrohtem) Glück und großen Gefühlen, die über das rein optisch Wahrnehmbare hinausgehen (02:02:47).

Somit lässt sich hier auch von einer Ikonen-Erschaffung in einer alltagssprachlichen Bedeutung sprechen, der zufolge gegenwartskulturelle Vorstellungen von Symbolischem, von Kult, Legende, Aura und Mythos ineinanderfließen:[29] Ähnlich wie in den Medien die Rede von „Leinwandikonen“ ist, deren Anblick mehr und anderes vermittelt als das physisch oder materiell zu Sehende, oder Modehäuser mit ‚ikonischen‘ Farben und Schnitten werben, die der Kleidung eine das Sichtbare übersteigende Bedeutung geben (sollen), werden die Venedig-Impressionen im Verbund mit Bond und Vesper zu einer ikonischen Komposition, zusammengesetzt aus Bildern, die keiner Erklärung bedürfen: aus visuellen Klischees.[30] Diese werden durch den Einsatz von musikalischen Klischees auditiv verstärkt. Bild-Klischees und Klang-Klischees, wie sie etwa in den zunächst zurückgenommenen, dann immer voluminöser werdenden Streichern des bezeichnenderweise als „City of Lovers“ betitelten Stücks von David Arnold zum Ausdruck kommen, lassen sich in der Inszenierung von Bonds und Vespers Ankunft in Venedig bezüglich ihrer narrativen Funktionalisierung somit als synchron bezeichnen.

Wie angedeutet umfasst die Semantik von ‚Klischee‘ ähnlich wie jene von ‚Stereotyp‘[31] das Moment des Visuellen: Zunächst handelt es sich um eine Bezeichnung für einen „vorgefertigte[n] Druckstock für Abbildungen“, die im landläufig verbreiteten, übertragenen und pejorativen Sinn benutzt wird für „vorgeprägte Wendungen, abgegriffene, durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden“.[32] Es ist demnach im Kern die in der ‚eigentlichen‘ Bedeutung wertoffene Vorstellung des Reproduzierens, die in der allgemeinen Sprachverwendung ein negatives Vorzeichen bekommt. Gründet eine solche Bewertung auf der idealisierenden Vorstellung, dass qualitativ ‚wertvolle‘ künstlerische Produktion ein Ausdruck von Subjektivität und Originalität sei oder zu sein habe, so vernachlässigt sie die kognitive, orientierende Funktion, die in den unwillkürlichen, gewissermaßen ‚automatisierten‘ Operationen des ‚Sich-ein-Bild-Machens‘ ebenfalls enthalten ist: Wir alle sind sofort „im Bilde“, wenn wir eine Gondel und eine Karnevalsmaske oder das Kolosseum und eine rote Vespa[33] sehen.

Was in solchen Redewendungen unter ‚Bildern‘ verstanden ist, gilt es wie allgemeiner die Sphäre der ‚Visualität‘ auch und gerade in Bezug auf einen differenzierten, umfassenderen Klischeebegriff als ein duales Gebilde zu verstehen, in dem sowohl Prozesse der Sinneswahrnehmung, der optischen Perzeption stattfinden, als auch die Welt der ‚inneren Bilder‘ lokalisiert ist, der individuellen und kollektiven Imaginarien.[34] Visuelle Klischees, in diesem doppelten, inter- und transmedialen Sinn verstanden sowohl als mentale wie auch als physische Phänomene, scheinen gerade dann besonders effizient zu sein, wenn die Bilder weniger auf ausbuchstabierte Inhalte referieren, sondern sich an die Vorstellungswelt der Adressatinnen richten. Die oft beklagte ‚Inhaltslosigkeit‘ von Klischees wäre mithin genau die Eigenschaft, die sie kommunikativ und kognitiv so wirkungsvoll macht:[35] Sie orientieren die Angesprochenen blitzschnell über das Koordinatensystem, in dem die dargebotenen Inhalte verortet sind. Zwingend, geradezu unhintergehbar erscheint etwa beim Bild der Vespa dessen Koppelung mit diffusen Vorstellungen von ‚italianeity‘.[36] Diese Zusammengehörigkeit beruht auf den Konnotationen und Assoziationspotentialen, die das Bild mitliefert, dabei jedoch nicht expliziert, sondern die jeweils Betrachtenden entfalten lässt. Selbstverständlich heißt das nicht, dass es eine jeweils autonome oder willkürliche Entscheidung der Betrachtenden ist, was sie – außer der Vespa – noch alles sehen; Klischees sind ja vor allem deshalb so effektiv, weil sie Konventionen transportieren. Dass die Semiose, der Akt der Bedeutungszuweisung, prinzipiell kein ausschließlich individuelles Tun darstellt, sondern vor allem einen sozialen und von einer Vielzahl über- und nebengeordneter Diskurse mitbestimmten Vorgang, ist gerade für Klischees, deren persuasive Wirkung und kognitive Funktion grundlegend:[37] Die Bilder sind ‚ikonisch‘, so lässt sich entsprechend behaupten, werden ebenso als schön wie als symbolgeladen und legendär empfunden, weil sie etwas Bekanntes zeigen, den Betrachtenden dabei aber Raum lassen, die gleichfalls allgemein bekannten Imaginarien beim Sehen im jeweils eigenen Wahrnehmungsradius zu aktualisieren. Bekräftigt wird die Vermutung, dass an einer gelungenen Klischee-Vermittlung eine Aktualisierungsleistung der Rezipierenden beteiligt ist, durch den Unterschied zwischen der Präsentation von Bild-Klischees in Filmen wie „Roman Holiday“ oder „Casino Royale“ und dem Video, das im Rahmen der staatlich beauftragten Werbe-Kampagne BeIT in ähnlicher Weise die gängigen Italien-Klischees aufbietet – von schönen Frauen über traumhafte Landschaften bis hin zur Ingenieurskunst (die Vespa ist auch kurz sehen).[38] Was die Bilder der Filmwerke der Phantasie überlassen, wird im Image-Video durch einen Sprecher vorgegeben, der im Grunde erklärt, was gesehen werden soll und damit die persuasive Klischee-Wirkung verspielt.

Die Beobachtung der gewissermaßen zwingenden Zusammengehörigkeit bestimmter Bilder mit Vorstellungen von ‚italianeity‘ – etwa der Vespa, eines Fiat Cinquecento oder eines Spaghetti-Tellers, aber auch besagter Leinwandikonen wie Marcello Mastroianni, Sophia Loren oder Monica Bellucci, die zugleich als ältestes Bond-Girl beschrieben wurde – wirft aus semiotischer Sicht schließlich die Frage auf, ob noch eine weitere Facette des ‚Ikonischen‘ für die Wirkung der Klischees eine Rolle spielt: ob die persuasive Funktion mit einer Art von Ikonizität, wie sie von Charles S. Peirce und Charles W. Morris theoretisch begründet wurde,[39] zusammenhängen könnte.[40] Es wäre dabei letztlich das wohl kaum abschließend zu entscheidende Problem zu behandeln, ob sich analog zu ‚ikonischen Zeichen‘ auch von ‚ikonischen Klischees‘ sprechen lässt, die bei aller Konventionalität doch einen nicht-arbiträren, nicht willkürlichen Anteil besitzen, also das visuelle Zeichen (Vespa) mit dem Bezeichneten (‚italianeity‘) eine wie auch immer geartete ‚natürliche‘ oder durch die Beschaffenheit von Signifikat (‚italianeity‘) und Signifikant (Vespa) motivierte Beziehung unterhält. Dass eine Vespa als ‚typisch italienisch‘ gilt, wäre dann etwa ein impliziter Verweis auf das meist gute Wetter in Italien oder das hohe Verkehrsaufkommen seiner Städte, das Zweiräder zu einem vorteilhaften Fortbewegungsmittel macht. Ähnlich sachlich nachweisbare, nicht auf Konventionen (wie Schönheit, Eleganz, Leichtigkeit, Jugendlichkeit usw.) beruhende Gesichtspunkte ließen sich fraglos auch für andere Ikonen der ‚italianeity‘ auflisten, doch lässt bereits das eine Beispiel erkennen, dass auf diesem Weg nur eine vergleichsweise unwichtige, da austauschbare Eigenschaft des ikonischen Objekts in den Blick kommt, in der dessen Klischeecharakter somit nicht aufgehen kann. Fruchtbarer für die Reflexion der Koppelung von Zeichen und Bezeichnetem in filmisch vermittelten Italien-Klischees scheint die Debatte um die Ikonizität dort zu sein, wo sie dezidiert die Zeichenbenutzung fokussiert,[41] insofern mit der Sprechsituation oder Pragmatik[42] das im Rahmen der kultursemiotischen Tourismusforschung bewährte Element der Marker in den Blick kommt.[43]

Culler und MacCannell haben ausführlich dargelegt, wie die touristische Kommunikation Sehenswürdigkeiten, „sights“, als solche markiert, mit Markern kennzeichnet, die zum Beispiel in Gestalt von Hinweisschildern oder Souvenirs, die das jeweilige Wahrzeichen reproduzieren, in Erscheinung treten können.[44] Derartige Marker verweisen demnach jedoch nicht nur darauf, dass etwas des Betrachtens würdig ist, sondern zeigen zudem auf den touristischen Ort, vermitteln auch: ‚das ist‘ z. B. Venedig oder San Francisco. Erst dadurch wird die Sehenswürdigkeit zu jenem Mehr, das den touristischen Reiz ausmacht, ist nicht nur eine Brücke, ein Turm oder ein Haus, sondern Teil eines umfassenderen, touristisch funktionalisierten Narrativs und Codes. Aus ähnlichen Gründen ist im Film eine Landschaft oder eine Stadt in den seltensten Fällen namenlos, vielmehr wird der Ort der Handlung durch Schrifteinblendungen oder Dialoge benannt. Solche Ortsangaben bilden nicht lediglich die Handlung anreichernde Informationen, sondern gleichfalls Marker, die touristisch wirksame Imaginationen aufrufen. Diese werden dann ihrerseits durch als Marker fungierende visuelle Klischees (Sonnenbrille, Fiat, Vespa, Vaporetto, Tauben, Dogenpalast, Kolosseum) bestätigt und zu einem Wahrnehmungsraster zusammengefügt.

So markiert in der Indiana Jones-Folge „Last Crusade“ die Einblendung einer Weltkarte zunächst die Reiseroute; ein Flugzeug im Vordergrund bewegt sich entlang einer roten Linie auf einen Zielpunkt zu, dem das Wort „Venice“ beigefügt ist. In der nächsten Einstellung ist zu sehen, wie Indiana und sein Begleiter Marcus an einem sonnigen Tag von einem Vaporetto steigen und dabei die Worte „Ah, Venice“ – „Yes“ (25:37) wechseln. Kurze Zeit später, nachdem der Held gemeinsam mit der Archäologin Elsa sein erstes Action-Abenteuer in Venedig erlebt hat, kämpft er sich anscheinend durch einen Abwasserkanal unter der Erde, um durch einen nach oben führenden Schacht auf einen Campo inmitten von Lokaltischen und sommerlich fein gekleideten Menschen ans Tageslicht emporzuklettern und dort lächelnd zu seufzen: „Ah, Venice“ (36:48). Nachdem er Elsa ebenfalls auf den Platz geholfen hat, flüchten die beiden, während ein Schwarm Tauben aufstiebt, springen auf ein elegantes Rivaboot und liefern sich eine aktionsreiche Verfolgungsjagd mit ihren Widersachern. Wenige Filmminuten darauf küssen sich Indiana und Elsa so übertrieben leidenschaftlich im Hotelzimmer, dass es komisch wirkt; während sie aufs Bett sinken, tönt durch das geöffnete Fenster der Gesang eines Gondoliere. Darauf zeigt die Kamera den Kanal mit dem rudernden Sänger, der in seiner Gondel ein Paar spazieren fährt, und dann wieder den nun in Richtung des Publikum schauenden Indiana, der noch einmal bekräftigt: „Ah, Venice“ (44:35).

Auf der Ebene der Sprachhandlung bringt der dreimalige, sich in seiner Komik steigernde Ausruf zum Ausdruck: „Seht her, das ist Venedig!“ Die sprachliche Markierung lässt die visuellen Zeichen (das Vaporetto, die Riva, die Gondel, die Tauben usw.) zu weiteren Markern werden und situiert diese medienübergreifend in ein den Zuschauenden vertrautes Wahrnehmungsraster, das mit der Bedeutung ‚italianeity‘ (in der venezianischen Variante) verbunden ist und in dem alle Zeichen klischeehaft werden. Die visuellen Klischees werden auch hier synchron durch musikalische bekräftigt und deuten auf Eigenschaften des Ortes, die als typisch wahrgenommen oder bestätigt werden sollen, etwa Venedig in seiner Eigenschaft als Stadt der Liebe. Deutlich dürfte bereits anhand der wenigen Szenen geworden sein, dass touristisch Interessantes dabei mit einem persuasiven Zusatz versehen wird, insofern es in den narrativen Zusammenhang der Filmhandlung – und dazugehöriger filmischer Klischees (z. B. des Liebes- und Abenteuerfilms) – eingebunden wird. Wie Filme zugleich mit der Funktionalisierung von genrespezifischen Klischees neue ‚ikonische‘ Bilder in allen drei skizzierten Bedeutungen schaffen können – Bilder, die optisch reizvoll, symbolisch oder in anderer Weise bedeutungsgeladen sowie fest mit zum Ort gehörenden Imaginarien verbunden sind, mag ein Blick auf „Spectre“ veranschaulichen.

Der Film setzt zunächst fiktionsinterne Markierungen für Bond, indem er zeigt, wie man sich in London in der Zentrale des MI6 darüber klar wird, dass 007 den Aston Martin DB10 – ein Bond-Zeichen – entwendet hat: Anstelle des Fahrzeugs findet Q, der Technik- und Computerspezialist des Geheimdienstes, eine Flasche Champagner vor (29:03): ein weiteres Zeichen für Bond. In der nächsten Einstellung sieht der Zuschauer das vermisste Sportauto von hinten, die Kamera bewegt sich in Fahrtrichtung entlang einer von terracottafarbener Architektur und Palmen gesäumten Straße, führt den Blick durch einen Triumphbogen nach oben und zeigt schließlich ein von hohen Pinien gerahmtes Panorama aus zahlreichen Gebäuden und Monumenten, während die Einblendung „Rome“ (29:20) erscheint, woraufhin Bond, dessen konzentriertes Gesicht durch eine Sonnenbrille noch verschlossener wirkt, am Kolosseum vorbeifährt. So durch verschiedene Rom-Marker eingestimmt, gleitet das Publikum gewissermaßen mit dem Aston Martin in die nächste Szene auf den mit monumentalen Säulen versehenen Friedhof, wo 007 zum ersten Mal auf Lucia Sciarra, gespielt von Monica Bellucci, trifft. Es ist das Begräbnis ihres Mannes, an dessen Ende sich der Agent nach dem Weggang der anderen Besucher der Witwe nähert und mit ihr einen Dialog führt, den die Nahaufnahmen der Sprechenden in monumentale Bilder übersetzen. Den Höhepunkt der Inszenierung bildet der Moment, in dem die zuvor jeweils im Wechsel gezeigten Gesichter beider Leinwandikonen gemeinsam zu sehen sind (31:52). Mit der schwarz gekleideten, von Bodyguards umgebenen Lucia und der ansonsten aus Männern bestehenden Trauergesellschaft werden eine Vielzahl verschiedener, auch Filmgattungen zitierender Klischees aufgerufen, zu denen hier prominent die Phantasie ‚Mafia‘ gehört und die sich im Kontext der vorangehenden Szenen zu einem Bild von ‚italianeity‘ fügen.

3 Vom touristischen Zeichen zum Zeichen ‚Tourismus‘

Die Inszenierung des Tourismus als Motiv des Actionfilms verdiente eine eigene Betrachtung. Hier seien abschließend lediglich wenige Beispiele angesprochen, in denen den Helden Touristinnen und Touristen begegnen, die typische Aktivitäten ausführen und dabei nicht lediglich gezeigt werden. Sie werden darüber hinaus zu Zeichen, die sich in einer Haltung der Filme zum Tourismus verdichten. Das geschieht auf teils durchaus plakative Art wie in „Inferno“: Nach der Einblendung des Schriftzuges „Venice, Italy 2.49 PM“ (01:13:45) und einer Flugzeugaufnahme der Altstadt und deren bekannter Fischform sind die über den Markusplatz eilenden Helden Robert Langdon und Siena Brooks zu sehen, während sie sich gegenseitig Reiseführerwissen über den Ort mitteilen. Ihr Ziel ist der Balkon der Markusbasilika, wo sie eine Reiseführerin ansprechen, die ihnen trotz ihrer Beschäftigung mit einer Gruppe eine wichtige Information über die Quadriga gibt (01:14:44– 01:15:23) und damit einen entscheidenden Hinweis für den nächsten Schritt, den Robert und Siena bei ihrem Rätselraten unternehmen müssen, das wie in der Reihe gewohnt als eine Art Schnitzeljagd um Leben und Tod inszeniert wird. Mit dem Gesicht der kenntnisreichen jungen Führerin wird die Tourismusindustrie als Hüterin des kulturellen Wissens und selbstlose Helferin der Guten ins Bild gesetzt.

Etwas vielschichtiger bieten sich hinsichtlich des Tourismus-Motivs die Bond-Filme dar, die zumindest beispielhaft die Wandlung der Serie in Bezug auf das Thema veranschaulichen mögen. Dass sich die Handlung von „Moonraker“ bewusst auch an Touristen richtet, lässt sich schon deshalb vermuten, da Bond seine weibliche Widersacherin Dr. Goodhead recht ungeniert fragt, ob sie im Nobelhotel Danieli wohne (37:06). Die berühmte Bootsjagd auf dem Canal Grande, bei der 007 den Verfolgern in einer motorisierten Gondel entkommt, die sich zudem anschließend in ein Luftkissenfahrzeug verwandelt, mit dem der Held durch aufflatternde Tauben und an staunenden Bartisch-Gästen vorbei über den Markusplatz gleitet, während die Bösen wütend und unter Italien markierenden Ausrufen („stupido!“) fortbrausen bzw. ins Wasser fallen (38:28–41:15), umfasst verschiedene Typen von Touristen. Grob lassen sich die auf der Piazza gezeigten Statisten als sich dem Ort widmende Besucher beschreiben, während das Liebespaar auf der Gondel, die durch das Motorboot von Bonds Verfolgern in der Mitte entzwei geteilt wird, souverän, von Venedig scheinbar unbeeindruckt miteinander beschäftigt sind. Die Erstgenannten wirken mit ihren ungläubigen Gesichtern und unbeholfenen Gesten lächerlich. Im aberwitzig Klamaukhaften der Szene, das durch eine entsprechend schnelle Instrumentalmusik akzentuiert wird,[45] verkörpern sie den biederen Gegenpart zum Helden, eine ‚Normalität‘, auf deren Kosten die Komik erzeugt wird. Das Paar, das in seiner Umarmung von der Umwelt nichts mitbekommt, findet hingegen eine Art Komplizen in 007, der mit seiner Schnell-Gondel eine Kurve fährt, um die beiden nicht zu rammen. Zudem ruft das küssende Liebespaar auf der Gondel einen anderen Bond-Film auf, „From Russia with Love“, in dem Venedig zum ersten Mal in der Serie figuriert. Nicht nur wird Venedig in einer besonderen Weise die Stadt der Liebenden – deren Leidenschaft so ‚echt‘ ist, dass sie der Bewunderung für den Ort quasi keinen Raum lässt – auch verkörpern diese Touristen das Ideal des Nicht-touristisch-Seins, das seit jeher zum touristischen Code gehört.[46]

Ohne explizit Touristen zu zeigen, verweist auch die Verfolgungsjagd am Tiber, die Bond und sein Auto nach seiner Flucht aus dem „Spectre“-Quartier (44:14) in Szene setzt, auf eine (nicht nur) touristische Grunderfahrung, und zwar durch deren Negierung: Das Verkehrschaos und das damit zusammenhängende Klischee vom unbedarften italienischen Autofahrer wird demonstrativ nicht entfaltet, insofern die Episode nachts spielt und die Stadt somit zu einer störungsfreien Kulisse für die Action-Episode werden kann. Nur auf einen einsamen unbeteiligten Fahrer – klischeehaft in einem Fiat Cinquecento sitzend und Verdi hörend – trifft Bond, doch diese ‚italianeity‘ führt nicht in eine typische Situation, die den Touristen als Unterlegenen dastehen lassen würde. Nicht der Römer zwingt dem Besucher seinen Fahrstil auf, sondern umgekehrt schiebt Bonds Wagen den Cinquecento so lange vor sich her, bis dieser in einer Parkbucht zum Halten kommt (46:16–46:50). Wenngleich der Bond-Film früherer Zeiten Touristinnen vordergründig lächerlich macht – womit ebenfalls ein gängiges Element des touristischen Codes selbst verarbeitet wird[47] – scheint er doch durch eine vielseitig aufgefächerte affirmative Haltung zum Tourismus geprägt. In späteren Geschichten wie „Casino Royale“ oder „Spectre“ fehlt der Spott; die Helden gehen, auch wenn sie von Touristen umgeben sind und sich teils selbst touristisch verhalten, vollkommen in ihrer jeweiligen Aufgabe auf – und werden gerade damit zu jenen unabhängigen Reisenden, die wohl die meisten Touristen sein wollen.

Published Online: 2023-11-14
Published in Print: 2023-11-08

© 2023 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 19.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/qufiab-2023-0005/html
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