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Vincent Streichhahn (Hrsg.): Feministische Internationale. Texte zu Geschlecht, Klasse und Emanzipation 1832–1936

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Published/Copyright: November 10, 2025
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Streichhahn Vincent (Hrsg.): Feministische Internationale. Texte zu Geschlecht, Klasse und Emanzipation 1832–1936. Berlin Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2024, 236 S., € 20,00.


Die von Vincent Streichhahn herausgegebene Anthologie versammelt 23 Texte von Autorinnen aus 13 Ländern und vier Kontinenten, die zwischen 1832 und 1936 entstanden. Einige wurden erstmals ins Deutsche übersetzt. Ergänzt wird die Sammlung durch Erklärungen der ersten drei Internationalen Konferenzen Sozialistischer Frauen (von 1907, 1910 und 1915) sowie das Manifest der Ersten Internationalen Konferenz Kommunistischer Frauen (1920).

Trotz der zeitlichen und geographischen Diversität der Beiträge teilen sie eine gemeinsame Perspektive: Zunächst betrachten alle die Anliegen der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung als inhärent miteinander verwoben. »Das Interesse des Geschlechts hebt das Klasseninteresse der Frauen nicht auf« (160) bringt die niederländische Sozialistin Henriëtte Roland Holst 1898 die Verschränkung von Klasse und Geschlecht auf den Punkt. Aus amerikanischer Perspektive ergänzt Louise Thomson Patterson in ihrem Beitrag von 1936, dass die Unterdrückung aufgrund von »race« als »dreifache Ausbeutung« Schwarzer Frauen »als Arbeiterinnen, als Frauen und als Schwarze« (210) zu kritisieren sei. Die, auch von Streichhahn in der Einleitung hervorgehobene, »intersektionale Perspektive avant la lettre« ist ein Beispiel für die teils erschütternde Aktualität vieler der behandelten Themen und Argumente. So folgt aus dem Zusammendenken von Klasse und Geschlecht als Unterdrückungskategorien eine weiterhin aktuelle Kritik am bürgerlichen Feminismus, die sich wie ein roter Faden durch den Band zieht. Alexandra Kollontai könnte auch den neoliberalen Feminismus des 21. Jahrhunderts meinen, wenn sie 1911 schreibt, dass es nicht ausreiche, wenn Frauen »in der kapitalistischen Gesellschaft die gleichen Vorteile, die gleiche Macht und die gleichen Rechte […] erlangen, wie sie ihre Ehemänner, Väter und Brüder besitzen« (185).

Die Texte sind zugleich kritische Gesellschaftsanalyse und dringender Aufruf zur Gesellschaftsveränderung. Wie kurze biographische Notizen zu den Beiträgen zeigen, waren die Autorinnen als Aktivistinnen und Politikerinnen eingebunden in feministische und sozialistische Bewegungen ihrer Zeit. Sie engagierten sich in Parteien und Gewerkschaften, gründeten Organisationen zur Unterstützung von Arbeiterinnen, Vereine zur Stärkung von Frauenrechten und Zeitschriften, in denen sie gegen Ausbeutung und Unterdrückung anschrieben – und das oft gegen massive Widerstände. Davon zeugen zum Beispiel der 1851 von Jeanne Deroin und Pauline Roland im Gefängnis verfasste Brief und die letzten Tagebucheinträge der japanischen Anarchistin Kanno Sugako, die 1911 aufgrund ihres politischen Engagements hingerichtet wurde.

Die gesammelten Texte sind eindrucksvolles Zeugnis eines Jahrhunderts feministischen und sozialistischen Denkens und Engagements. Während die ebenso grundsätzlichen wie radikalen Forderungen – Gleichheit zwischen Mann und Frau, Beendigung von Klassenherrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung – sich im Laufe der Zeit wenig ändern, scheinen sich mit den Jahrzehnten des Kampfes Wut und Ungeduld und die Schärfe der geforderten Mittel zu steigern. Wenn die französische Sozialistin Jeanne-Victoire Jacob in ihrem Text von 1832 Frauen noch dazu aufruft, »den unwiderstehlichen Charme Eurer Schönheit« und »die Süße Eurer mitreißenden Worte« einzusetzen, um auch Männer vom Kampf gegen Ausbeutung und Tyrannei gegen die Frau zu überzeugen, so fordert die sozialistische Suffragette Annie Kenney 1913, »dass jede Frau niemals ohne einen Hammer in der Tasche auf die Straße gehen sollte« ( 82), um Schaufenster und Briefkästen einzuschlagen, um allen Bürger:innen so lange Schwierigkeiten zu machen, bis sie sich den Demonstrationen für das sofortige Frauenwahlrecht anschlössen.

Von den im Band behandelten Themen stechen drei besonders hervor: das Wahlrecht für Frauen, die Rolle von Frauen in der Arbeiter:innenbewegung und die Mehrfachbelastung durch Lohn-, Haus- und Sorgearbeit zugleich. Die Kritik am Ausschluss der Frauen von politischen Rechten und die Forderung nach einem sofortigen Wahlrecht ist in fast allen Beiträgen zentral. Bis auf zwei Ausnahmen, wurden alle im Band enthaltenen Texte vor der Durchsetzung des Frauenwahlrechts in den jeweiligen Ländern verfasst. Die Autorinnen entlarven die Scheinheiligkeit bürgerlicher Gleichheitsideale, die Frauen systematisch ausschließen. Im Unterschied zum bürgerlichen Feminismus ist das Wahlrecht aus sozialistisch-feministischer Perspektive Mittel, nicht Endzweck. Gleiche politische Rechte »bereiten lediglich den Weg für den Kampf« (152), so Roland Holst. Ohne Stimmrecht blieben die Interessen von Frauen unsichtbar und Frauenthemen unbeachtet (siehe den Beitrag von Mary Lee). Die irische Gewerkschafterin Eva Gore-Booth sieht das Frauenwahlrecht als wichtiges Mittel im Kampf für die Verbesserung von Arbeitsrechten und damit als zentrales Thema der Gewerkschaftsbewegung (72).

Feministische Internationale zeigt den viele Jahrzehnte andauernden Kampf und die politische Anstrengung hinter der Umsetzung des allgemeinen Wahlrechtes und der politischen Gleichstellung der Geschlechter. Und dennoch ist das Versprechen einer gleichen politischen Repräsentation aller auch im globalisierten 21. Jahrhundert nicht eingelöst: Eine zunehmende Anzahl von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung bleibt ohne Stimmrecht, der Frauenanteil im deutschen Parlament sank 2025 auf 32,4 %, und liegt bei den Abgeordneten der Kanzlerpartei CDU bei lediglich 22,6 % (Deutscher Bundestag: Abgeordneten-Statistik 2025). Die Arbeitsrealitäten in der Politik wirken weiter ausschließend gegenüber Menschen die Care-Verantwortung übernehmen – viele Menschen bleiben politisch unterrepräsentiert, und ihre Interessen unzureichend vertreten.

Mit Blick auf die Lage der arbeitenden Frauen liegt für die im Buch vertretenen Autorinnen die Überschneidung von Frauen- und Klassenunterdrückung auf der Hand. Diese Einsicht hatte sich aber in der Arbeiterbewegung als ganzer nicht durchgesetzt. So zeugen die versammelten Texte auch vom oft schwierigen Verhältnis zwischen Frauen und Arbeiterbewegung. Kollontai (184) schreibt zum Beispiel: »Die Arbeiter haben nicht sofort begriffen, dass die Frau in dieser Welt der Rechtlosigkeit und Ausbeutung nicht nur als Verkäuferin ihrer Arbeitskraft, sondern auch als Mutter und Frau unterdrückt wird.« Konfrontiert mit patriarchalen Strukturen und Sexismus innerhalb der Arbeiterbewegung, wenden die Autorinnen beachtliche Energie und argumentative Kraft auf, um Männer von der Relevanz frauenpolitischer Themen zu überzeugen. Sie argumentieren eindringlich, dass eine Befreiung der Arbeit ohne die Befreiung der Frau nicht möglich sei und nur ein gemeinsam, solidarisch geführter Arbeitskampf erfolgreich sein könne: So appelliert die französische Schriftstellerin Flora Tristan in ihrem Text von 1843 an das Eigeninteresse der Arbeiter, um an der Seite von Frauen zu kämpfen: »Im Namen eurer eigenen Interessen, ihr Männer, eurer eigenen Verbesserung, schließlich im Namen des allgemeinen Wohles aller fordere ich euch auf, Rechte für die Frau zu verlangen, bis das geschieht, sie ihr wenigstens im Prinzip anzuerkennen« (59).

Die Arbeiterbewegung müsse eine Politik von und für Frauen entwickeln, schließt die Sozialistin Yamakawa Kikue aus Erfahrungen aus der japanischen Textilindustrie und beschreibt die Arbeiterinnen als »Schlüssel zur Gewerkschaftsbewegung« (130). Auch Eleanor Marx hebt hervor, dass der Klassenkampf in dem Maße gestärkt werde »wie die Frauen und namentlich die Männer einsehen lernen, welche Kraft in der Vereinigung aller Arbeiter liegt« (69).

Die unzureichende Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten und Interessen von Frauen sowie mit vermeintlichen »Frauenthemen« hat die Arbeiter:innenbewegung historisch geschwächt und blinde Flecken hinterlassen, die bis heute nachwirken. Ein Beispiel dafür ist die unbezahlte Reproduktionsarbeit, die lange Zeit als privat, unproduktiv und als irrelevant für den Klassenkampf betrachtet und somit aus politischen Kämpfen und Programmen weitgehend ausgeklammert wurde. Unbezahlte Reproduktionsarbeit spielt jedoch in Feministische Internationale eine Rolle, wenngleich sie nicht als solche bezeichnet wird. Viele Autorinnen berichten anschaulich von der äußerst belastenden Situation von Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, die neben langen Arbeitstagen als Fabrikarbeiterinnen oder Haushälterinnen zugleich die Verantwortung für Mann, Haus und Kinder tragen – mit oft brutalen Konsequenzen für Frauen, Kinder und Gesellschaft (siehe zum Beispiel die Beiträge von Adelheid Popp oder Nadeschda Krupskaja).

Die Texte machen klar: Dem doppelt freien Lohnarbeiter steht im Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die doppelt unfreie arbeitende Frau gegenüber. Sie hat weder bürgerliche Rechte noch ist sie frei, ihren Lebensunterhalt wie es ihr beliebt durch Lohnarbeit zu bestreiten. Ihre Freiheit, einer Lohnarbeit nachzugehen, ist zunächst dadurch beschränkt, dass sie gleichzeitig für Haus und Kinder sorgen muss. Darüber hinaus beklagen die Autorinnen Versuche, das Recht von Frauen auf Lohnarbeit zu beschränken, sowie die Entwertung von Frauenarbeit durch Unterbezahlung, Überausbeutung und unwürdige Arbeitsbedingungen (siehe die Beiträge von Gertrud Guillaume-Schack, Clara Zetkin, Gore Booth, Malnati, Kikue und Roland Holst).

Während die Mehrfachbelastung von Frauen zwischen Haushalt-, Sorge- und Lohnarbeit ein zentrales Thema des Bandes ist, bleibt die Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Sorgearbeit unausgereift. So wird die Abwertung der Sorgearbeit, die dem Kapitalismus ja durchaus dienlich ist, da sie deren Nichtbezahlung legitimiert, teilweise reproduziert. Roland Holst argumentiert etwa, dass eine Frau, die sich dem Haushalt und den Kindern widmet, statt einer Lohnarbeit nachzugehen, für die Gesellschaft »nicht produktiv« oder »nützlich« sei (148). Die geschlechtliche Arbeitsteilung und damit die Zuständigkeit von Frauen für Kinder und Haushalt wird in den meisten Texten nicht grundsätzlich in Frage gestellt – nur vereinzelt finden sich Vorschläge zur Vergesellschaftung der Kindererziehung (siehe Roland-Holst) durch finanzielle Unterstützung der Familien und ausreichende Versorgung mit guten Kindergärten und Schule (siehe Krupskaja).

Männer spielen bei der Frage nach der Zuständigkeit für Sorgearbeit in den Texten keine Rolle. Beeindruckende Ausnahme ist der Beitrag der bengalischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Begum Rokeya. In ihrem 1905 verfassten Text entwirft sie ein utopisches »Ladyland«, in dem die Rollen vertauscht sind: Frauen beenden Kriege, übernehmen Bildung und Forschung, investieren in Erfindungen wie Solarenergie, steuern das Wetter und reduzieren den Arbeitstag auf zwei Stunden fokussierter Arbeit – während die Männer zu Hause bleiben und sich um Haushalt und Kinder kümmern.

Insgesamt zeigt die Textsammlung, dass die frühe feministisch-sozialistische Analyse von Sorgearbeit unzureichend war. Es fehlte die von marxistischen Feministinnen seit den 1970er Jahren so klar vorgenommene Einordnung von Sorgetätigkeiten als Arbeit und ihre Kritik an der Aneignung dieser Arbeit durch das Kapital. Dies ist aber entscheidend, um die Relevanz von Reproduktionsarbeit als Lebensproduktion (vgl. dazu zum Beispiel Frigga Haug in Das Argument 314/2015) für den Kapitalismus und darüber hinaus sichtbar zu machen und eine Umverteilung der Arbeitszeit zwischen Güter- und Lebensproduktion einerseits und zwischen den Geschlechtern andererseits einzufordern. Die aktuelle Debatte um Arbeitszeitverkürzung und deren Bedeutung für eine gerechtere Verteilung von Lohn- und Sorgearbeit bietet hier wichtige Anknüpfungspunkte für eine feministischsozialistische Politik des 21. Jahrhunderts.

Insgesamt ist Feministische Internationale ein beeindruckendes Zeitdokument. Wenn manche Argumente auch veraltet wirken, so bleiben andere weiter hochaktuell. Die Texte bilden einen reichen Fundus kritischer Gesellschaftsanalyse, der teils traurig, teils wütend, oft hoffnungsvoll stimmt und bis heute wertvolle Impulse für feministische Theorie und Praxis liefert.

Published Online: 2025-11-10
Published in Print: 2025-11-25

©2025 Marisol Sandoval, published by De Gruyter

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  42. Förderverein
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