Abstract
This article takes as its starting point Philipp Felsch’s recent book telling the intriguing story of how, from the 1960s, the two Italian scholars Giorgio Colli and Mazzino Montinari rediscovered and edited Nietzsche’s legacy, considered a highly problematic frame of reference in the aftermath of the Second World War. The essay outlines the Italian background – both institutional and ideological – of this enterprise. Additionally, it argues that Colli and Montinari’s philological scrutiny and quest for veracity also helped to lay the groundwork for the reception of such ‚non-binary‘ thinkers as Heidegger within political movements of both the (radical) left and right.
I
Historisch arbeitende Wissenschaften haben es mit Archiven zu tun. Gekühlte Räume im künstlichen Licht, gefilterte Luft – das ist zugleich das Schicksal großer Philosophennachlässe. Philipp Felschs „Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung“[1] erzählt ein solches Schicksal, besser noch: die Wendung, die es in dem Augenblick erfährt, da endlich eine quellengetreue und vollständige Werkausgabe entsteht. Der Titel klingt nach dem Versuch, das Nachleben eines Philosophen als Parabel auf den Kalten Krieg zu erzählen.[2] Zugleich denkt man an eine Verlebendigung, quasi einen Auftauprozess, der auch gefährliche Energien freisetzt.[3] Die Kapitelüberschriften insinuieren Showdowns („Jenseits der Gotenlinie“) und Spannungsmomente („Über den Abgrund gehen“), während der Text selbst immer wieder den trockenen Staub der Archive wischt, ihn manchmal zur Benebelung des Lesers allererst aufwirbelt.
Im Zentrum des Buches stehen mit Giorgio Colli (1917–1979) und Mazzino Montinari (1928–1986) zwei Akademiker, die aus unterschiedlichen Gründen – und mit unterschiedlichen Laufbahnen – den nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost wie West obsolet gemachten Denker produktiv halten wollen. Sie müssen von einer Nietzsche innewohnenden ungeheuren Sprengkraft ausgehen. Womöglich besteht sie darin, dass mit ihm die Zweiteilung der Welt, die existenzielle Erfahrung nicht nur des Kalten Krieges, überwindbar wird.
Giorgio Colli, der ältere, wird zuerst als Luccheser Philosophielehrer vorgestellt, der glaubt, seine Schüler zunächst in eine paideische Republik einführen zu müssen, bevor sie auf die Welt losgelassen werden können. Diese Idee ist zeitgenössisch an vielen Orten durchgespielt: nicht nur im George-Kreis, den Felsch zitiert, unter anderem bei Costantinu Noica in Rumänien, dem Freund Ciorans. Und enge Lehrer-Schüler-Verhältnisse gibt es jenseits institutioneller Laufzeiten in Italien noch heute zur Genüge. Für segmentäre Gesellschaften, in denen Staatlichkeit als Fremdkörper erlebt wird, sind solche Konstellationen jedenfalls nicht ungewöhnlich. Und sind es noch weniger dort, wo Säkularisierung – wie in der Philosophie – mit Sendungsbewusstsein gegen ältere, meist religiöse Wahrheitsansprüche in Stellung gebracht wird. Giorgio Colli ist eben auch jemand, der im Umfeld des Gymnasiums seinen Status als Universitätsprofessor antizipiert sehen möchte – und je aussichtsloser dies scheint, etwa im italienischen Faschismus, desto stärker legt er sich ins Zeug. Auf der anderen Seite erwächst ihm in dem Gymnasiasten Mazzino Montinari ein Partner, der sich mal als Agent des eigenen Willens, mal als bedürftiger Empfänger höherer Weisheiten, und schließlich als eigenständiges Gegenüber entpuppt. Diese Rollenwechsel haben mehr mit klientelären Verhältnissen lang anzubahnender Berufslaufbahnen zu tun als mit von beiden Seiten ausgelebtem pädagogischem Eros. Die Konstellation mündet in die als coming-of-age-Geschichte codierte Wiederentdeckung Nietzsches, bei der sich alle Akteure bemühen, einen Überschuss zu produzieren, der die Sache am Laufen hält.
Philipp Felschs thrillerartig inszeniertes Buch ist einerseits das Zwischenresultat eines Berliner SFB-Teilprojekts, andererseits ist es quasi das Prequel zu des Autors „Sommer der Theorie“.[4] Dieser wiederum fußt auf der These, dass „Theorie“ etwas genuin anderes bezeichne als „Wissenschaft“, „Philosophie“ oder „Disziplin“, indem sie gleichsam den Zugang zu einem Text-, Diskussions- und Lebenszusammenhang erschließt, der unsere Spätmoderne auszeichnet. Nietzsche als betont transgressiver Autor, der Gattungsgrenzen sprengt (im „Zarathustra“), Kulturgeschichte und Autobiografie zusammenzieht (im „Ecce Homo“) und neue Disziplinen zu begründen hilft (Sozialpsychologie und Kulturwissenschaften, etwa durch die „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“), kann als Gründungsfigur von „Theorie“ erscheinen. Empirisch geht er unter (durch „geistige Umnachtung“), um – Wiederaufnahme des archaischen Mythos von Dionysos Zagreus – durch die Sammlung originärer Textfragmente wiedererzeugt zu werden (erst durch die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, dann durch Colli und Montinari) – seine „Rettung“ ist also von Anfang an Programm. Aus diesem Grund ist ebenso verständlich wie bedauerlich, dass Felsch zwar die Mühen der Editionsphilologie ausführlich darlegt, aber darüber Nietzsche selbst so wenig das Wort erteilt. Denn dass Nietzsche vor allem ein Rezeptionsphänomen darstellt, dass man sein Wort eben gar nicht außerhalb seiner Rezeptionsgeschichte vernehmen kann, dass also wer Nietzsche nennt, immer schon Nietzsche-Diskurs sagt, ist sicher die am wenigsten kontroverse Position. Bleibt die Frage, wie dieses Phänomen beschaffen sein muss, damit es gleichsam gegen sich selbst vorgeht und seine Adepten dazu animiert, nach der Quelle seiner Stimme zu fahnden. Worin gründet, um mit Walter Benjamin zu sprechen, das „Jetzt seiner Lesbarkeit“? Hier hätte man sich mehr Leidenschaft für den ungekühlten Nietzsche gewünscht.
II
Felschs Buch versteht sich ausdrücklich als die Nachzeichnung einer Rückholaktion: „Nietzsche selbst war aus Thüringen über Zwischenstationen in der Schweiz und in Frankreich nach Italien geflüchtet. Im Bann von Nietzsches Handschriften geht Montinari den umgekehrten Weg.“[5] Die zwischen 1961 und 1990 aus Weimarer Archivbeständen transkribierte Werkausgabe wird als eine Art Rückübereignung vorgestellt, sie legt aber auch die Bedeutung von Nietzsches ‚Flucht‘ nach Italien allererst frei. Insofern lässt sich an ihr eine spezifisch italienische Aneignung eines ursprünglich nur als Gerücht existierenden Ereignisses nacherzählen, umso mehr, als dass die Deutschen, befangen in ihrer nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Zweiteilung, sich diesen Nietzsche noch weniger zu eigen machen können als zuvor. Da kommen die vergeistigten, etwas unpraktischen, aber enthusiastischen Italiener, die in der Mangelwirtschaft von Weimar (DDR) ein ungebrochenes Verhältnis zum 19. Jahrhundert herzustellen vermögen, gerade recht. Der eine, das PCI-Mitglied Montinari, darf vorübergehend an den Schulterschluss von aufgeklärtem Bürgertum und Weltrevolution glauben, die zur Nationalkultur des „besseren Deutschlands“ gehörte, zumindest bis er in den real existierenden Sozialismus einheiratet; den anderen, Colli, verzückt des Geistes lange Dauer so sehr, dass er sich mit der Welt, in der dieser erscheint, nicht auseinanderzusetzen braucht; er lebt, wie seine Schüler erinnern, in „aristocratica solitudine“. Montinari, der an der Entzifferungsfront arbeitet (und zusammen mit Maria Carpitelli, Giorgio Colli und dessen Tochter den Großteil der Übersetzungen ins Italienische schultert), hat in Pisa Archivarbeit als Exerzitium der kommunistischen Partei bei Delio Cantimori kennengelernt. Dieser Verfasser einer Studie über Häretiker und utopische Sozialisten meinte, das Archiv bringe per se ein von der Macht marginalisiertes Gegenwissen zur Sprache. (Montinaris Weimarer Jahre überschneiden sich auch mit Carlo Ginzburgs aus und gegen die Inquisitionsakten erfolgte Rekonstruktion eines bäuerlichen Schamanismus im Friaul, entlegene und klandestine Archive spielen dabei eine große Rolle.) Der restituierte Nietzsche hingegen – die Rückübereignung trifft mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs zusammen – wird dann die deutsche Nietzsche-Obsession durchbrechen, weil sich anhand der Ausgabe eben keine sinnvollen Debatten mehr über Autorität und Autorwillen führen lassen, sondern der ‚ganze Nietzsche‘, das Kleingedruckte, die Frühschriften, die Marginalien mit inbegriffen, von nun an auch sein Gegenteil einschließt. Auf eine kurze Phase erbitterter Auseinandersetzungen, in der Nietzsche vom ehemaligen stalinistischen Chefideologen Wolfgang Harich noch einmal für alles Böse der jüngeren Geschichte haftbar gemacht wird, folgt gewissermaßen die Erklärung zum Schutzheiligen der Dekonstruktion. Diese selbst haben weder Colli noch Montinari miterlebt. Wie verhält es sich nun mit dem italienischen Nietzsche, um dessentwegen es in den Weimarer Winter ging?
Die Begierden der zukünftigen Editoren modelliert Felsch dramaturgisch geschickt: Für Colli galt es, einen „modernen Mystiker“ zu finden, Montinari hingegen suchte einen „radikalen Aufklärer, als Verfechter unscheinbarer, mit strenger Methode gefundener Erkenntnisse“,[6] gleichsam einen existenzialistischen Descartes. Die Tradition dieser vermeintlichen Wünsche untersucht der Autor nicht. Allerdings werden sie in der politischen Gemengelage der Kriegszeit verortet, in der sich Montinari und Colli in Lucca häufig begegneten. Für Colli war Nietzsche ein Fürsprecher jenes imaginären Griechenlands, das in keinem politischen Projekt aufging. Collis Nietzsche zeugt so für den Anfang des Denkens, noch vor jeder politischen Inanspruchnahme – dafür steht die Tragödienschrift, überhaupt der Übergang vom Rhythmischen und Somatischen zum Semantischen, der den von den Vorsokratikern und der ursprünglichen Musikalität des Denkens zeitlebens faszinierten Mann besonders angezogen haben muss (das belegt Collis eigener Beitrag zum Dionysischen als Erkenntnisform[7]). Diese Abseitigkeit Nietzsches erweist sich zugleich als der Eckstein, auf dem eine linke Rezeption, die Montinaris, ansetzen kann: Nietzsche als Denker des Primitiven und als Prüfer von Wahrheit nicht im Sinne von Richtigkeit, sondern von Unverstelltheit und Unnachgiebigkeit. Diese von Felsch etwas im Vokabular idealisierten Partisanenkampfs charakterisierte Rezeption bereitet übrigens eine spätere vor: die von Heidegger, der ebenfalls als der Verfechter eines ursprünglicheren Wahrheitsbegriffs ab Ende der 1970er Jahre, vermittelt durch Franco Volpi, in Italien Fuß fasst. Auch Heidegger wird in Italien erst breiter übersetzt und gelesen, als er einem aktivistischen, die Hochschulen überschreitenden Leserkreis angepasst werden kann; frühere Rezeptionen etwa in der durchaus einflussreichen Kulturtheorie Ernesto De Martinos (und seiner „crisi della presenza“ im „Mondo magico“[8]) werden bei einem lange Zeit als „rechter Denker“ etikettierten Autor eben gerade nicht weiterverfolgt. In den 1970er und 1980er Jahren erlangt die Nietzsche-Renaissance der studentischen Linken ihren Höhepunkt, auch ermöglicht durch Mondadoris kostengünstige Taschenbuchausgabe. Es heißt, der MSI-Vorsitzende Giorgio Almirante habe 1977, als Nietzsche-Zitate auf studentischen Protestgraffiti florierten, ausgerufen: „Jetzt rauben Sie uns auch noch den deutschen Philosophen!“ Nietzsche wurde tatsächlich der Autor, dessen Aufklärungskritik von der studentischen und extraparlamentarischen Linken als radikale Kapitalismuskritik gelesen werden konnte. Von hier führte, wie Stefano Azzarà nachgezeichnet hat,[9] durchaus ein Trampelpfad zum Terrorismus der Brigate rosse, zu Botschaften aus Gewalt und Tod, deren zeichenhafter Exzess den politischen Inhalt bei weitem überstieg. An dieser Stelle trafen sich die Nietzsche-Adepten mit dem „sinnlosen Opfer“, das der italienische Rechtextremismus unter der Ägide seiner Leitsterne Julius Evola oder Yukio Mishima, beides ebenfalls Vertreter einer antimodernen Moderne, von seinen Getreuen einforderte.
Wenn man die italienischen Beweggründe, sich gerade für Nietzsche zu interessieren, auf einen Nenner bringen wollte, würde sich da nicht eigentlich das Stichwort des antiakademischen Affekts anbieten? Und zwar jenseits der politischen Präferenzen als Affekt einer sozialen Gruppe, die immerzu zum Schlangestehen vor den Portalen der Akademie angehalten ist, die sich darüber selbst wenn schon nicht verachtet, so doch gedemütigt sieht? Die langen Wartezeiten, die unsicheren Rollen im Gefüge der „baroni“, aber auch der Weg durch die Provinz – „cattedre“ an Mittelschulen und Gymnasien – gehen ja einher mit einer nicht geringen Zeit der Einübung (und des Imitierens) von Professionalität, mit Engagements an Bühnen, die gar nicht zählen, wo man aber trotzdem ständig Reverenz erweisen muss, und wo die beiden Perspektiven – des Vorspielens von „Wissenschaft“ und des ernsthaften Glaubens an ebendiese – notwendig auseinander treten, sich dabei aber gegenseitig bestärken. Es ist dann gewissermaßen der ernsthafte Glaube an Wissenschaft ohne Anführungszeichen, der Nietzsches und später Heideggers Wahrheitspathos (Wahrhaftigkeit bzw. „aletheia“ statt Richtigkeit) immer neu aufblühen lässt und über die Mühen der Ebenen trägt. Eine Soziologie des italienischen Intellektuellen mit seinem oft paradoxen Verhältnis zur Universität scheint jedenfalls vielversprechender als die Suche nach ideologischen Quellen.
Diese benennt Felsch gleichwohl: Er zitiert den langen Schatten Antonio Gramscis (1891–1937). Dessen „Quaderni del carcere“[10] mit ihrer „Philosophie der Praxis“ („die ironischerweise nur deshalb existiert, weil ihn die Faschisten an der Praxis gehindert hatten“)[11] sind zweifelsohne eines der wirkmächtigsten Werke in Italien. Deutschen Lesern wird der posthum durch Togliatti und vor allem Luigi Russo, den Rektor der Scuola Normale di Pisa, seiner Nation übereignete Autor als denkerischer Übervater à la Adorno vorgestellt, allerdings mit dem Unterschied, dass die von der Frankfurter Schule gepflegte Einübung in die Einverständnisverweigerung bei Gramsci auf ein positives Konzept des Intellektuellen traf: man durfte sich nun zur „Avantgarde des Klassenkampfs gehörig fühlen“.[12] Entscheidend ist dabei Gramscis Konzept der „kulturellen Hegemonie“, dank derer er der im Westen nach dem Ersten Weltkrieg ausgebliebenen Revolution noch zu ihrem Erfolg zu verhelfen gedachte. Mit Blick auf andere Zeugnisse Luigi Russos wird jedoch deutlich, dass die Entdeckung Gramscis nach dem Zweiten Weltkrieg die zuvor durchaus verführbaren Intellektuellen bestätigte, indem sie sich nun vor eine neue Aufgabe gestellt sahen, die ihnen – nämlich in editorischer und hermeneutischer Hinsicht – gleichzeitig Bußübungen für ihre Unzulänglichkeiten unter dem faschistischen Ventennio abverlangte. Simon Levis Sullam hat zuletzt in seiner einfühlsamen Studie „I fantasmi del fascismo“[13] auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht. Er hätte ihn allerdings auch als eine säkulare Aneignung der ‚scuola cattolica‘ und ihrer Penitenzkultur bezeichnen können, die immer wieder dafür Sorge zu tragen hat, dass alles sich ändert, damit alles so bleibt, wie es ist. Russo erinnert sich 1948 „delle notti allora vaneggiando spese … nel leggere, e con rapimento, gli scritti di Gramsci, e mi picchiavo le guance e il petto, e i fianchi … per aver ignorato quasi fino a quel momento il nome e l’opera di tanto uomo“.[14] Gramscis Schatten sorgt für eine Nobilitierung des einzelnen Intellektuellen, überhaupt der Figur des unablässig reflektierenden Forschers, der ein „organischer Intellektueller“ dadurch wird, dass er sich zu den Bedingungen seiner Zeit sowie der Klasse, der er angehört, verhält, und diese Bedingungen kommuniziert. Die Autoethnographie, zu der Gramscis Lektüre einlädt – und die in entsprechenden universitären ‚communities of practice‘ bis heute gepflegt wird – überschreitet allerdings die sozialen und kulturellen Trennungen weniger, als dass sie sie beständig reproduziert. Sie trägt zu einer fortgesetzten Therapiestunde bei, in der das Fremde jedes Mal ungreifbarer wird.
In der Figur der Aneignung von etwas, auf dessen Überwindung hin man erst wird, was man ist – ein „organischer Intellektueller“ – begibt sich jeder Gramsci-Nachfolger in die Tradition einer „zirkulären Selbstbegründung“ (Philipp Theisohn), aus der kein Entkommen mehr möglich ist. Angelegt ist sie im deutschen Idealismus, besonders bei Fichte, geerbt hat sie die ganze Welt (der Marxismus, aber auch der Historizismus Croces). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hilft diese Denkfigur, die revolutionären Ansprüche auf Dauer zu stellen, sprich: zu speichern. Eine Revolution im Wortsinn folgt daraus nicht, aber die Behauptung ihrer Notwendigkeit. In ihrem Schatten gedeiht die Philologie als Substitut, der Glaube an die Wirkkraft des Geistes und des Wortes.
III
Felsch schließlich baut sein Buch auf einer irreführenden, aber dramaturgisch durchaus funktionierenden Prämisse auf. Er beginnt es nämlich mit einer Konferenzszene im Jahr 1964, die die beiden Italiener in der Zisterzienserabtei von Royaumant auf Karl Löwith, Gilles Deleuze und Michel Foucault treffen lässt. (Aber auch der an Gadamers Hermeneutik interessierte Gianni Vattimo ist dabei, ohne vom Autor erwähnt zu werden.) Es geht um die internationale Nietzsche-Ausgabe, um die Deutungsansprüche auch jener, die nicht in die Minen der Archive gefahren sind. Entgegen dem Ansinnen von Montinari und Colli, Nietzsches Wahrhaftigkeit als Wahrheit aus den Fängen der Fälschungen von Elisabeth Förster-Nietzsche und ihren Nachfolgern zu befreien, strebt Foucault seinerzeit mit seinem Vortrag über „Nietzsche, Freud, Marx“ an, die „regulative Idee einer authentischen Quelle“ nicht länger als dominierendes Verfahren der Textkritik einzusetzen.[15] Der „Abgrund ineinander geschachtelter Auslegungen“ erscheint dabei allerdings noch als ein Effekt jener Rezeptionsästhetik, die vielleicht keinen Urtext mehr braucht im engeren Sinn, gleichwohl seine Existenz voraussetzt. Das wird auch nicht viel anders bei dem vielbeschworenen „Tod des Autors“ in einem späteren Essay Foucaults – ist es doch nicht der Autor, der stirbt, sondern das Werk, das sich verteilt. Zusammengehalten werden Nietzsches Aphorismen, Streichungen, Randbemerkungen, die Foucault nicht ohne „bibliografischen Nachweis, einen Hinweis auf eine Verabredung, eine Adresse oder einen Wäschereizettel“[16] stehen lassen will, ja gerade durch das Etikett „Nietzsche“, das von den Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy noch einmal aufgewertet wird, wenn sie die Neuheit seiner écriture im Scheitern an der Form des Buches erblicken oder in der „Zurücknahme des Werkgedankens“.[17] Kleiner und weniger mythisch wird Nietzsche dadurch nicht. Colli und Montinari hingegen legen nahe, es existiere zusätzlich zu Nietzsches Schrift noch ein persönlicher Wille, eine von der unmittelbaren sprachlichen Manifestation ablösbare, diese leitende Intention (im Insistieren auf „Nietzsches eigenem Ausdruck“, „sein[em] Denken und seine[r] Persönlichkeit“). Anstatt darin, wie die Franzosen, alte hermeneutische Zöpfe zu sehen, sollten solche Zuschreibungen als immanente Bedingungen jeder Edition durchgehen, die es mit historischem Material, mit materiellen Niederschlägen zu tun hat, nicht nur mit dem Eigenleben des Signifikanten (oder seiner ‚différance‘), sondern mit dessen empirischer Materialität, die eben nicht allein aufs Papier kam. Vielmehr durch Schreibwerkzeuge, Papiere, mobilisiert von guten Vorsätzen.
Montinaris und Collis Edition ist am Ende also nicht weniger modern oder rückschrittlich als die Einwände ihrer französischen Kritiker. Natürlich ist sie klassischer als die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von D. E. Sattler. Für diese gilt vermutlich, was Felsch andeutet, wenn er die radikale Editionsphilologie mit ihren textgenetischen Faksimiles als postmodernsten philologischen Zweig charakterisiert. Im Zeitalter der Digital Humanities ist der User König – es gäbe mindestens für jeden einen Nietzsche. Eine solche Auflösung des Individuellen dürfte den Italienern tatsächlich widerstrebt haben.
Wie dem auch sei: die Konventionalität in editionstheoretischen Diskussionen offenbart bei Colli und Montinari vielleicht einen humanistischen Realitätssinn, der keine Brüche anstrebt, sondern „aggiornamenti“. Diese kann man in der philosophischen italienischen Nietzsche-Rezeption ohnehin am Werk sehen (bei Vattimo, der ihn im Sinne eines „pensiero debole“ aufgreift, oder bei Cacciari, der nach postnihilistischen Lebensformen fahndet) – sie alle haben, auch dank der beiden Editoren, durch eine Nietzsche-Renaissance den Säkularisationsschock abzumildern versucht.[18] Gerade weil es hier auch um die Fragen der Lebensform bzw. der richtigen Erkenntnis als Lebensform geht, ist die verbürgte Wahrheit des (empirischen) Autors von Bedeutung. Und damit der Preis, den dieser zu zahlen bereit war.
Weil Felsch sich nicht wirklich für die italienische Rezeption zuständig fühlt, kann er sich schließlich nicht auf die Geschichte eines einzigartigen intellektuellen Unternehmens einlassen, das sich entscheidend der Arbeit der beiden Toskaner verdankt. Gemeint ist der Verlag Adelphi, dessen Geschichte 1961 durch einen Akt der Dissidenz gegenüber dem mehr oder weniger kommunistischen Einaudi-Verlag seitens Luciano Foà, Roberto Bazlen und Roberto Calasso begann. Roberto Calasso hat zuletzt die Rechte an dieser international verbreiteten Nietzsche-Ausgabe als das ökonomische Rückgrat seines Verlags bezeichnet. Ohne die – lange sich hinziehende – Ablehnung Einaudis seien die „Opere complete“ Nietzsches womöglich nicht zu Adelphi gekommen, wo „wir nur Bücher machen wollen, die uns gefallen“.[19] Der dabei immer wieder gegen Adelphi erhobene Vorwurf der Irrationalität und damit einer gewissen offenen Flanke für faschistische Versuchungen (nicht zuletzt Carlo Ginzburg argumentierte in diesem Sinn, bevor er den nunmehr zum Berlusconi-Imperium gehörenden Einaudi-Verlag verließ und zu Adelphi wechselte), müsste dabei anhand der Nietzsche-Edition überprüft werden. Hier hat Calasso, nachdem andernorts Neuauflagen der faschistischen Ausgaben des „Willens zur Macht“ kursierten, teilweise wütend auf die Rekonstruktionen seiner beiden Herausgeber verwiesen, im Glauben nicht so sehr an den „wahren“ Nietzsche, als vielmehr an eine Schrift, die jenseits der politischen Verwertbarkeit beheimatet ist. In Calassos Projekt einer „absoluten Literatur“ – poetisch und selbstreferentiell – schlossen Werk und Person zusammen, ja transzendierten sich gegenseitig. Den Glauben an eine solche Aufhebung heißt man im Norden Kulturprotestantismus. Und als italienischen Kulturprotestanten würde man Giorgio Colli und Mazzino Montinari möglicherweise auch gerechter. Als solche haben sie mehr mit einem geheimen Deutschland im kalten Winter der Blockbildung zu tun, als Philipp Felsch seinen Lesern nahezubringen vermag.
© 2022 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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