Abstract
The paper is an overview of the musicological research project „Towards a global history of music“, which was carried out between 2013 and 2017 on the basis of a Balzan Prize for Musicology (2012), with the assistance of international music research institutes and their specialists. A main outcome of the project are three collective volumes of papers, published in 2018, 2019 and 2021, respectively. The project has viewed the variety of musical experiences around the world as a historical unfolding, to be explored via a „long path“ through both geography and history. It has queried the enlightenment idea of a fundamental unity of all music (universalism), and the often fragile status of musical-cultural identities on the regional or national levels. It has sought to join methodologies of ethnomusicology and historical research, and has observed that the concepts of music and historiography themselves are less than universal. To the discourses of globalisation and modernisation, the project has added the alternative of transculturality, allowing for more neutral or participatory interpretations of cultural encounter. Summarising this research, tensions between nation and migration, regionalism and adaptation, ‚radial‘ and ‚imposed‘ globality are shown. The paper proposes to expand such studies into non-scientific practice and to find new institutional bases, which would benefit further global understanding and sharing.
Das Projekt
Die Arbeiten des Forschungsprojekts „Towards a Global History of Music“ begannen in der Faculty of Music, Oxford, am 2. Dezember 2013 mit einem Kolloquium „Mongols Howling, Latins Barking: Voice and Sound in Early Musical Encounters in Precolonial Eurasia“. Der Convenor und Hauptvortragende des Kolloquiums, Jason Stoessel (University of New England, Armidale/New South Wales) ist durch seine Forschungen zur Musikgeschichte des mittelalterlichen Italien bekannt. Unter den Diskussionsteilnehmern waren die Historikerinnen Felicitas Schmieder (Fernuniversität Hagen), die den „Codex Cumanicus“ erforscht hatte und derzeit u. a. im Projekt „Investing in the Past: Medieval Europe in the Globalized 21st Century“ tätig ist, und Catherine Holmes (University College Oxford), Mitarbeiterin des Oxford Centre for Global History und Mitherausgeberin von „The Global Middle Ages“ (Oxford 2018). Bis zum vierzehnten und letzten Kolloquium des Projekts im Institut für Musikwissenschaft und Medienforschung der Humboldt-Universität Berlin am 7.–9. April 2017, mit den Themen „Global J. S. Bach“ und „Music, Media Geography, History“ war ein langer Weg zu durchmessen.[1]
Doch schon der Anfang des Projekts setzte einen positiven Akzent: Jason Stoessel fand und analysierte in den Erzählungen mittelalterlicher Reisender, die ins Mongolenreich, nach Zentralasien und China, gelangt waren, auch Echos musikalischer Erlebnisse.[2] Einige davon waren im sogenannten „Codex Cumanicus“ (14. Jahrhundert) der Biblioteca Nazionale Marciana zusammengeflossen, der christliche Hymnen zur Unterweisung mongolischer Leser in Qipchaq-Cumanischer Sprache und in italienischer Mensuralnotation anbietet. Schlussbetrachtungen des Projekts im Jahre 2017 galten den heutigen sozialen und institutionellen Medien, die musikalische Erfahrungen scheinbar unterschiedslos über die Welt verbreiten können, jedoch fast ebenso deutlich als Mittel des Beharrens auf lokaler und nationaler Kultur Verwendung finden. Zwischen 2013 und 2017 veranstalteten wir Kolloquien über Musikbeziehungen Lateinamerikas, Afrikas, des Nahen Ostens, Indiens, Südostasiens, Koreas und Japans – oft genug Musikbeziehungen mit dem Abendland, verteilt über die Weltepochen der Moderne, der Kolonialzeit, der Spätantike und des ja nur in Europa so zu benennenden ‚Mittelalters‘.
Universalien?
Immer wieder stellte sich die Frage nach den ‚Universalien‘, also der Vorstellung gemeinsamer anthropologischer Strukturen menschlichen Handelns. Hat sich Musik bei so riesigen geographischen Distanzen, so langen Wegen und Seefahrten, denn nicht zu radikal verändert, als dass noch globale Gemeinsamkeiten erkennbar, ja sogar hörbar bleiben könnten? Oder ist umgekehrt gerade Musik von allen Kulturleistungen die einzige globale, allen und immer zugängliche? Wenn Letzteres zuträfe, wäre dann eine „Globalgeschichte der Musik“ überhaupt diskussionswürdig, es sei denn als bloße Geschichte ihrer wechselnden soziokulturellen Einbettungen?
Für unser Projekt hatte bereits Stoessel die Frage globaler Gemeinsamkeit aufgeworfen, als er das gegenseitige Zurückschrecken vor einer scheinbar nicht-künstlerischen, ja nicht-menschlichen Lautgebung (dem „Heulen“ bzw. „Bellen“) ernst nahm, mit dem Eurasier einst einander zuhörten. Die universalistische Vorstellung letztlich gemeinsamer Tonsysteme, Ästhetiken, Instrumente, Rituale war musikbegeisterten Aufklärern (wie z. B. Johann Gottfried Herder) noch teuer,[3] wurde jedoch von der Fortschrittsidee einerseits und von Nationalismus und Kolonialismus andererseits verdrängt. Die amerikanischen Indianer, so meinten französische Forscher des 18. Jahrhunderts, besaßen Instrumente und Zeremonien, die denen der griechischen Antike mehr ähnelten als denen des heutigen Europa. Somit sei ihre Musik zwar nicht unkünstlerisch, aber unterentwickelt – und klinge außerdem schlecht.[4] Europäische Neugier für das Exotische führte zu teilweise kritischen Lerneffekten über die weltweiten Verschiedenheiten von musikalischer Praxis und Theorie.[5] Adolph Freiherr von Knigge erzählt 1784 von dem reisenden Herrn Brick, der es nach anfänglichen Versuchen aufgibt, den Tahitianern das Menuett-Tanzen beizubringen, da es ihren Körpern einfach nicht angemessen sei.[6] Die musikalische Tanzkunst des indischen Nautch erfreute sich bis zum 18. Jahrhundert respektvoller Wertschätzung im Westen, bevor sie im 19. und 20. Jahrhundert orientalistisch marginalisiert und ausgebeutet wurde.[7]
In der Tat haben Historismus und Exotizismus allmählich die Vorstellung universal gültiger Musikstrukturen verdrängt, bis diese im späten 20. Jahrhundert zusammen mit dem anthropologischen Strukturalismus (etwa eines Claude Levi-Strauss) fast völlig an Glaubwürdigkeit verlor. Jedoch war eine Art abgeschwächter Universaltheorie noch in der musikalischen Kulturkreislehre des 20. Jahrhunderts impliziert: Da diese Lehre die sinnfälligen Unterschiede des Musikmachens in verschiedenen Kulturen durch historische Evolution und Diffusion erklärte, erschien die Annahme gemeinsamer physikalisch-struktureller Ursprünge aller Musik noch theoretisch möglich. Die wissenschaftliche Rekonstruktion von Ursprüngen oder weltumspannenden Gemeinsamkeiten war eine wichtige Methode des Berliner Musikethnologen Erich von Hornbostel (seit 1905) und blieb für spätere naturwissenschaftlich arbeitende Musikethnologen weiterhin maßgeblich, etwa für die Afrikaforscher Simha Arom und Gerhard Kubik, von denen sie freilich auch hinterfragt wird.[8]
Die heute dominierende Methode der Musikethnologie, die in Deutschland zu Recht noch „vergleichende Musikwissenschaft“ heißt, hat sich von den historisierenden Ableitungs- und Reduktionsverfahren verabschiedet, die einst auch zu rassistischer Interpretation verzerrt werden konnten; sie konzentriert sich, obwohl nicht geschichtsblind, auf die soziokulturellen Unterschiede in den Musikerfahrungen der heutigen Welt.[9] Versteht man nun Musikphänomene konsequent als Teil ihrer eigenen soziokulturellen Umfelder, dann werden die traditionellen Forschungsmethoden der Phono-Aufnahme, der Eingliederung ins Archiv, der vergleichenden Analyse ethnischer Musik im ‚Trockenzustand‘ als eurozentrisch gesteuerte Entfremdungen kritisierbar.[10] Und das ‚Verstehen‘ musikalischer Kulturleistungen als Produkte ihrer spezifischen Umwelt scheint dem Historismus der Aufklärung immerhin darin Recht zu geben, dass er die Phänomene nicht auf natur- oder gottgegebene Prinzipien zurückführen, sondern in ihrer geschichtlichen Besonderheit erfassen wollte. Insofern heutige Musikwissenschaft die Musik der Welt als je verschiedene, lokale oder regionale Kulturphänomene versteht, kann sie auch die relativierende Macht zeitlicher Veränderungen nicht ignorieren. Auf dieser einfachen Überlegung beruhte das Anliegen des Projekts „Towards a global history of music“, nach den historischen Dimensionen heutiger geographischer Vielfältigkeit zu fragen.
Identität, Wanderung, Brückenschlag, Geschichtlichkeit
Dabei wurde aus dem Fragen in unserem Projekt oft genug ein Hinterfragen, wenn nämlich die Brüchigkeit kulturellen Besitzes und national-regionaler Identität am historischen Horizont erschien. Im Unterschied zu den heute gewöhnlich national verorteten physischen Artefakten scheint uns das Musikmachen selbst vor allem durch geschichtliche Wanderung, Erlernbarkeit und Anverwandlung gekennzeichnet. Die UNESCO-Prämiierung des „Tangible Cultural Heritage“, das von Architektur bis zum Schmuckgegenstand (und Musikinstrument) vor allem national verortbare Artefakte umfasst, wurde 2003 durch die „UNESCO Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage“[11] erweitert, worunter handwerkliche, künstlerische, kognitive und zeremonielle Traditionen verstanden werden. Gerade diese sind jedoch zwischen Kulturen vielfältig transferierbar oder wurden im Lauf der Geschichte weitergetragen, z. B. durch Kolonialisierung und Migration. Musik wandert leicht, besonders über lange Zeitspannen und im Gedächtnis vertriebener oder ihren Lebensunterhalt suchender Menschen. Den europäischen Phonogramm-Archiven kann vorgeworfen werden, Musik von Migranten zugunsten nationaler Traditionen ignoriert zu haben.[12] Die Musik der Sinti und Roma beispielsweise hat eine durch Wanderung erzielte Spannweite von Nordindien bis Westeuropa, gerade wenn man sie aus historischer Perspektive betrachtet.[13]
Die Großreiche Asiens haben von der Antike bis zum 20. Jahrhundert in je verschiedener Weise als musikalisch durchmessene Wegstrecken gedient, wobei Ästhetik und Wissensstand der Musik selbstverständlich den temporär herrschenden Machtformationen entsprachen – allerdings nicht ohne interne Regionalismen, Brüche und Widersprüche, etwa in der Sphäre des „Intercultural Islam“.[14] Als verbindende Brücke zwischen westlichen und östlichen Musikkulturen betrachten griechische Musikhistoriker die Rolle ihrer eigenen Region, nicht zuletzt im Zusammenhang von Kolonialismus und Modernisierung.[15] Transfer und Migration musikalischer Instrumente und Aufführungsstile charakterisieren die antike Kultur von Gandhāra (Nordwestindien): eine Kulturformation, die für das Projekt gerade durch ihre historisch vermittelnde Funktion paradigmatisch wirkte.[16] Die Vorstellung der Expedition, so sehr sie dann vom Kolonialismus vereinnahmt wurde, hat Musikreisende immer wieder inspiriert – nicht nur Eurasier im Mittelalter, sondern auch z. B. moderne Erforscher regionaler Schallplattenindustrien und Klangarchive.[17] In unserem Band „The Music Road“ wird der Weg durch den geographischen Raum explizit mit dem Weg durch die Geschichte verglichen:[18] ein langer, aber nicht doppelter Weg, da Musikkulturen gleichsam Raum-Zeit-Cluster sind, die sich an ihren geographischen wie chronologischen Enden an andere weitervermitteln. Somit lassen sich selbstverständlich Genealogien zwischen Musikkulturen nachzeichnen. Doch von der evolutionistisch-diffusionistischen Typologie der Kulturkreislehre unterschied sich unsere historische Methode dadurch, dass sie sich von konkreten historischen Zeugnissen der Musikpraxis und -ästhetik leiten ließ, anstatt Ursprünge oder Ableitungen auf Grund heute aufscheinender Strukturmerkmale zu konstruieren.[19] So konnte unser Projekt gerade aus historischer Perspektive die Problematik musikalischer Identität und des sogenannten ‚Kulturerbes‘ (cultural heritage) in der Musik wenigstens fallweise offenlegen. Den Trägern musikalischer Traditionen lernten wir zuzugestehen, dass sie in eigener Weise an Zeugnisse der Vergangenheit anknüpfen konnten, um ihrer ästhetischen Gegenwart gerecht zu werden. Persische Musikphilosophen des 12. und 13. Jahrhunderts leiteten musikmystische Anschauungen von Plato und Aristoteles ab;[20] eine jahrhundertelange mittelmeerische Tradition trug musikalische Informationen aus den Alexanderlegenden weiter.[21] Worin diese Autoren die Ursprünge ihrer Musikanschauung sahen, konnte ihnen kein Anthropologe vorschreiben – und durch einen Kulturkreis fühlten sie sich erst recht nicht beschränkt. Derartige Zeugnisse könnten bedeuten, dass die Frage der Geschichtlichkeit selbst, einschließlich derjenigen der Musik, nicht von einem modernen Vorverständnis her entschieden werden sollte.
Globalisierung oder Transkulturalität?
Der umfassendste Ableitungs- und Evolutionsmythos heutiger Kulturforschung ist offenbar das Konzept der ‚Globalisierung‘ selbst. Nach Jürgen Osterhammel ist die Globalisierung der letzten 300 Jahre auch in ihren Ansätzen und Vorformen zu erforschen; sie kann als eine langfristige geschichtliche Entwicklung gesehen werden.[22] Ein Teilmoment der Globalisierung ist ‚Modernisierung‘, die als Aktion fast immer vom Westen ausgegangen ist.[23] Globalisierung scheint ein besonderes Tempo zu haben, ist sozusagen ein beschleunigender Vektor in der Geschichte, die sonst nur aus einem Vor-sich-hin-Entwickeln der diversen Kulturen bestünde. Das aktive Verb ‚globalisieren‘ impliziert nicht nur ein Vorantreiben, sondern auch eine Zielgerichtetheit. Historiker kennen einerseits, aus der Phase des Imperialismus und Kolonialismus, die vom Abendland nach allen Weltregionen ausstrahlende radiale Globalisierung (mein Begriff, R.S.), andererseits die heute durch digitale Medien und internationale Korporationen aufgezwungene Globalisierung (R.S.), die weltweit von oben nach unten wirkt. Dass ohnehin der Begriff der ‚Weltmusik‘ und das Konsumdiktat der Musikindustrie zusammenhängen,[24] ist kaum mehr anzufechten, auch wenn Letztere nur noch selten in den früheren Zentren der westlichen Industrienationen ansässig ist. Jedenfalls stellt sich bei dieser aufgezwungenen Globalisierung die Machtfrage – d. h. die Frage, welche Mächte oder Gesellschaftsgruppen aus ihr den meisten Nutzen ziehen.
Radiale Globalisierung in der Musik war in der Geschichte vor allem Teil – wenn nicht sogar Zweck – von Kolonialisierung, obwohl noch genauer unterschieden werden könnte, inwieweit die Verbreitung westlicher Musik über die Welt nicht auch kolonisationsneutral oder sogar anti-kolonial funktionierte. Keine Frage der Zuordnung stellen die schönen Erzählungen des vom russischen Zaren nach Sibirien und Alaska entsandten Georg Steller (1709–1746) zur Kultur und Musik von Kamtschatka:[25] Hier handelt es sich um Nebeneffekte einer eindeutig imperialistischen Unternehmung. Schwieriger zu interpretieren ist die Geschichte der christlichen Missionen, in denen Musik eine immer noch unterschätzte Rolle gespielt hat, sei es in der Bekehrungspraxis, sei es im theoretischen Bewusstsein der Beteiligten. Unser Projekt profitierte einerseits von Vergleichen zwischen Missionsbestrebungen in verschiedenen Weltregionen,[26] andererseits von den Fragestellungen, die Anna Maria Busse Berger an die missionarische Musikpflege vor allem in Afrika gestellt hat.[27]
Dem Diskurs der Globalisierung stellt unser Projekt eine transkulturelle Interpretation gegenüber, die alternative und z. T. neutralere Schemata anbietet.[28] Zu ihren Vorbildern gehören postkoloniale Neubestimmungen von Kulturgeschichte, die auf die Musik bezogen werden können. Die selbstverständlich gewordene Vorstellung einer radialen Globalisierung kritisiert z. B. Dipesh Chakrabarty (2000) mit seinem Schlagwort „provincializing Europe“: der Reduktion einst als ‚universal‘ akzeptierter Diskurse wie Idealismus, Materialismus, Subjektivität, Demokratie usw. auf den Status regional und geschichtlich kontingenter Erscheinungen.[29] Zwei Romane von Vikram Seth illustrieren, im Vergleich, dem Verschwinden der Musik J. S. Bachs aus dem indischen Bildungshorizont.[30]
Im Sinne einer Neutralisierung der Einflussrichtungen wirkt das wissenschaftliche Paradigma der kulturellen histoire croisée bzw. des entanglement, das gegenseitige Einflussnahme zwischen Kulturen voraussetzt, oft über lange Zeitspannen hinweg, so dass die Ableitung „Ursprung > Rezeption“ wenn nicht unsichtbar, so doch als Ätiologie unbrauchbar wird.[31] ‚Orientalismus‘, die von Edward W. Said diagnostizierte westliche Imaginierung des asiatischen Ostens (oder anderer Weltregionen), sollte in ähnlicher Weise als transkultureller Diskurs neu interpretiert werden.[32] Gegenseitige und keineswegs immer negativ wertende Darstellungen west-östlicher Verschiedenheit sind in der Geschichte so zahlreich, dass sich der richtungsneutrale Sammelbegriff einer „East-West imagination“ empfiehlt.[33] Kaum aus Globalisierung erklärbar wären etwa Analogien zwischen den Praktiken militärischer und kriegerischer Musik in so weit voneinander entfernten Regionen wie Korea und Europa.[34]
Transkulturalität, wie sie Max Peter Baumann umrissen hat,[35] verhält sich alternativ zum Konstruieren von ethnischer, nationaler oder regionaler Identität, das die bisherige Musikwissenschaft stark bestimmt hatte; das Konzept der Transkulturalität lässt mehrfache Vermittlungsweisen und Richtungsänderungen des Kultureinflusses gelten. Eine Art des Eingehens auf kulturelle Verschiedenheit, das die Musikethnologie schon seit Jahrzehnten beobachtet, ist das Prinzip transkultureller Partizipation: Sie wurde ohnehin von Musikern und Musikerinnen schon praktiziert, bevor noch Identitätsfragen gelöst schienen.[36] Freilich ist transkulturelle Begegnung trotz Partizipation und Respekt auch immer wieder asymmetrisch, weil der Betrachtungsmodus von innen und außen sehr differieren kann. Das Erhalten musikalischer Traditionen (heritage) steht in Spannung zu deren Modernisierung und Anpassung. Was jedoch der ‚etisch‘ observierende Betrachtungsmodus als retrospektive Vergangenheitspflege zu erkennen meint, bedeutet für ‚emisch‘ beteiligte Aktivisten manchmal sogar Modernisierung – nämlich neuerwachten Regionalismus im Widerstand gegen radiale oder aufgezwungene Globalisierung.[37] Zusammenfassend gesagt, scheint uns die Sichtweise der Transkulturalität einen neuen Platz in der Epistemologie globaler Musikgeschichte zu beanspruchen.
Regionalismus, Verflechtung und Beharrung
Das Vermitteln zwischen Kulturformationen funktioniert selten ohne Hybridität und Anverwandlung. Das musikalische Traditionsbewusstsein ist „patchwork“: Es borgt anverwandelte Vorstellungen aus globalen, regionalen und lokalen Traditionen, die als Konflikt oder Verflechtung (intertwining, entanglement) empfunden werden können.[38] Eine Fallstudie unseres Projekts illustriert dies mit Hybridkombinationen zwischen traditionellen Musikinstrumenten Indonesiens und anverwandelter Popmusik.[39] Anderswo erwähnt werden moderne Kompositionen für traditionelle Instrumente wie das koreanische chanjak gugak,[40] vergleichbar etwa mit Cembalo-Kompositionen von De Falla oder Ligeti. Lange zurückliegende Anverwandlung europäischer Musik in Ostasien ist längst als Verflechtung oder mit Recht als Eigentradition beschreibbar geworden.[41] Komponisten der ostasiatischen Moderne passen ‚westliche‘ Prozeduren an die linguistischen Bedingungen der tonalen Sprachen wie Thai und Vietnamesisch an.[42] Die Pflege der Musik von Johann Sebastian Bach in Ostasien und Lateinamerika hat aus europäischen Einflüssen diverse Eigentraditionen entwickelt, die vor allem das je verschiedene Nationsbewusstsein des 20. Jahrhunderts gestärkt haben.[43] In der lateinamerikanischen Sphäre überlagern sich ohnehin einheimische Traditionen mit kolonialen (hispanischen) Einflüssen und einer transkulturellen Moderne zu nationalspezifischen Kulturbildern.[44]
Gerade die modernen Medien geben Musikern und Musikerinnen manche Chance, überregionale Vorgaben für regionale Musikpflege zu nutzen, nationale Traditionen zu stärken oder auf sie zu insistieren: Wie schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Phonograph in Indien,[45] so wurde etwas später die thailändische Schallplattenindustrie in dieser nie kolonialisierten Nation eine Basis nationaler bzw. regionaler Musikproduktion und deren Vermarktung.[46] Unter den Bedingungen des politisch-ideologisch definierten Nationalstaates konnte die polnische Avantgarde im Polish Radio Experimental Studio (PRES) weltweite künstlerische Entwicklungen erfolgreich mitvollziehen.[47] Ein Beispiel des Beharrens auf Diversität ist der „nicht-russische Stadtklang von Moskau“, wo im 21. Jahrhundert zwei Millionen meist muslimische Einwanderer aus den früheren Sowjetnationen über soziale Medien, Radio und Privatfernsehen ihre (freilich divergierenden) Musik-Identitäten verteidigen.[48] Entsprechendes geschieht wohl derzeit in vielen Weltmetropolen.
In zweierlei Weise hat Tobias Robert Klein die Musik Afrikas historiographisch beleuchten können: Er wies nach, dass sich die Pflege der geistlichen Musik J. S. Bachs in Ghana seit zwei Jahrhunderten durchaus autonom entwickelt hat – also ohne dass jedes Mal ein Rückbezug auf europäische Vorgaben erfolgte – und deshalb dieses Repertoire als Teil der eigenen Geschichte begreifen darf;[49] und er erforschte eine schon mehr als hundertjährige Serie afrikanischer Stellungnahmen zur Ästhetik und Theorie der Musik, wobei im Vergleich mit Europa der Gegensatz zwischen ‚absoluter‘ und performativer Musikkultur orientierend wirkte.[50] Hier wird im Unterschied zum Bilde langfristiger Verflechtung der Traditionen auch eine Diversität anerkannt, die sich zunehmend profiliert und neu historisiert werden kann.
Globaler Musikbegriff – globaler Geschichtsbegriff
Musik – oder was wir so nennen – ist weder als Praxis noch als Begriff universal. Vielleicht hat die traditionelle westliche Forschung die tiefen Gegensätze zwischen vokalen und instrumentalen Aufführungsformen, ja zwischen Darbietung, Magie, Mystik und Gebet unterschätzt, die es vor allem muslimischen Kulturen verbieten, dies alles unter demselben Musikbegriff zusammenzufassen. Ich erinnere mich an eine Konferenz internationaler Musikorganisationen mit dem Titel „Music as Cultural Heritage“ in Abu Dhabi (New York University Campus) 2017: Das bei solchen Veranstaltungen gewohnte Tagungskonzert war eine Quran-Rezitation, jedoch dargeboten von den spezialisierten Musikern der Dhow Countries Music Academy (Zanzibar). Dasjenige, was in der Welt als musikalisch zu gelten habe und als solches gelehrt und verbreitet wird, bestimmt sich immer noch weitgehend von der in Europa herangewachsenen Struktur der Musikausbildungsstätten: der Musikschule, des Konservatoriums, des Universitäts-Departments. Ein positiver Aspekt solcher Institutionen besteht freilich weiterhin darin, dass sie sich gelegentlich um die Erhaltung regionaler Musikpraxen bemühen, obwohl ihre Arbeit leider von der UNESCO-Prämiierung des „Intangible Cultural Heritage“ ausgeschlossen ist.
Ein Akzent der Sektion „Intercultural Islam“ in unserem Band „The Music Road“ liegt auf historischen Äußerungen zum Begriff des samāᶜ: Es handelt sich nicht um Musik im europäischen Sinn, sondern um das subjektive Hören und Genießen spiritueller und (für uns) musikartiger Erfahrungen der Sufi-Mystik.[51] Solche Diffusion zwischen Musik, Philosophie und Mystik ist wohl leichter zu verstehen, wenn deren historische Manifestationen auch in Europa und anderen Kontinenten vergleichend mitbetrachtet werden – vielleicht um den Preis eines einseitig an heutigen Verhältnissen orientierten Praxisverständnisses. Der etische, von außen kommende Betrachtungsmodus kann eine Praxis unter ‚Musik‘ subsumieren, die den Ausführenden selbst vielmehr als Identitätsbekundung oder Kommunikation in weiterem Sinne gegolten hat bzw. noch gilt. In der antik-mediterranen und dann europäischen Kulturgeschichte ist z. B. das sogenannte ‚Rezitativ‘ eine akustische Maßnahme zum Zweck von Wortmitteilung, nicht eine Musikart.
Inspirierend wirkte in unseren Forschungen die mehrfach wiederkehrende Beobachtung, dass der Geschichtsbegriff selbst nicht universal ist.[52] Wenn Barbara Titus die maskanda songs in Südafrika als musikalische Erzählpraxis (igama) mit „historiographischen Implikationen“ charakterisiert,[53] so geschieht dies auf der Grundlage einer breiteren Kritik der europäischen Voraussetzungen von Historiographie (z. B. der Bedingung von Schriftlichkeit), denen die von ihr untersuchte Praxis nicht angemessen ist. Das Erzählen von Dingen der Vergangenheit – auch musikalischer Dinge – geschieht selbst bei schriftlicher Abfassung oft genug in Formen theoretischer Abhandlungen, Legenden oder narrativer Unterhaltung wie z. B. elitären „Tischgesprächen“. Letztgenanntes ist der Fall des beliebten Resāle musiqi von Derwish ‘Ali Changi (16. Jahrhundert),[54] das im mediterran-europäischen Bereich an Autoren wie Aulus Gellius oder Athenaios zu erinnern einlädt, wenn nicht gar an eine musikspezifische Erzählung wie Simone de’ Prodenzanis „Il Saporetto“ (Orvieto, ca. 1415).
Pragmatische Schlussbemerkung
Das vorliegende musikwissenschaftliche Projekt, das auf der Grundlage des Balzan-Preises für Musikwissenschaft 2012 zustande kam, hat von Anfang an internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert. Zu den Beratern und Beraterinnen gehörten Mitglieder von sechs Musikforschungsinstituten in Oxford, Zürich, Wien, London, Jerusalem und Berlin, namentlich Gottfried Scholz (Wien) und Laurenz Lütteken (Zürich); die Forschungsarbeit wurde durchgeführt von 23 meist jüngeren Stipendiaten und Stipendiatinnen, die auch die Tagungen koordinierten, und von über 120 Referenten aus vielen Ländern. Andere interkontinentale Wissenschaftsgremien nehmen sich inzwischen der globalen Musikgeschichte an.
Da jedoch vergleichende Kulturwissenschaft heute noch im Westen rascher wächst als in anderen Weltregionen, ist auch die Akzeptanz solcher Forschung im Weltvergleich beschränkt oder jedenfalls weniger gesichert als es noch vor 20 Jahren erscheinen mochte. Neue Versuche von sharing, Versöhnung und Brückenschlag sind dringend nötig. Neuanstöße sind etwa der International Balzan Prize Foundation zu verdanken, die unter dem Gremienvorsitz von Salvatore Veca (Mailand) auch etwa die globalgeschichtliche Forschung von Jürgen Osterhammel (2018) und die Islamforschung von Michael Cook (2019) prämiiert hat. Aber der Weg ist noch sehr lang, und neuerdings vielleicht länger geworden, seit nach dem Jihadismus auch der Fundamentalismus und politische Populismus westlicher Nationen neue Hürden für globale Verständigung aufgerichtet haben. Die daraus entstehende Aufgabe scheint erstens, neue institutionelle Plattformen zu finden, die über die akademischen und musealen Establishments der westlichen Welt hinausreichen und Musiker und Musikerinnen anderer Regionen direkt einbeziehen. Zweitens sollte das Streben nach interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Ethnologie und Geschichte, das das Projekt bereits im Ansatz kennzeichnete, durch ein Heraustreten aus der rein wissenschaftlichen Sphäre erweitert werden. Musiker und Musikerinnen aller Kulturen müssten ermächtigt werden, ihre musikalische Vergangenheit selbst wissenschaftlich und praktisch zu erfahren und zur Geltung zu bringen. Dass sie solche Erfahrung dann auch wieder weltweit teilen möchten, wäre heute technisch möglich und ist zunehmend zu erwarten, wo immer der Wille besteht.
© 2022 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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