Abstract
In 832, the Frankish emperor Lothar I promulgated a capitulary in the royal palace of Pavia („Hlotharii capitulare Papiense“) confirming selected chapters of the capitularies of his predecessors Charlemagne and Louis the Pious. These chapters are mostly cited verbatim, but some (chs. 3, 12, 13) seem to have no equivalent in earlier capitularies and are therefore usually considered to be new provisions by Lothar himself. The article focuses particularly on ch. 13 containing provisions for the office of notary. It includes a clause that has been interpreted as a prohibition against notaries in the service of counts writing charters outside their own county. This article argues for an alternative interpretation: that the chapter aims only to ensure that transfers of property certified by notaries are always certified in the region in which the property is located. Moreover, the chapter very likely refers to a decree by Louis the Pious of 818/819 („Capitula legibus addenda“, ch. 6). It thus emerges that ch. 13 of the „Capitulare Papiense“ does in fact take up a provision by Lothar’s predecessors, and the same can be suggested for ch. 12. According to the latter chapter, unfree people are ineligible to attain their freedom based on the 30-year term of Roman law if one of their parents was unfree. This coincides largely with a known provision ascribed to Louis the Pious in the „Liber Papiensis“, which has not hitherto been connected with Lothar’s capitulary. It can thus be considered the model, adopted and slightly modified by Lothar, for ch. 12. These new findings make it highly probable that ch. 3, for which no source has yet been identified, also repeats an older provision of Charlemagne or Louis the Pious, now lost.
Seit einigen Jahren wird an der Universität zu Köln die Neuedition der fränkischen Kapitularien ab 814 vorbereitet.[1] Der erste Band wird die fränkischen Herrschererlasse der Jahre 814 bis 840 umfassen. Vorrangig wird er die Kapitularien Kaiser Ludwigs des Frommen enthalten. Daneben werden aber auch die bis 840 entstandenen Kapitularien seines Sohnes Lothars I. ediert, von denen mit dem „Hlotharii capitulare Papiense“ ein Herrschererlass aus dem Jahr 832 ins Zentrum dieses Aufsatzes gestellt werden soll. In der Diskussion um das italienische Notariat im frühen Mittelalter spielt ein Beschluss des Textes (Kapitel 13) eine zentrale Rolle. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll eine neue Interpretation dieses Kapitels zur Diskussion gestellt werden, die auf einem anderen Verständnis der rechtlichen Regelung beruht. Zugleich sollen bisher nicht berücksichtigte Rezeptionsvorlagen für dieses und ein weiteres Kapitel vorgestellt werden, die das Verständnis des „Hlotharii capitulare Papiense“ weiter schärfen können. Rezeptionsgeschichtliche Überlegungen deuten zudem auf ein Deperditum, ein verlorenes Kapitular Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen, hin.
Im Folgenden gilt es erstens, den Hintergrund des italienischen Notariats kurz anhand der normativen Quellen zu beleuchten. Zweitens sollen das „Hlotharii capitulare Papiense“, seine Datierung, sein Inhalt und seine Überlieferung vorgestellt und seine Vorlagen diskutiert werden. Auf dieser Grundlage sollen drittens die rechtliche Bedeutung und die Rezeptionsvorlage von Kapitel 13 über die Notare analysiert werden. Abschließend und viertens sollen die Beobachtungen zusammengefasst und die Konsequenzen für die Interpretation des Kapitulars und für das italienische Notariat aufgezeigt werden.
1 Das italienische Notariat in normativen Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts
Wie bei vielen anderen Rechtsphänomenen auch lässt sich das italienische Notariat in den Quellen nur ansatzweise beobachten. Das gilt insbesondere für die frühe Zeit bis in das erste Drittel des 9. Jahrhunderts. Weder der „Edictus Rothari“ und seine Ergänzungen durch spätere langobardische Könige noch die Kapitularien der Karolinger hatten jemals den Anspruch oder das Ziel, das Notariatswesen umfassend zu regeln. Die Urkunden zeigen zwar Notare in der Praxis, doch offenbaren sie meist nur das Resultat notariellen Handelns und geben weniger Auskunft über das dahinterstehende Handeln selbst und seine Wirkmechanismen. Dieses undeutliche Bild der Ausgangslage macht eine Beurteilung der Regelung des „Hlotharii capitulare Papiense“ nicht leicht. Nur wenige normative Quellenzeugnisse bis 832 lassen sich zusammentragen. In den „Leges Langobardorum“ selbst kommen einschlägige Bezeichnungen wie notarius oder cancellarius überhaupt nicht vor.[2]
In fränkischer Zeit finden sich in einigen für Italien bestimmte Kapitularien Beschlüsse zu Notaren. Aus dem „Capitulare missorum“ aus dem Jahr 802 geht hervor, dass die Missi für die Auswahl der Notare zuständig waren und die Namen der ernannten Notare schriftlich festgehalten werden sollten.[3] Andreas Meyer schlussfolgert daraus, dass alle Notare auf diese Weise königlich beziehungsweise kaiserlich autorisiert waren, und schließt daher ältere Forschungsmeinungen aus, dass es auch kirchlich oder gräflich autorisierte Notare gegeben habe.[4] Das in den „Capitula ecclesiastica“ (810–813?) festgelegte Verbot des Urkundenschreibens für Presbyter sehen Mario Amelotti und Giorgio Costamagna als Indiz dafür, dass kirchliche Autoritäten ihren Notar nicht selbst aussuchen durften.[5] Allerdings richtet sich das Kapitel gegen das Wirken von Presbytern in weltlichen Angelegenheiten wie dem Urkundenschreiben und Gutsverwaltertätigkeiten und spricht daher die Frage, ob kirchliche Autoritäten sich selbst einen Laien als Notar aussuchen dürfen oder nicht, überhaupt nicht an.
Die Ernennung von Notaren durch Missi findet sich auch in einem späteren Kapitular (Boretius/Krause Nr. 202), das in seiner Zuordnung zu Lothar I. oder Ludwig II. umstritten ist. Boretius und Krause setzten sich in ihrer Edition über die von der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek (= HAB), Cod. Guelf. 130 Blank. (3. Viertel 9. Jh. [nach 855]) vorgenommene und von Pertz in seiner Edition übernommene Zuweisung an Ludwig II. hinweg und edierten es als Kapitular Lothars aus dem Jahr 832.[6] Während die ältere Forschung dieser Einschätzung größtenteils folgte,[7] konnte Mathias Geiselhart überzeugende Argumente dagegen vorbringen.[8] Die neue Kapitularienedition wird Geiselharts Urteil folgen. Interessant ist die Bestimmung trotzdem, da das Kapitel Zweifel weckt, ob die Missi stets für die Ernennung von Notaren zuständig waren oder nur dort, wo es noch keine gab.[9] Schließlich verfügt das Kapitular, dass die Missi nur dann tätig werden sollen, wenn es noch keine Notare gibt oder die angetroffenen Notare ungeeignet sind. Unerwähnt bleibt, bei wem die Schuld für solche Konstellationen zu suchen war. Haben die Missi selbst oder ihre Vorgänger in diesem Amt es versäumt, Notare zu ernennen, oder Notare ernannt, die sich als dem Amt nicht gewachsen erwiesen, oder ist dem örtlichen Grafen dieses Versäumnis anzulasten? Oder mussten beispielsweise Nachfolger für verstorbene Notare gefunden werden?
Das „Capitulare missorum“ von 802 kennt solche Feinheiten nicht. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob die Missi in der Praxis tatsächlich selbst die Kandidaten auswählten oder nicht lediglich vom örtlichen Amtsträger vorgeschlagene Kandidaten bestätigten oder verwarfen. Und es ist nicht auszuschließen, dass die Einschränkung, dass Notare nur dort eingesetzt werden sollen, wo es noch keine gab, im Jahr 802 zu einleuchtend und selbstverständlich war, um sie schriftlich zu fixieren. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob das Kapitel wirklich mit Meyer als Beweis gegen die Existenz anders autorisierter Notare gelesen werden muss.
Das Kapitular Ludwigs II. geht auch auf die Anforderungen an Notare ein, und zwar sollen diese in den leges gebildet und von tadellosem Ruf sein. Außerdem müssen sie einen Eid ablegen, dass sie weder Fälschungen noch das, was auf geheimer Absprache beruht, aufschreiben.[10] Ähnliche Anforderungen stellt auch das „Hlotharii capitulare Papiense“.[11]
Bereits das „Capitulare Mantuanum“ Karls des Großen aus dem Jahr 781 legt nahe, dass jeder Graf einen festen Notar zu seiner Verfügung haben soll.[12] Amelotti und Costamagna sehen hier die Keimzelle einer Kanzlei gelegt.[13] Dass nicht nur Grafen, sondern auch jeder Bischof und Abt über einen Notar verfügen soll, findet sich in Teilen der Überlieferung des Kapitulars von Thionville (805).[14]
Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich das italienische Notariat aus den wenigen Erwähnungen in den Kapitularien nur sehr grob skizzieren lässt und den einzelnen Quellenstellen und ihrer Interpretation jeweils eine sehr große Bedeutung zukommt. Letztendlich spricht aus allen Kapiteln das Bedürfnis nach einer Regulierung der Notariatspraxis mit dem Ziel, über sichere Beglaubigungsmittel rechtssichere Urkunden und somit Rechtsfrieden herbeizuführen.
Viele Indizien weisen auf eine enge Verbindung zwischen Notar und Graf hin. Unter der Prämisse, dass jeder Graf genau einen Notar zu seiner Verfügung hatte, dürfte die Zahl der insgesamt im karolingischen Italien gleichzeitig tätigen Notare ebenso überschaubar gewesen sein wie die Anzahl der Grafen selbst. Allerdings beherrschten manche Grafen mehrere Grafschaften.[15] Ob ein Graf in solchen Fällen einen einzigen Notar für alle Grafschaften zur Verfügung hatte, oder für jede Grafschaft einen eigenen, lässt sich aus den Quellen nicht eindeutig herauslesen. Da das Amt des Notars im Gegensatz zum Grafenamt der langobardischen Elite offenstand,[16] ist es naheliegend, dass für diese Aufgabe in der jeweiligen Grafschaft Ansässige mit entsprechenden Ortskenntnissen ausgewählt wurden. Die Annahme einer engen Verbindung zwischen Graf/Grafschaft und Notar wird auch durch Kapitel 13 des „Hlotharii capitulare Papiense“ unterstützt, in dem vom Grafen der Grafschaft, in der ein Notar sich aufhalten muss, die Rede ist.[17] Dies deutet eher auf eine Zuordnung zum Territorium als zur Person des Grafen hin. Letzte Sicherheit in der Frage lässt sich jedoch nicht erzielen.
2 Das „Hlotharii capitulare Papiense“
Zunächst gilt es aber, das Kapitular selbst genauer in den Blick zu nehmen. Das insgesamt 14 Kapitel umfassende Kapitular wird von einer in drei Handschriften überlieferten Inskription einer Versammlung Lothars I. in Pavia unter der 10. Indiktion zugeschrieben. Eine Handschrift überliefert zusätzlich am Ende des Textes eine Datierungszeile auf den Februar des 19. Regierungsjahres Ludwigs des Frommen und des 13. Regierungsjahres Lothars I., sodass eine Entstehung unter Lothar im Februar 832 als gesichert gelten kann.[18]
Die Versammlung ist eine der ersten nachweisbaren Aktivitäten Lothars in Italien, nachdem dieser im Anschluss an die gescheiterte erste Rebellion gegen seinen Vater dorthin hatte zurückkehren müssen.[19] Am 20. Februar des Jahres bestätigte Lothar in Mantua dem Kloster Farfa eine Schenkung seines Vaters.[20] Ob die Versammlung in Pavia innerhalb des Februar 832 vor oder nach der Urkunde für Farfa anzusetzen ist, muss offen bleiben. Danach ist Lothar überhaupt erst wieder am 30. November in Pavia nachweisbar.[21] Aufgrund der wenigen bekannten Aktivitäten Lothars in Italien im Jahr 832 ist das Verhältnis zwischen Lothar und den italienischen Großen schwierig zu beurteilen. Der Interpretation des Kapitulars aus Pavia kommt dabei eine große Bedeutung zu.
Das Kapitular enthält 13 rechtliche Bestimmungen, die nach thematischen Kriterien geordnet sind.[22]
Anordnung, nicht benötigte Kirchen abzureißen und die übrigen angemessen auszustatten
Strafen für das Blutvergießen in Kirchen, gestaffelt nach dem Weihegrad des Opfers
Regelungen für die Buße von Priestern und Diakonen, die ihren Weihegrad verloren haben
Alle Beteiligten einer Gerichtsversammlung sollen nüchtern sein
Beteiligte an einem Prozess müssen das Urteil entweder annehmen oder anfechten
Bestrafung von Verschwörungen
Schutz freier Armer vor der Bedrückung durch Mächtige
Befehl, die königlichen Missi in der Durchführung ihrer Aufträge zu unterstützen
Strafen für die Verweigerung der Annahme rechtmäßiger Münzen und für Münzfälschungen
Vorschriften für die Bannung von Zeugen vor Gericht und für den Umgang mit widersprüchlichen Zeugenaussagen
Unfreien und Aldionen (Halbfreie nach langobardischem Recht) mit einem unfreien Elternteil wird die Erlangung des Freiheitsstatus nach Ablauf der 30-Jahres-Frist nicht gestattet
Regelungen für die Notariatspraxis
Das letzte, 14. Kapitel befiehlt, dass alle vorgenannten Auszüge aus den Kapitularien der Vorgänger Lothars wie Gesetze geachtet und befolgt werden sollen.[23]
Umstritten ist, welche Aussagen über das Verhältnis zwischen Lothar I. und den italienischen Großen aus dem Dokument geschlossen werden können. Wie viele italienische Rechtshistoriker sieht auch François Louis Ganshof in dem Kapitular ein Nachgeben Lothars I. gegenüber den italienischen Großen, die seit Ludwig dem Frommen das Ziel verfolgt hätten, die in Italien geltenden fränkischen Kapitularien zu beschränken.[24] Diese These fußt auf der Interpretation von Kapitel 14 in dem Sinne, dass diese aus den Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen zusammengestellte Liste ältere für Italien gültige Kapitularien außer Kraft setze und den Grundstein für ein „Capitulare Italicum“ gebildet habe. In dieses hätten mit dem Konsens der italienischen Großen nur diejenigen Kapitularien beziehungsweise Kapitel aufgenommen werden sollen, die weiterhin im Regnum Italiae Gültigkeit behalten sollten. Aus diesem „Capitulare Italicum“ sei schließlich der „Liber Papiensis“ hervorgegangen. Die neuere Forschung spricht sich jedoch gegen diese Theorie aus.[25] Vielmehr betone das Kapitular lediglich, dass die hier zusammengestellten Kapitel in Italien beachtet werden sollen, ohne eine Aussage über die bisher gültigen Kapitularien zu treffen.[26] Dies spricht auch gegen die Interpretation Jörg Jarnuts, der in dem Kapitular ein Zeichen Lothars I. sieht, dass dieser selbst bestimmen wollte, welche der Kapitel seines Vaters und Großvaters in seinem (Teil-)Reich gelten sollten.[27]
Eine solche Bestätigung von älteren Kapiteln wurde auch als politisches Signal gedeutet; immerhin betonte Lothar I. hier nicht nur die Verbundenheit mit seinem Großvater und seinem Vater, gegen den er anderthalb Jahre zuvor rebelliert hatte, sondern stellte sich auch in die Tradition zweier Kaiser, die über das gesamte Frankenreich und Italien geherrscht hatten bzw. herrschten. Bougard und Geiselhart sehen daher in dem Kapitular einen Versuch Lothars, sein Festhalten am Gedanken der Reichseinheit zu betonen und sich als geeigneten Nachfolger und Gesamtherrscher zu inszenieren.[28]
Das Kapitular wird in insgesamt elf Handschriften überliefert. Fünf davon enthalten das hier besonders interessierende Kapitel 13.
Zuletzt ediert wurde das Stück von Alfred Boretius und Viktor Krause. Britta Mischke bereitet das Stück für die Neuedition vor, die bald erscheinen wird. Boretius und Krause stützten ihre Edition auf sechs Handschriften,[29] kannten aber das 1883 von Carlo Cipolla publizierte und 1904 durch einen Brand zerstörte Turiner Fragment nicht.[30]
Geiselhart betont, dass über die Hälfte der Kapitel ältere Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen wiederhole.
Fasst man die Aussage von Kapitel 14, dass die vorangehenden Kapitel aus Kapiteln Karls und Ludwigs exzerpiert worden seien,[31] in einem engeren Sinn auf, würde dies bedeuten, dass für diejenigen Kapitel des „Hlotharii capitulare Papiense“, für die bisher keine Vorlage gefunden wurde, entsprechende Deperdita anzusetzen wären. Konkret geht es um Kapitel 3 über die Bußen abgesetzter Priester und Diakone, Kapitel 12 über die Freiheit und Kapitel 13 über die Notare. Wenn man die Suche nach möglichen Quellen jedoch nicht nur auf wörtliche Wiederholungen älterer Verfügungen beschränkt, sondern auf inhaltliche Entsprechungen mit diesen erweitert, bieten sich durchaus auch bereits bekannte Bestimmungen als mögliche Vorlagen an.
Überlieferung des „Hlotharii capitulare Papiense“ nach Mordek[32]
Handschrift |
Datierung |
Herkunft |
Umfang |
Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Lat. qu. 931 (z. Zt. Krakau, Bibliotheka Jagiellónska) |
9. Jh., Ende oder 9./10. Jh. |
Alemannien (St. Gallen?) |
c. 11 |
Heiligenkreuz, Stiftsbibliothek, 217 |
10. Jh., Ende |
Südostdeutschland |
c. 11 |
Ivrea, Biblioteca Capitolare, XXXIV + Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, Fragment (†)[33] |
um 830 |
Pavia (Fragment: Oberitalien, Bobbio oder Pavia) |
c. 1–10 (Fragment c. 11–14) |
München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 3853 |
10. Jh., 2. Hälfte |
Süddeutschland (Augsburg?) |
c. 11 |
München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 6360 |
10. Jh., etwa 3. Drittel |
Freising oder Südkärnten |
c. 11 |
München, Bayerische Staatsbibliothek, Lat. 19 416 |
9. Jh., Ende |
Südbayern |
c. 3–5, 7–14[34] |
Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 4613 |
10. Jh. |
Italien |
c. 1–8, 11–14 + 4 Zusatzkapitel |
Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, a. IX. 32 |
11. Jh., 1. Hälfte |
Salzburg oder Köln |
c. 1 |
Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi F. IV. 75 |
um 1000 |
Mittelitalien (wohl S. Paolo fuori le Mura, Rom) |
c. 1–14 |
Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5359 |
9. Jh., 2. Hälfte |
Oberitalien (Verona?) |
c. 1–14 |
Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 130 Blank. |
9. Jh., 3. Viertel (nach 855) |
Oberitalien |
c. 13, 3, 11, 12, 14 |
Vorlagen des „Hlotharii capitulare Papiense“ nach Geiselhart[35]
Kapitel |
Vorlage |
Inhalt |
1 Anfang |
„Capitulare missorum“ 803 (BK[36] 40) c. 1 |
Kirchenabriss und Kirchenausstattung |
2 |
„Capitula legibus addenda“ 818/819 (BK 139) c. 2 |
Blutvergießen in Kirchen |
3 |
– |
Bußen abgesetzter Priester und Diakone |
4 |
„Capitulare missorum“ 803 (BK 40) c. 15 |
Gerichtswesen |
5 |
„Capitulare missorum“ in Theodonis villa datum secundum, generale 805 (BK 44) c. 8 |
Gerichtswesen |
6 |
„Capitulare missorum in Theodonis villa datum secundum, generale“ 805 (BK 44) c. 10 |
Verschwörungen |
7 |
„Capitulare missorum in Theodonis villa datum secundum, generale“ 805 (BK 44) c. 16 |
Benachteiligung Bedürftiger |
8 |
„Capitula legibus addenda“ 818/819 (BK 139) c. 16 |
Missi |
9 |
„Capitula legibus addenda“ 818/819 (BK 139) c. 18 |
Münzwesen |
10 |
„Capitula legibus addenda“ 818/819 (BK 139) c. 19 |
Münzwesen |
11 Anfang |
„Capitulare Olonnense“ 822/823 (BK 157) c. 6 |
Gerichtswesen |
12 |
– |
Freiheit |
13 |
– |
Urkunden |
14 |
– |
Eschatokoll |
Kapitel 12 des Kapitulars bestimmt, dass ein Sklave auch nach 30 Jahren nicht frei sein könne, wenn sein Vater oder seine Mutter unfrei gewesen sei. Dasselbe gelte für die Aldionen.[37] Eine direkte Vorlage ist bisher nicht vorgeschlagen worden. Die Kapitularienedition von Boretius und Krause und die von Hubert Mordek neu entdeckten und in seiner Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta abgedruckten Kapitularien enthalten keine entsprechende Bestimmung Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen. Dennoch findet sich bei Boretius in der Kategorie „Capitula singillatim tradita et Hludowico Pio vel Hlothario adscripta“ ein Kapitel, dessen Inhalt erstaunlich gut mit Kapitel 12 des „Hlotharii capitulare Papiense“ übereinstimmt.[38] Das von Boretius als eines von mehreren einzeln überlieferten „Capitula Italica“ edierte Kapitel ist lediglich in der Handschrift aus Ivrea, die auch das „Hlotharii capitulare Papiense“ tradiert, und im „Liber Papiensis“ überliefert. Boretius äußert sich nicht dazu, ob er eine Zuweisung an Ludwig oder an Lothar für wahrscheinlicher hält. Claudio Azzara und Pierandrea Moro gehen im Rahmen ihrer italienischen Übersetzung ebenfalls nicht auf die Frage ein, welchem der beiden Kaiser das Kapitel zuzuschreiben sei.
Die Überlieferung hält nur dürftige und zudem noch widersprüchliche Hinweise auf die Provenienz des Kapitels bereit. In der Handschrift aus Ivrea ist das Kapitel nach Kapitel 2 der „Karoli Magni notitia Italica“ (Boretius Nr. 88) eingeschoben.[39] Da es jedoch in der übrigen Überlieferung der „Notitia Italica“ fehlt,[40] wurde es mit großer Wahrscheinlichkeit erst vom Kopisten der Ivrea-Handschrift oder deren Vorlage an dieser Stelle inseriert. Die Urheberschaft Karls des Großen ist daher mehr als fraglich.
Im „Liber Papiensis“ ist das Kapitel hingegen in den Kapitularienteil Ludwigs des Frommen eingeordnet, in dem es allerdings am Ende inmitten von verschiedenen Einzelkapiteln steht, die nicht alle von Ludwig verabschiedet wurden.[41] Die Zuordnung zu Ludwig dem Frommen ist also nicht eindeutig, aber doch sehr wahrscheinlich. Die davon abweichende Zuschreibung an Lothar I. in einer einzigen Handschrift des „Liber Papiensis“, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 89 sup. 86 (2. Hälfte 11. Jh., Italien), scheint auf einem Missverständnis zu beruhen, da die Reihenfolge der Texte darin genau dieselbe ist wie in der übrigen Überlieferung des „Liber Papiensis“; lediglich der Beginn des Kapitularienteils Lothars wurde hier bereits an einer früheren Stelle angesetzt.[42]
Die Zuordnung zur Regierungszeit Ludwigs des Frommen im „Liber Papiensis“ erfolgte erst mit deutlichem zeitlichen Abstand im 11. Jahrhundert.[43] Zuschreibungen im „Liber Papiensis“ können zwar fehlerhaft sein, wie das darauffolgende Kapitel einer Synode Karls des Großen beweist.[44] Sie treffen aber in den allermeisten Fällen zu. Außerdem erfolgte hier die Zuweisung bewusst, während offenbleiben muss, ob dieses Kriterium beim Einschub in die „Karoli Magni notitia Italica“ überhaupt eine Rolle spielte oder hier nicht inhaltlich-rechtliche Motive ausschlaggebend waren. Auch Kapitel 14 des „Hlotharii capitulare Papiense“ spricht dafür, dass Kapitel 2 der „Capitula Italica“ von Karl dem Großen oder Ludwig dem Frommen stammt, was eine Urheberschaft Lothars I. zwar nicht ausschließt, aber weniger wahrscheinlich macht. Betrachtet man zunächst nur die Überlieferungssituation, scheint die im „Liber Papiensis“ erfolgte Zuschreibung an Ludwig den Frommen die überzeugendste Möglichkeit zu sein.
Eine inhaltliche Beurteilung weist in dieselbe Richtung. Das Kapitel hält fest, dass diejenigen, die versichern, sie seien seit 30 Jahren Freie, deswegen nicht frei seien, außer sie stammen von freien Eltern ab oder sie können eine Freilassungsurkunde vorweisen. Die 30-Jahres-Frist stammt aus dem spätrömischen Recht.[45] Eine entsprechende Regelung findet sich in mehreren nachrömischen Reichen. Im Langobardenreich nahmen sowohl König Grimoald als auch König Aistulf in ihren Gesetzen darauf Bezug.[46] Die „Lex Visigothorum“ enthält ebenfalls diese Frist.[47] Im Frankenreich nennt die Formelsammlung aus Angers die 30-Jahres-Frist.[48] Der Teil der Formelsammlung, der auf die Frist Bezug nimmt, stammt noch aus dem 6. Jahrhundert.[49] Spätere fränkische Formelsammlungen enthalten die Frist nicht mehr.[50] Im Frankenreich sollte sich vielmehr das Prinzip der ärgeren Hand durchsetzen, nach dem eine Person unfrei ist, wenn ein Elternteil unfrei ist, und dies unabhängig von irgendwelchen Fristen.[51] Verschiedene Formelsammlungen und Kapitularien enthalten entsprechende Regelungen.[52] Auch Kapitel 2 der „Capitula Italica“ folgt dem Prinzip der ärgeren Hand, obwohl die Formulierung nicht eindeutig ist: Diejenigen, die sich auf die 30-Jahres-Frist berufen, sollen dadurch nicht frei sein, sofern sie nicht von einem freien Vater oder/und (?) einer freien Mutter abstammen („nisi ingenuo patre vel matre nati sint“). Wenn man das „vel“ klassisch mit „oder“ übersetzt, würde es bedeuten, dass es für den Wechsel in den Freienstatus nach Ablauf der Frist genügte, wenn mindestens eines der beiden Elternteile frei war. Das würde nicht nur dem fränkischen Prinzip der ärgeren Hand widersprechen, sondern wäre auch ein wesentlicher Unterschied zum langobardischen Recht, nach dem diese Möglichkeit auch den Nachkommen zweier Unfreier offenstand:[53] Es ist schwer vorstellbar, dass ein Gesetzgeber die langobardische Rechtstradition ohne Begründung derart einschränken, sie aber auch nicht durch das nördlich der Alpen geltende Recht ersetzen wollte. Wahrscheinlicher ist daher die zwar seltenere, aber dennoch mögliche Übersetzung des „vel“ mit „und (auch)“:[54] Damit entspricht die Bestimmung dem Prinzip der ärgeren Hand. In diesem Kapitel zeigt sich daher das Bestreben, eine langobardische Regelung zugunsten der fränkischen Regelung desselben Rechtsphänomens zurückzudrängen. Auf die langobardische Regelung wurde dabei durch die Erklärung ihrer Nichtigkeit explizit Bezug genommen.[55]
Wie sein Biograph Thegan berichtet, setzte sich Ludwig der Fromme zu Beginn seiner Herrschaft aktiv und intensiv für diejenigen ein, die durch Fehlverhalten der Amtsträger unter seinem Vater ungerechtfertigt ihre Freiheit verloren.[56] Auch in den Kapitularien, Urkunden und anderen Quellen lässt sich dieses Bemühen fassen.[57] Interessanterweise verschärfte Ludwig der Fromme in den ersten Jahren seiner Herrschaft aber auch die Auflagen, unter denen Angeklagte ihre Freiheit verteidigen konnten, indem er die Zahl der nötigen Eidhelfer veränderte.[58]
In dieses Bemühen Ludwigs um den Schutz vor unrechtmäßiger Verknechtung, Wiederherstellung illegal entzogener Freiheit und die Möglichkeiten, die Freiheit vor Gericht nachzuweisen, lässt sich Kapitel 2 der „Capitula Italica“ gut einreihen. Auch wenn die Frage nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann, spricht viel dafür, dass der „Liber Papiensis“ das Kapitel berechtigterweise Ludwig dem Frommen zuschrieb. Die in Kapitel 14 des „Hlotharii capitulare Papiense“ enthaltene Aussage bewahrheitet sich also auch in diesem Fall. Lothar passte die Bestimmung lediglich weiter an die italienischen Verhältnisse an, indem er in einem Nachsatz ihre Gültigkeit auch für die Aldionen festlegte.[59]
Auch das einzige Kapitel der Liste, das augenscheinlich von Lothar selbst zu stammen scheint, da es zu Anfang aus Lothars eigenem „Capitulare Olonnense“ von 822/823 wörtlich zitiert (c. 11),[60] ist in seinem Kern eine Übertragung einer fränkischen Regelung auf Italien. Wie Geiselhart herausgearbeitet hat, handelt es um die Übernahme prozessrechtlicher Reformen Ludwigs des Frommen.[61] Zwei Kapitularien Ludwigs des Frommen beschäftigen sich mit dem Thema. Einerseits findet sich eine entsprechende Regelung in Kapitel 1 der „Capitula legi addita“ von 816 und andererseits leicht verändert in Kapitel 10 der „Capitula legibus addenda“ von 818/819.[62] Da die „Capitula legibus addenda“ mehrfach in Lothars Kapitular rezipiert werden, dürfte dieses Kapitular auch als materielle Quelle von Kapitel 11 des „Hlotharii capitulare Papiense“ anzusprechen sein. Damit gehen Kapitel 2, 8–11 und, wie noch zu zeigen ist, auch c. 13 auf dieses bedeutende Kapitular Ludwigs des Frommen zurück.[63]
Die Aussage von Kapitel 14 kann somit für zwölf der 13 Kapitel verifiziert werden. Es liegt daher sehr nahe, dass auch Kapitel 3, für das bisher keine Vorlage bekannt ist, auf einem Kapitular von Lothars Vater oder Großvater beruht. Wenn keine Vorlage gefunden werden kann, ist es in dem Fall mehr als legitim, aus dem Kapitel ein entsprechendes Deperditum zu erschließen, wobei die Frage offen bleibt, wem der beiden Kaiser ein solchen Deperditum zuzuweisen wäre.[64]
Kapitel 3 regelt den Umgang mit büßenden Priestern und Diakonen, die ihre Weihe verloren haben.[65] Falls in der Diözese ein Kloster vorhanden ist, soll die Buße dort verbracht werden; ansonsten sollen sich diese Personen in ihrem angestammten Pfarrbezirk aufhalten. Sofern möglich, sollen sie aus ihren eigenen Gütern mit Nahrung und Kleidung versorgt werden, müssen diese aber von einem Verwalter bewirtschaften lassen und dürfen diese Güter nicht betreten. Bei Verfehlungen droht zunächst die Prügelstrafe und bei weiteren Verstößen das Wegschließen an einem Ort, „an dem sie Buße leisten, ob sie wollen oder nicht“.
3 Kapitel 13 und die Notare
Das 13. Kapitel, das hier schon im Wortlaut der künftigen Neuedition von Britta Mischke präsentiert werden kann, enthält mehrere Regelungen für cancellarii und notarii.
„Ut nullus cangellarius pro ullo iudicato aut scripto aliquid amplius accipere audeat, nisi dimidiam libram argenti de maioribus scriptis; de minoribus autem infra ipsa dimidia libram, quantum res exposcit et iudicibus rectum videtur, accipiat. De orfanis autem vel ceteris pauperibus, qui exsolvere hoc non possunt, in providentia comitis sit, ut nequaquam inde aliquid accipiat.
Notarii autem hoc iurare debent, quod nullum scriptum falsum faciant nec in occulto; nec scriptum aliquis faciat de uno commitatu in alio nisi per licentiam illius commitis, in cuius commitatu stare debet. Si vero necessitas itineris aliquem conpullerit aut infirmitas gravis, secundum capitulare genitoris nostri faciat. Quodsi quis aliter fecerit, inanis et vacuus appareat.“
Ob es sich bei den cancellarii und notarii um verschiedene Funktionen beziehungsweise Personengruppen handelt, ist umstritten. In diesem Kapitel sind die Regelungen über Gebühren auf den cancellarius bezogen, während die Punkte, die die Ausstellung von Urkunden im engeren Sinne betreffen, von den notarii zu beachten sind. Manche Forscher wie Bougard oder Michele Ansani gehen von zwei verschiedenen Funktionen aus.[66] Andere wie Meyer hingegen verstehen den cancellarius als einen notarius im Dienst eines Grafen, Bischofs oder Abts.[67] Als Beleg für diese Überlegung dient Kapitel 12 der „Memoria Olonnnae comitibus data“, das die cancellarii als diejenigen bezeichnet, die die Urkunden vor dem Grafen schreiben sollen.[68] Daraus folgt, dass ein cancellarius immer auch notarius war, aber nicht jeder notarius auch cancellarius sein musste. Wenn die cancellarii also nur eine Teilgruppe der notarii ausmachen, stellt sich die Frage nach den weiteren notarii. Hier wäre beispielsweise an notarii im Dienste des Königs zu denken.
Bei Kapitel 13 des „Hlotharii capitulare Papiense“ wirft ein solches Verständnis der beiden Begriffe jedoch zwei neue Probleme auf: Erstens stellt sich die Frage, warum die Gebührenordnung nur für einen Teil der notarii gelten soll, und zweitens ist befremdlich, dass bei den Regelungen, die dann für alle notarii – auch diejenigen die nicht im Dienste eines Grafen stehen – gelten sollen, von Grafschaften und sogar einer „licentia … comitis“ die Rede ist. Auf den ersten Blick scheinen die notarii dieses Kapitels vielmehr auch im Dienste eines Grafen zu stehen.
Die Gebühren sind gestaffelt nach maiora scripta und minora scripta. Für die größeren Schriftstücke darf nicht mehr als ein halbes Pfund Silber verlangt werden, für die kleineren nur weniger als ein halbes Pfund, je nachdem, wie viel die Sache verlangt und es den Richtern richtig erscheint. Die Regelung ist reichlich unspezifisch. Zunächst bleibt offen, wonach sich die Einteilung in größere und kleinere Schriftstücke bemisst. Ist der Umfang des Schriftstücks gemeint, der Komplexitätsgrad der Regelung oder geht es ähnlich wie beispielweise bei heutigen Notarsgebühren für Schenkungen um den Wert der Güter? Ebenso wenig ist festgelegt, ab welcher Grenze ein Schriftstück zu den maiora scripta zählt. Die Gebühren selbst sind auch sehr unpräzise definiert. Nicht mehr als ein halbes Pfund (≤ ½ Pfund) für die maiora scripta und weniger als ein halbes Pfund (< ½ Pfund) für minora scripta kann sehr nahe beieinanderliegen. Nur dass ein Schriftstück mehr als ein halbes Pfund (> ½ Pfund) kostet, wird definitiv ausgeschlossen. Bei allem anderen wird ein großer Ermessensspielraum deutlich, dessen Auslegung Aufgabe der iudices ist. Ihre Aufgabe war es, die rechtmäßige Gebühr festzulegen. Die „Memoria Olonnae comitibus data“ legte bereits fest, dass vor der Leistung des legitimum precium kein Geld für eine carta verlangt werden darf.[69]
Für die konkreten Gebühren lässt sich keine Vorlage finden, weder in den Kapitularien Karls und Ludwigs noch in den Erlassen Lothars selbst. Doch bedeutet dies nicht zwingend, dass die Grenze von einem halben Pfund Silber neu in dem Sinne ist, dass sie von Lothar auf der Versammlung in Pavia eingeführt wurde. Ebenso gut ist es möglich, dass eine schon bestehende Gebührenregelung hier lediglich zum ersten Mal schriftlich fixiert wurde. Auch könnte es sich um die älteste erhaltene Überlieferung einer schon in einem früheren Kapitular fixierten Regel halten, das nicht auf uns gekommen ist.
Es schließt sich eine Befreiung von den Gebühren für Waisen und andere Arme an, für die sich ebenfalls keine konkrete Vorlage ausmachen lässt, zumindest nicht im Hinblick auf Gebühren für Urkunden.[70] Der Grundgedanke allerdings, dass Waisen – häufig auch Witwen – und anderen pauperes im Rahmen der Rechtspflege gewisse Erleichterungen zugestanden werden, findet sich häufig in fränkischen Kapitularien. Schließlich oblag dem Herrscher eine besondere Verantwortung für die Schwachen.[71]
In der zweiten Hälfte des Kapitels, die einige sprachliche Herausforderungen bereithält, werden die notarii adressiert. Die Notare sollen zunächst schwören, dass sie keine falschen Schriftstücke anfertigen. Inhaltlich ist der Teil des Notarseides wenig überraschend, auch wenn sich keine direkte Vorlage identifizieren lässt. Wiederholt wird das Verbot von Fälschungen in einem Kapitular Ludwigs II.[72] Nach diesem Verbot beginnen aber die sprachlichen Schwierigkeiten, die bereits mittelalterliche Kopisten herausforderten. Erstens wirft ein Numeruswechsel („faciant“ → „faciat“) die Frage auf, wo der Inhalt des Eides endet. Endet er bei „faciant“, bei „occultum“ oder bei „debet“? Zweitens ist die Interpretation der Pronomina „aliquis“ und „aliquem“ schwierig. Drittens stellt sich bei der verschachtelten Formulierung die Frage, welcher Graf beziehungsweise welche Grafschaft jeweils gemeint ist. Viertens ist zu überlegen, was genau – gesucht wird ein maskulines lateinisches Wort im Singular – „inanis et vacuus“ sein soll, wenn jemand anders verfährt als vorgeschrieben.
Die sprachlichen Schwächen machen den Teil des Kapitels nicht nur schwer verständlich, sondern ermöglichen auch, das Kapitel in unterschiedlicher Weise zu interpretieren. Die rechtshistorische Forschung interpretiert diese Passage größtenteils dahingehend, dass Notare in Italien in ihrer Mobilität eingeschränkt waren und im Regelfall nur in der Grafschaft, in der sie bestellt waren, Schriftstücke aufsetzen durften. Diese Deutung findet sich nicht nur in der einschlägigen Forschungsliteratur,[73] sondern auch in der von Azzara und Moro besorgten italienischen Übersetzung.[74]
Teilweise wird die im Kapitular genannte licentia mit einer in oberitalienischen Urkunden genannten licentia gleichgesetzt, die dort dem Notar vom comes palatii oder anderen weltlichen Würdenträgern gewährt wird, und das Phänomen als Licentia rogandi bezeichnet.[75] Allerdings ist diese Art von licentia nur in Urkunden des 10. und frühen 11. Jahrhunderts belegt. Schon der zeitliche Abstand spricht daher eher gegen einen Zusammenhang. Meyer hat die entsprechenden Urkunden einer genaueren Analyse unterzogen und kam zu dem Schluss, dass die Licentia rogandi nicht mehr als ein „Mythos“ sei.[76] Bei diesen Urkunden sei die gräfliche Zustimmung vielmehr höchstwahrscheinlich deswegen erforderlich gewesen, weil es sich bei den verhandelten Gütern um gräfliche oder königliche Lehen gehandelt habe. So sei auch das abrupte Ende der licentia zu erklären, nachdem im Lehensgesetz von 1037 ein allgemeines Veräußerungsverbot von Lehen ohne Zustimmung des Lehnsherrn erlassen worden sei. Für Meyer lässt sich aus dem Kapitular Lothars kein territorial eingeschränktes Wirkungsfeld für Notare ableiten, sondern er versteht die Regelung so, dass der Notar im gräflichen Dienst in seiner Funktion als cancellarius nur mit Erlaubnis seines Grafen in einer anderen Grafschaft schreiben beziehungsweise urkunden dürfe.
In der italienischen Übersetzung und auch bei den entsprechenden Deutungen in der Forschungsliteratur wird trotz des Numeruswechsels von einer Kontinuität des Subjekts ausgegangen. Die Frage nach dem Ende des Eides ist bei einem solchen Verständnis nur noch von philologischem Interesse.[77] Dass die Verwendung der Numeri im Latein der Kapitularien nicht immer konsistent ist, ist keine neue Erkenntnis. Die Häufigkeit dieses sprachlichen Phänomens berechtigt jedoch nicht, bei einem Numeruswechsel stets und häufig stillschweigend von einer Identität der Subjekte auszugehen, solange kein neues Subjekt explizit eingeführt wird. Daher muss in jedem Fall überprüft werden, ob neben einem Numeruswechsel auch ein Subjektwechsel vorliegen könnte.
Wenn mit „aliquis“ nicht einer der eingangs im Plural genannten notarii gemeint war, bleibt nur der Auftraggeber als alternatives Subjekt übrig, da der Graf nur wenige Worte später explizit genannt wird. In diesem Fall würde nach „nec in occulto“ ein neuer Satz beginnen; das Folgende wäre also nicht mehr Teil des Notarseides. Allerdings müsste man für diese Interpretation einen kausativen Gebrauch des „scriptum facere“ annehmen: Statt „Und niemand [Notar] soll im Geheimen ein Schriftstück … anfertigen, außer mit der Erlaubnis jenes Grafen, in dessen Grafschaft er sich aufhalten muss“ wäre zu übersetzen mit „Und niemand [Auftraggeber] soll sich im Geheimen ein Schriftstück … anfertigen lassen“ etc. Der Sinn des Satzes würde sich dahingehend ändern, dass nicht der Notar den Grafen, in dessen Diensten er steht, um Erlaubnis für die Beurkundung eines Rechtsgeschäftes in einer anderen Grafschaft bitten muss. Stattdessen wäre derjenige gemeint, der ein Rechtsgeschäft außerhalb seiner eigenen Grafschaft beurkunden lassen wollte; dieser müsste den Grafen der Region, in der er sich gerade aufhält, um Erlaubnis für die Beurkundung bitten. Beide Interpretationen entsprächen der Grundregel, dass Rechtsgeschäfte dort beurkundet werden sollen, wo die entsprechenden Güter liegen, und Ausnahmen der Genehmigung des örtlichen Grafen bedurften. Grundsätzlich sind also beide Übersetzungsalternativen möglich.
Doch ist es wahrscheinlicher, dass sich das „aliquis“ tatsächlich auf den Notar bezieht und der gesamte Passus bis „stare debet“ den Inhalt des Eides angibt, den Notare zu schwören hatten. Eher stilistischer Natur ist das Argument, dass „Nec in occulto nec scriptum aliquis faciat de uno commitatu …“ ein mehr als ungewöhnlicher Satzanfang ist, auch wenn die Wortstellung im Lateinischen relativ frei ist. Schwerer wiegt jedoch das Argument, dass ein Subjektwechsel für Rezipienten nur schwer zu erkennen gewesen wäre. Zum einen würde „scriptum facere“ im Unterschied zum direkt vorangehenden Satz, in dem es aktive Bedeutung hat („… quod nullum scriptum falsum faciant“) auf einmal kausativ benutzt, und zum anderen wäre „aliquis“ als Einführung eines anderen Subjekts ziemlich unspezifisch. Drittens aber ergibt der Singular an dieser Stelle Sinn. Denn unter der Prämisse, dass jeder Graf (in jeder seiner Grafschaften) genau einen Notar zur Verfügung hat und jeder Notar genau in einer Grafschaft einem Grafen zur Verfügung steht, würde der Teil des Notarseides im Plural keinen Sinn ergeben. Schließlich darf sich stets nur ein Notar in der Grafschaft eines Grafen aufhalten und nicht mehrere.
Auch die mittelalterlichen Kopisten, die den Text abschrieben, verstanden ihn offenbar in derselben Weise. Zwei zeitnah zur Entstehung des Kapitulars entstandene Handschriften lassen den Numeruswechsel bereits ein Prädikat früher erfolgen: „Notarii autem hoc iurare debent, quod nullum scriptum falsum faciat … .“[78] Der Rest des Nebensatzes bis „stare debet“ steht ebenfalls im Singular, so dass es wahrscheinlich ist, dass der gesamte Satz von den jeweiligen Schreibern auf dasselbe Subjekt, nämlich den Notar, bezogen wurde. Der Schreiber einer etwas später entstandenen Handschrift aus dem Umfeld des Königshofes passte den Text durch mehrere raffinierte Veränderungen so an, dass er sprachlich vollständig korrekt ist.[79] Gleichzeitig sorgten diese Veränderungen dafür, dass der gesamte Abschnitt des Kapitels eindeutig auf den Notar bezogen wurde: „Notarii autem hoc iurare debent, quod nullum scriptum falsum faciant neque aliquid in occulto, et nec scriptum aliquod faciant de uno comitatu in alio nisi per licentiam illius comitis in cuius comitatu cartula ipsa stare debet.“[80] Allerdings wird durch das Hinzufügen von „cartula ipsa“ der Sinn geringfügig verändert: Hier liegt der Fokus auf der Urkunde bzw. dem durch sie bezeugten Rechtsgeschäft, für die eine Erlaubnis des Grafen erforderlich ist, in dessen Amtsbezirk das Rechtsgeschäft getätigt wurde bzw. in der die betreffenden Güter lagen. Auch die Wendung „inanis et vacuus“ am Schluss, der in der übrigen Überlieferung ein passendes Bezugswort fehlt,[81] wird in der Wolfenbütteler Handschrift auf die Urkunde bezogen: Diese sollte bei Nichtbefolgung der festgelegten Vorgehensweise „inanis et vacua“, nichtig und wertlos sein.
Die im Vergleich mit dem Archetyp und den Handschriften des „Hlotharii capitulare Papiense“ eindeutigste Interpretation liefert der im 11. Jahrhundert entstandene „Liber Papiensis“[82]:
„Notarius autem hoc iurare debet, quod nullum scriptum falsum faciat nec in occulto aliquod scriptum faciat nec de uno comitatu in alio scribat, nisi per licentiam illius comitis, in cuius comitatu stare debet. Si vero necessitas itineris aliquem compulerit aut infirmitas gravis, secundum capitulare donni ac nostri genitoris faciat. Quodsi aliter fecerit, inanis et vacuus appareat.“
Hier kann nur der Notar gemeint sein. Um diese Eindeutigkeit zu erreichen wurde an mehreren Stellen der Text verändert. Der Hauptsatz steht im Singular, so dass es überhaupt nicht zu einem Numeruswechsel kommt, das „aliquis“ fehlt, ein „aliquod scriptum faciat“ spezifiziert die Worte „nec in occultu“ und „scribat“ konkretisiert den letzten Teilsatz, so dass hier eindeutig der Notar Schriftstücke schreibt.[83] Hier geht es stets um Handlungen des notarius.
Aber zurück zum Archetyp: Nach dem Notarseid („Notarii – stare debet“), der die Notare dazu verpflichtet, der Wahrheit entsprechende Urkunden in der Öffentlichkeit und mit Erlaubnis des zuständigen Grafen auszustellen, folgt eine Ausnahme für den Fall, dass „jemand durch eine Reise oder eine schwere Krankheit genötigt wird“ („Si vero necessitas itineris aliquem conpullerit aut infirmitas gravis …“). In einem solchen Fall soll „gemäß dem Kapitular unseres Vaters“ („secundum capitulare genitoris nostri“) gehandelt werden. Hier ist bei „aliquem“ ein Subjektwechsel anzunehmen, denn es ist schwer vorstellbar, dass für den Fall, dass ein Notar aufgrund einer solchen Verhinderung die erforderliche Erlaubnis des Grafen nicht einholen konnte, eigens ein Kapitular erlassen wurde. Vielmehr wird hier der oft begegnende Fall thematisiert, dass jemand aufgrund besonderer Umstände, wie z. B. während eines Heerzuges, dazu gezwungen war, außerhalb der eigenen Grafschaft ein Rechtsgeschäft vorzunehmen. Für diesen Fall ist tatsächlich eine Bestimmung Ludwigs des Frommen bekannt, auf die bereits Boretius und Krause in ihrer Edition verwiesen: Kapitel 6 der „Capitula legibus addenda“ von 818/819.[84]
„Ut omnis homo liber potestatem habeat, ubicumque voluerit, res suas dare pro salute animae suae. Si quis res suas pro salute animae suae vel ad aliquem venerabilem locum vel proprinquo suo vel cuilibet alteri tradere voluerit, et eo tempore intra ipsum comitatum fuerit in quo res illae positae sunt, legitimam traditionem facere studeat. Quodsi eodem tempore quo illas tradere vult extra eundem comitatum fuerit, id est sive in exercitu sive in palatio sive in alio quolibet loco, adhibeat sibi vel de suis pagensibus vel de aliis qui eadem lege vivant qua ipse vivit testes idoneos, vel si illos habere non potuerit, tunc de aliis quales ibi meliores inveniri possint; et coram eis rerum suarum traditionem faciat et fideiussores vestiturae donet, qui ei qui illam traditionem accipit vestituram faciat. Et postquam haec traditio ita facta fuerit, heres illius nullam de praedictis rebus valeat facere repetitionem; insuper et ipse per se fidemiussionem faciat eiusdem vestiturae, ne heredi ulla occasio remaneat hanc traditionem inmutandi, sed potius necessitas incumbat illam perficiendi. …“[85]
Das Kapitular Ludwigs des Frommen erlaubt Schenkungen außerhalb der eigenen Grafschaft für den Fall der Heerfahrt, des Aufenthalts am Hof (bzw. in einer Pfalz) oder des Aufenthalts an einem anderen beliebigen Ort. Das Kapitular Lothars sieht eine Ausnahme für den Fall notwendiger Reisen oder schwerer Erkrankungen vor. Im Kern geht es in beiden Fällen um Situationen, dass Schenkungen außerhalb der eigenen Grafschaft ausnahmsweise vorgenommen werden können, wenn man sich aus einem triftigen Grund dort aufhält und ungewiss ist, ob und wann man in seine Grafschaft zurückkehren kann. Auch wenn beide Regelungen unterschiedlich formuliert sind, dürfte hier eine eindeutige Rezeption vorliegen, zumal Lothar betont, dass schon sein Vater eine entsprechende Regelung erlassen habe.
Anders werden die Worte „secundum capitulare genitoris nostri“ von Amelotti und Costamagna verstanden.[86] Sie sehen hier einen Verweis auf Kapitel 12 der „Memoria Olonnae comitibus data“ von 822/823.[87] Schon Boretius und Krause wiesen in ihrer Edition auf diese Parallele zwischen den Kapitularien aus Olonna und Pavia hin. Jedoch begrenzten sie ihre Beobachtung auf den Teil des Satzes von „Notarii“ bis „occulto“.[88] Die Interpretation Amelottis und Costamagnas überzeugt aus zwei Gründen nicht. Ihr Verständnis passt erstens nicht recht zur Position des Verweises auf Lothars Vater innerhalb des Textes. Zweitens wurde die „Memoria Olonnae comitibus data“ nicht von Ludwig, sondern von Lothar selbst erlassen, kann also eigentlich überhaupt nicht mit „capitulare genitoris nostri“ gemeint sein.[89]
Bei demjenigen, der aufgrund einer Reise oder Krankheit genötigt ist, außerhalb der eigenen Grafschaft eine Urkunde ausstellen zu lassen, ist also der Auftraggeber gemeint und nicht der Notar. Der Rest des Kapitels lässt sich jedoch problemlos wieder auf den Notar beziehen, der die Urkunde ausstellen soll, wie es im Kapitular Ludwigs festgelegt ist, welche anderenfalls ungültig sein soll. So verstanden es offensichtlich auch die Schreiber der Wolfenbütteler Handschrift und des „Liber Papiensis“. Eine alternative Interpretation, bei der der gesamte Schluss des Kapitels nach „Si vero“ auf den Auftraggeber bezogen ist, ist zwar ebenfalls möglich: Sollte er sich in der geschilderten Ausnahmesituation befinden, soll der Auftraggeber gemäß dem Kapitular Ludwigs handeln (d. h. nach geeigneten Zeugen für sein Rechtsgeschäft suchen), anderenfalls soll das Rechtsgeschäft ungültig sein. Es ist jedoch plausibler anzunehmen, dass sich das gesamte Kapitel mit den Notaren und der Urkundenausstellung sowie allen damit verbundenen Fragen befasst und nicht im ersten Teil mit den Urkunden und im zweiten mit Rechtsgeschäften allgemein. Die vorangehenden Überlegungen zum rechten Textverständnis lassen sich in folgende Übersetzung bündeln:
„Dass es kein Kanzleischreiber wage, für irgendeine Gerichtsurkunde oder ein Schriftstück mehr anzunehmen als ein halbes Pfund Silber für die größeren Schriftstücke; für die kleineren nehme er aber weniger als dieses halbe Pfund an, je nachdem, wieviel die Sache verlangt und es den Richtern richtig erscheint. Bei den Waisen und anderen Armen, die dies nicht bezahlen können, soll es der Fürsorge des Grafen obliegen, dass von ihnen keinesfalls irgendjemand etwas verlangt.
Die Notare aber müssen schwören, dass sie weder ein gefälschtes Schriftstück noch [ein Schriftstück] im Geheimen anfertigen; und dass keiner [von ihnen] ein Schriftstück über [Güter] einer Grafschaft in einer anderen Grafschaft ausfertigt, außer mit der Erlaubnis jenes Grafen, in dessen Grafschaft er [= der Notar] sich aufhalten muss. Wenn aber die Notwendigkeit einer Reise oder eine schwere Krankheit jemanden dazu nötigt [, ein Schriftstück aufsetzen zu lassen], soll er [= der Notar] gemäß dem Kapitular unseres Vaters handeln. Wenn aber jemand [es] ansonsten anfertigt, soll es nichtig und wertlos sein.“
4 Fazit
Für eine Interpretation des Kapitels als Regelung, dass Rechtsgeschäfte in der Regel in der Grafschaft beurkundet werden sollten, in der die Güter liegen, konnten mehrere gewichtige Argumente angeführt werden. Erstens handelt es sich nicht um einen singulären Beleg wie beim Mobilitätsverbot für Notare, sondern eine ähnliche Regelung ist in einem Kapitular Ludwigs des Frommen enthalten, das vom „Hlotharii capitulare Papiense“ mehrfach verwendet wird. Zweitens ergibt sich eine bessere Gedankenstruktur des Kapitels:
Gebühren
Ermäßigung für Bedürftige
Verbot (für Notare) von Fälschungen
Verbot (für Notare) von heimlichen Beurkundungen
Verbot (für Notare) von Beurkundungen über Güter in einer anderen Grafschaft ohne Erlaubnis des eigenen Grafen
Ausnahmeregelung bei Reisen und schwerer Krankheit des Auftraggebers.
Drittens ist leichter verständlich, welcher Graf/welche Grafschaft jeweils gemeint ist und viertens zeigt die Wolfenbütteler Handschrift, dass der Text von zumindest einem Redaktor bereits im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts in Italien eindeutig in dieser Weise verstanden wurde.
Die Verbote heimlicher Beurkundungen und von Beurkundungen über in anderen Grafschaften gelegene Güter sind eng miteinander verknüpft. Beides zielt darauf ab, dass es Zeugen einer Beurkundung gibt, die im Nachgang die Rechtmäßigkeit eines Vorgangs bestätigen können. Außer im „Liber Papiensis“ ist die zweite Regelung im Rahmen der Kapitularien nicht weiter rezipiert worden. Anders verhält es sich mit dem Verbot heimlicher im Sinne nicht öffentlicher Beurkundungen. Das bereits erwähnte Kapitular Ludwigs II. schreibt einen Notarseid vor, dass keine Fälschungen und Hinterzimmerbeurkundungen durchgeführt werden.[90] Dies könnte eine Rezeption des „Hlotharii capitulare Papiense“ sein.[91]
Die Zahl der materiellen und wörtlichen Vorlagen des Kapitulars konnte ergänzt werden. Die Aussage von Kapitel 14 des „Hlotharii capitulare Papiense“, dass es sich bei den aufgeführten Beschlüssen um Kapitel Karls des Großen und Ludwigs des Frommen handelt, konnte nun für fast alle bestätigt werden. Dies macht sehr wahrscheinlich, dass das einzige Kapitel, für das bisher keine Vorlage identifiziert werden konnte, ebenfalls auf ein verlorenes Kapitular Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen zurückgeht.
Unwahrscheinlich gemacht werden konnte die Ansicht, dass Kapitel 13 des Kapitulars ein Mobilitätsverbot für Notare ausspricht und eine Art Akkreditierung von Notaren in fremden Grafschaften vorsieht. Letztendlich wäre ein solches, explizites Verbot auch überhaupt nicht notwendig gewesen, weil die Mobilität der Notare aufgrund der Bindung an einen Grafen und dem Gebot, Urkunden vor dem Grafen und Schöffen auszustellen, ohnehin ausgeschlossen war.
Am Ende bleibt die Frage, was Lothar und seine Großen im Pavia des Februar 832 veranlasst haben könnte, ausgerechnet diese Beschlüsse Karls des Großen und Ludwigs des Frommen auszuwählen und zu erlassen. Viele Kapitel stellen eine Übertragung fränkischer Rechtsregelungen auf Italien dar. In Kapitel 14 des Kapitulars heißt es explizit, dass diese Kapitel aus den Kapiteln Karls und Ludwigs ausgewählt worden seien. Das heißt einerseits, dass sich Lothar und seine Großen bewusst für diese Kapitel entschlossen. Aber andererseits bedeutet dies auch, dass man sich dagegen entschied, andere Kapitel aus den Vorlagen zu exzerpieren und zu wiederholen. Dass beispielsweise die „Capitula legibus addenda“, aus denen immerhin sechs Kapitel rezipiert wurden, in Pavia vollständig vorlagen, ist sehr wahrscheinlich. Verschiedene Motive sind denkbar, warum nur einzelne Beschlüsse Karls und Ludwigs wiederholt wurden, andere aber nicht. Man könnte sich bei der Auswahl auf das Wesentliche beschränkt haben oder nur solche Kapitel ausgewählt haben, die von aktuellem Interesse waren. Vielleicht waren einige Beschlüsse nicht relevant für Italien, oder italienische und fränkische Gegebenheiten stimmten überein, so dass man ohnehin Selbstverständliches nicht wiederholen wollte. Möglich ist auch, dass man wegließ, was in Italien keine Chance auf Durchsetzung hatte oder keinen Konsens unter den Großen fand. Überlegungen, was in diesem oder jenem Fall gegen eine Auswahl aus der Vorlage gesprochen haben könnte, werden schnell spekulativ und sollen hier nicht weiterverfolgt werden.
Neben dem Motiv der Übertragung fränkischer Rechtsregelungen auf Italien dürfen politische Motive nicht vernachlässigt werden. Da nichts Näheres über die Versammlung in Pavia überliefert ist und die Auswirkungen von Lothars gescheiterter Rebellion auf seine Stellung in Italien unklar sind, muss offen bleiben, ob er sich mit dem Kapitular gegen seinen Vater behaupten oder im Gegenteil als würdiger Nachfolger seines Großvaters und Vaters präsentieren wollte. Es kann überdies nicht ausgeschlossen werden, dass die rechtlichen Bestimmungen lediglich darauf zielten, in einer schwierigen Situation Konsens unter den Großen zu demonstrieren und damit Herrschaft zu stabilisieren. Auch wenn dieser Aufsatz den rezeptionsgeschichtlichen und rechtshistorischen Hintergrund des „Hlotharii capitulare Papiense“ etwas zu erhellen vermochte, zeigen diese Gedanken doch, dass noch immer viele Fragen in Bezug auf diesen wichtigen Text unbeantwortet sind.
© 2022 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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Artikel in diesem Heft
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- Jahresbericht des DHI Rom 2021
- Themenschwerpunkt Early Modern Antitrinitarianism and Italian Culture. Interdisciplinary Perspectives / Antitrinitarismo della prima età moderna e cultura italiana. Prospettive interdisciplinari herausgegeben von Riccarda Suitner
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- Heterogeneous religion: imperfect or braided?
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- I giudici al servizio della corte imperiale nell’Italia delle città (secolo XII)
- Nascita dei Comuni e memoria di Roma: un legame da riscoprire
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- Zur Geschichte der italienisch-faschistischen Division Monterosa im deutsch besetzten Italien 1944–1945
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- Die toskanische Weimar-Fraktion
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- Making Saints in a Glocal Religion. Practices of Holiness in Early Modern Catholicism
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- The Return of Looted Artefacts since 1945. Post-fascist and post-colonial restitution in comparative perspective
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- Circolo Medievistico Romano 2021
- Nachruf
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- Leitrezension
- Die Geburt der Politik aus dem Geist des Humanismus
- Sammelrezensionen
- Es geht auch ohne Karl den Großen!
- „Roma capitale“
- Allgemein, Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19.–20. Jahrhundert
- Verzeichnis der Rezensentinnen und Rezensenten
- Register der in den Rezensionen genannten Autorinnen und Autoren
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