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Katharina Hajek / Ina Kerner, Iwona Kocjan, Nicola Mühlhäuser: Gender Studies zur Einführung

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Published/Copyright: November 10, 2025
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Hajek Katharina / Kerner Ina, Kocjan Iwona, Mühlhäuser Nicola: Gender Studies zur Einführung. Hamburg Junius 2025, 350 S., 19.95 Euro


Als mir vor einiger Zeit zu Ohren kam, dass eine Einführung in Gender Studies in Planung ist, dachte ich, »die Koblenzerinnen« sind größenwahnsinnig, denn wie soll die Komplexität der Gender Studies auf einen Einführungsband reduziert werden? Angesichts der Tatsache, dass die schon immer existierende Kritik an Gender Studies inzwischen zu einem lauten Geschrei gegen Gender – vor allem von rechts – angeschwollen ist, braucht es freilich genau diesen Größenwahn, um dem antifeministischen Klima etwas entgegenzusetzen.

Die Autor:innen machen gleich in der Einleitung klar, dass die Geschichte der Gender Studies nicht erst 1990 mit Judith Butlers Buch »Gender Trouble« beginnt: Vielmehr sehen sie eine lange historische Kontinuität feministischer Forschung, der Forschung von Frauen und über die Unterdrückung von Frauen seit der politischen Moderne, in dem, was die Autor:innen »kritische Analysen der Geschlechterverhältnisse« nennen (S. 13). Diese Phasierung ist bemerkenswert, ist doch die feministische Forschung heute durch tiefe Konflikte über die Verwendung des Gender-Begriffs und durch strikte Abgrenzungen von Gender gekennzeichnet. Auch wenn im Buch an mehreren Stellen auf diese Konflikte verwiesen wird, werden sie nicht in dem Sinne vertieft, dass daraus Erkenntnisse für eine intersektionale Kritik von Geschlechterverhältnissen und Herrschaft durch heteronormative Zweigeschlechtlichkeit gezogen werden. Da sind die Autor:innen zu zurückhaltend, während doch gerade Konflikte über Themen wie Sexarbeit, Religion oder Trans* zur Schärfung feministischer Perspektiven und Positionen beigetragen haben.

Wenn ich diese Kritik gleich am Beginn der Besprechung anbringe, dann deshalb, weil mir die Lektüre des Einführungsbandes nicht nur Spaß gemacht, sondern auch viel Bewunderung für die umfassende historische und systematische Darstellung der Gender Studies eingetragen hat. Den Autor:innen ist ein wichtiges Buch gelungen, das nicht nur eine Momentaufnahme des aktuellen Standes der Gender Studies und der bisherigen Entwicklungen ist, sondern darüber hinaus auch einen Zugriff auf Gender und eine Systematik der sozialwissenschaftlichen Gender Studies bildet, die eine Weile Bestand haben werden. Die Verfasser:innen arbeiten Kontinuitäten sowie Ausdifferenzierung in überzeugender Weise heraus und öffnen Raum für vielfache Diskussionen. Dass beispielsweise kritische Männlichkeitsforschung auch unter das Dach der Gender Studies gehört, ist seit Raewyn Connells Intervention zu »hegemonialer Männlichkeit« wenig umstritten, stellt aber in diesem Band dennoch einen überraschenden Beitrag zu wichtigen zukünftigen Debatten dar.

Nach drei einführenden oder überblicksartigen Kapiteln zu »frühen Positionen der Geschlechterkritik« (Kap. 2), »Gender: Ein Begriff und seine Bedeutung« (Kap. 3) und »Die Konstruktion von Geschlecht« (Kap. 4) folgt die weitere Kapitelstruktur des Buches einer thematischen Schwerpunktsetzung, die die aktuellen, vornehmlich sozialwissenschaftlichen Debatten in den Gender Studies gut widerspiegelt: Intersektionalität, Queer Theory, Kritische Männer- und Männlichkeitsforschung, Neue Materialismen, Feministische Perspektiven auf den Staat, Transnationaler Feminismus sowie schließlich Care, Reproduktion und Relationalität. Die Kapitel umfassen jeweils etwa 13 bis 20 Seiten, sind kompakt und nicht ausufernd – und es gelingt dennoch, die historische Entwicklung der jeweiligen Konzepte, Definitionen, aber auch kontroverse Debatten und Standpunkte herauszuarbeiten.

Da es müßig wäre, alle Themen detailliert darstellen zu wollen, will ich nur große Linien und Thesen, die sich durch den Band ziehen, skizzieren. Die Autor:innen weisen erstens bereits in der Einleitung darauf hin, dass Frauenforschung und Gender Studies immer aktivistisch und politisch waren und sind, dass diese Politisierung kein Makel, sondern Motivation ist, aber auch den steten Ausgangspunkt der kritischen Sicht auf vergeschlechtlichte Praxen, Institutionen und Strukturen bildet (S. 12f.; S. 25f.). Dass sich akademische Diskurse aber auch vom aktivistischen Kontext entfernen können, wird an den Diskussionen um Intersektionalität deutlich gemacht (S. 152). Sehr gut gelungen sind zweitens die vielfältigen Theoriebezüge der Gender Studies, ihre so diverse Verankerung in Marx’schen und neo-marxistischen Vorstellungen, in Freuds Psychoanalyse, der Diskurstheorie von de Saussure und Foucault, in Bourdieus Habitusbegriff oder der Ethnomethodologie von Goffman. Diese Namen mögen manche, die eine Einführung suchen, vielleicht erschrecken, aber da alle Kapitel gut untergliedert sind, können die Ausführungen zu den Theoretikern auch übersprungen werden. Drittens richtet sich die Gliederung der einzelnen Kapitel an wichtigen theoretischen Protagonist:innen des jeweils vorgestellten Themenbereichs bzw. Konzepts aus. So entsteht ein dichtes Gedankengewebe, das eine historische Perspektive eröffnet und zugleich gut strukturiert in Definitionen und Positionen einführt. Klar wird viertens, dass Gender Studies nicht nur – wie oft verzerrend dargestellt – Diskurse oder Performativität als zentrale Bestimmungsmomente von Ungleichheit, Diskriminierung und Ausschluss sehen, sondern, dass Materialität, Leiblichkeit und ökonomische Strukturen ebenso wichtig sind für die Konfiguration wie auch für die kritische Analyse von Geschlechterverhältnissen. Das Kapitel 8 »Neue Materialismen« hebt dies speziell hervor. Kapitel 6 zur »Queer Theory« zeigt fünftens besonders gut, dass und wie es den Autor:innen gelingt, immer wieder Bezüge zwischen neu entwickelten Konzepten und vorherigen Diskussionen herzustellen. So ziehen sich die Überlegungen von Judith Butler durch den Einführungsband, ohne dass sie aber als Überperson der Gender bzw. Queer Studies aufgedrängt wird. Sechstens zeigen die Kapitel die Entwicklung von der Frauenforschung zu den Gender Studies auf, wie die »Feministischen Perspektiven auf den Staat« (Kap. 9), in dem die frühe Suche nach Frauen im Staat über die Kritik staatlicher Männlichkeit hin zu intersektionalen Theoretisierungen von Staatlichkeit nachvollzogen wird. Siebtens ist es der Verortung der Autor:innen in der Politikwissenschaft, aber auch ihrem feministischen Anspruch der politisch-aktivistischen Perspektive geschuldet, dass die Kapitel die politische Dimension des jeweiligen Themas diskutieren: Kapitel 11 zu Care und Reproduktion beschränkt sich beispielsweise nicht allein auf Care-Arbeit, sondern hebt auch die politische und demokratische Bedeutung von Sorge und Relationalität hervor.

Eignet sich das Buch als Einführung? Ja! Denn mit dem 3. und 4. Kapitel stellen die Autor:innen solide und verständliche Grundlagen des Konzepts »Gender«, seinen vielfältigen Bedeutungen und Interpretationen vor. Theoretische Bewegungen der Dekonstruktion und der Pluralisierung von Geschlecht werden gut nachvollziehbar dargelegt, auch gerade durch die Präsentation des anfänglichen Widerstands gegen das Konzept Gender.

Sicher, ein Einführungsband muss immer Lücken aufweisen, er kann nicht alles berücksichtigen. Die Lücken aufzuzählen, wäre beckmesserisch. Dennoch sind mir einige Dinge aufgefallen: So wird deutlich, dass es um eine sozialwissenschaftliche Sicht auf Gender Studies handelt, und die Autor:innen konzedieren, eine eher westliche Perspektive einzunehmen. Aber der Band ist keineswegs methodologisch-nationalistisch verengt, sondern weitet die Sicht immer wieder über den westlichen Tellerrand. So öffnet das Kapitel 10 »Transnationaler Feminismus« den Blick für transnationalen feministischen Aktivismus wie auch für feministische Analyse und Kritik globaler Ausbeutungsverhältnisse.

Was ich vermisst habe, ist die Erwähnung des Hannoveraner Ansatzes. War doch Regina Becker-Schmidt eine der ersten im deutschen Sprachraum, die eingefordert hat, nicht nur über Frauen, sondern über Geschlechterverhältnisse zu forschen. Und die Kritische Theorie, in deren Tradition die Hannoveranerinnen stehen, hat zu emanzipatorischer Forschung, auch der Gender Studies, viel beigetragen.

Nicht nur um diese Lücke zu füllen, wünsche ich dem Band eine große Leserschaft, neue Auflagen, in denen Überarbeitungen möglich sind und wo dann die im Schlusskapitel angesprochene Geschlechterpanik gesellschaftlich und politisch hoffentlich keine Rolle mehr spielt.

Published Online: 2025-11-10
Published in Print: 2025-11-25

©2025 Birgit Sauer, published by De Gruyter

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