Für die feministische Konzeptualisierung von Klasse und Geschlecht bildet(e) die marxistische Klassenanalyse häufig den Ausgangspunkt, von dem aus die doppelte Vergesellschaftung von Frauen (vgl. Becker-Schmidt 2025) oder der Charakter der Hausarbeit (Haubner/Aulenbacher, in diesem Heft) analysiert wurden. Wenn über Klasse gesprochen wird, darf also die sozialistisch-marxistische Position nicht fehlen. Und im Kontext mit Geschlecht steht dafür vor allem der Name Clara Zetkin. Sie hat in ihren Reden und Schriften argumentiert, dass die Situation von Frauen ein integraler Aspekt der kapitalistischen Entwicklung darstellt und eine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die nicht die existentiellen Probleme der arbeitenden Frauen aufgriffe, scheitern müsse. Gegenüber der sozialistischen Emanzipationstheorie wurde im Feminismus der Vorwurf erhoben, die Frauen kämen dort nur als »Nebenwiderspruch« vor und der Situation von Frauen würde keine eigenständige Beachtung geschenkt (Menschik 1971, Dalla Costa 1978). Das ist zu simpel. Dass Zetkins Position differenzierter ist, zeigt die hier abgedruckte Rede.
Clara Zetkin, geborene Eißner, wurde 1857 in Wiederau (Sachsen) geboren und wuchs später in Leipzig auf. Dort kam die Lehrerstochter nicht nur in Kontakt zur bürgerlichen Frauenbewegung, sondern auch zur Arbeiterbewegung und besuchte Vorträge von Wilhelm Liebknecht und August Bebel im Leipziger Arbeiterbildungsverein. Gemeinsam mit dem russischen Revolutionär Ossip Zetkin, den sie dort kennen lernte, verließ die junge Sozialistin aufgrund der Sozialistengesetze Deutschland und lebte bis zu Zetkins Tod (1889) mit ihm in Paris. Das Paar bekam zwei Söhne und lebte unter schwierigen ökonomischen Bedingungen. Erstmals öffentliches Aufsehen und internationale Bekanntheit erlangte Clara Zetkin durch ihren Auftritt beim Internationalen Arbeiterkongress in Paris 1889, wo sie grundlegend in die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart einführte und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes proletarischer Frauen und Männer betonte. Damit wurde die Frage der Frauenemanzipation programmatisch für den Klassenkampf und zugleich in der Sozialdemokratie verankert. Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 kehrte Clara Zetkin nach Deutschland zurück, wo ihr die Redaktion einer proletarischen Frauenzeitschrift angetragen wurde, die sie 25 Jahre lang leitete: Die Gleichheit erschien ab 1892; sie sollte Arbeiterinnen aufklären, für sozialistische Ideen gewinnen und für die politische Arbeit mobilisieren. Die Herausgabe der Gleichheit kann zweifellos als wichtiger Bestandteil des Lebenswerkes von Zetkin gelten, ein zweiter war die erfolgreiche Institutionalisierung des Internationalen Frauentages, mit dem ab 1911 in vielen Ländern für die Einführung des Frauenstimmrechts geworben wurde. Ab dem Ersten Weltkrieg begann für Zetkin ein politisch wechselhaftes Leben. Als Pazifistin geriet sie in Konflikt mit der Majorität der SPD, die den Krieg unterstützte und war 1917 Gründungsmitglied der USPD. Gemeinsam mit ihrer Freundin Rosa Luxemburg wechselte sie dann zur KPD und wurde in den Deutschen Reichstag gewählt, dem sie von 1920 bis 1933 angehörte. Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten starb Clara Zetkin 1933 im russischen Exil (zu Zetkins Biographie vgl. z. B. Badia 1994, Hervé 2007, Zucker 2021).
Nach ihrer Rede auf der II. Internationalen 1889 in Paris legte Clara Zetkin auf dem SPD-Parteitag 1896 in Gotha einen weiteren Grundstein ihrer Frauenemanzipationstheorie. Diese hier in Auszügen dokumentierte Rede geht der Entstehung der Frauenfrage in den unterschiedlichen Klassen nach, und zwar der Frauenfrage bei den oberen Zehntausend, in klein- und mittelbürgerlichen Kreisen und der bürgerlichen Intelligenz sowie im Proletariat und arbeitet die jeweiligen Unterschiede heraus. Zetkin erkennt an, dass es ein Recht aller Frauen auf Gleichstellung in Politik, Bildung und Beruf gibt und auf gleichberechtige Geschlechterbeziehungen ohne Gewalt. Diese Frauen, so Zetkin, müssen ihre Forderungen gegen die Männer ihrer Klasse durchsetzen. Die Frauen aus der Oberschicht und dem Bürgertum seien damit grundlegend anders positioniert als die proletarischen Frauen, die bereits in das Erwerbsleben eingebunden sind. Der Befreiungskampf der proletarischen Frau werde nicht gegen den Mann der eigenen Klasse geführt, sondern gemeinsam mit dem Mann ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse.
Ausgehend sowohl von August Bebel und seinem 1879 erstmals erschienenen Buch Die Frau und der Sozialismus als auch von Friedrich Engels Untersuchung Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, die fünf Jahre später in Erstauflage erschien, betont Zetkin die Notwendigkeit der beruflichen und politischen Emanzipation proletarischer Frauen und die Notwendigkeit, sie als Mitkämpferinnen der Männer zu gewinnen. Demzufolge fordert sie die Planung und Strukturierung einer sozialistischen Frauenagitation, die mündlich auf Frauenversammlungen und schriftlich mithilfe von Frauenpresse und Broschüren betrieben werden soll. Frauen aufzuklären und in den sozialistischen Kampf einzubeziehen, stellt die eine Seite der Forderungen Zetkins dar. Auf der anderen kritisiert sie damit gleichzeitig die Haltung vieler proletarischer Männer, die Arbeiterinnen als Schmutzkonkurrentinnen und Lohndrückerinnen sehen und sogar ein Verbot der Frauenarbeit fordern. Zetkins Position ist im Hinblick auf das Fehlen von Gewalt in der proletarischen Familie und in Bezug auf Mutterschaft verklärt; von der bürgerlichen Frauenbewegung grenzt sie sich strikt ab. Das liegt aber auch an ihrem Fokus und am Ziel der Rede. Diese ist auf die Bedingungen der Erwerbsarbeit gerichtet, und sie will die Parteitagsdelegierten davon überzeugen, Frauen nicht als Konkurrentinnen auf dem Lohnerwerbssektor zu bekämpfen, sondern als wichtige Mitstreiterinnen für gerechte Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen anzuerkennen, als Voraussetzung dafür, sie für das sozialistische Projekt zu gewinnen.
Als Basis für den Neuabdruck der Rede haben wir das Originalprotokoll des Parteitages gewählt (Friedrich-Ebert-Stiftung 1896). Wir veröffentlichen den ersten Teil der Rede, in der Zetkin grundlegende Aspekte ihrer Frauenemanzipationstheorie erläutert. Bisher haben die seltenen Neuveröffentlichungen auf die im Dietz-Verlag 1957 erschienene Ausgabe von Clara Zetkins Werken zurückgegriffen (Gerhard, Pommerenke, Wischermann 2008, 189–200). Die Unterschiede sind nicht gravierend, aber leichte Abweichungen davon gibt es doch, so wenn gegen Ende ein Nebensatz der editorischen Bearbeitung zum Opfer gefallen ist: Ziel der Frauenemanzipation sei, so die Rednerin, dass proletarische Frauen »ihre Individualität zu einem harmonischen Kunstganzen, ihr Leben zu einem Kunstwerk« gestalten könnten.
Literatur
Badia, Gilbert (1994): Clara Zetkin. Eine neue Biographie. Berlin: Dietz.Suche in Google Scholar
Bebel, August (1946 [1879]): Die Frau und der Sozialismus. Berlin: JHW Dietz Nachf. GmbH.Suche in Google Scholar
Becker-Schmidt, Regina (2025): Frauen und Deklassierung. In: feministische studien. 1/2025, 91–105.10.1515/fs-2025-0006Suche in Google Scholar
Dalla Costa, Mariarosa (1978): Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. In: Dalla Costa, Mariarosa, James, Selma (Hrsg.): Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Berlin: Merve, 27–66.Suche in Google Scholar
Engels, Friedrich (1973 [1892]): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. 11. Aufl. Mit dem Vorwort zur ersten Auflage 1884. Berlin: Dietz.Suche in Google Scholar
Friedrich-Ebert-Stiftung (1896): Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Gotha. https://library.fes.de/parteitage/pdf/pt-jahr/pt-1896.pdf (15.07.2025).Suche in Google Scholar
Gerhard, Ute, Pommerenke, Petra, Wischermann, Ulla (Hrsg.) (2008): Klassikerinnen feministischer Theorie 1. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer, 185–200.Suche in Google Scholar
Hervé, Florence (2007): Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist. Berlin: Dietz.Suche in Google Scholar
Menschik, Jutta (1971): Gleichberechtigung oder Emanzipation? Die Frau im Erwerbsleben der Bundesrepublik. Frankfurt a. M.: Fischer.Suche in Google Scholar
Zucker, Lou (2021): Clara Zetkin. Eine rote Feministin. Berlin: Das Neue Berlin.Suche in Google Scholar
©2025 Elisabeth Klaus und Ulla Wischermann, published by De Gruyter
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Artikel in diesem Heft
- Gesamtheft 43 ②
- Frontmatter
- Artikulationen von Klasse und Geschlecht II
- Artikulationen von Klasse und Geschlecht. Konzeptionelle Überlegungen
- Von Männerquartetten und Abgehängten: Ein Gespräch über Gender, Race, Class im Kapitalismus
- Klasse oder was? Perspektiven einer klassismuskritischen queerfeministischen Politik
- »Feminist movement cannot put forward a perspective of social change without addressing the question of class«. Wages for Housework Campaign, witch-hunting today and feminist politics of the commons
- Archiv
- Clara Zetkin und die sozialistische Frauenemanzipationstheorie
- Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Gotha (16. Oktober 1896)
- Klasse, Geschlecht und Distributionsverhältnisse
- Bilder und Zeichen
- Elif Saydam – Lebensfreude gegen Klassismus, Rassismus und Sexismus
- Malereien aus den Schwamm- und Spätiserien
- Diskussion
- Die Unaushaltbarkeit demokratischer Kontingenz? Über Angriffe auf trans* Lebensweisen und Politiken als Angriffe auf Demokratie
- Im Gespräch
- »This year the Pride represented a tipping point« – the 2025 Pride Parade in Budapest, the restrictions of LGBTIQ+ rights and gender and queer studies in Hungary
- Dank
- Regine Othmer seit 40 Jahren bei den feministischen studien – wir gratulieren!
- Ausstellungsbericht
- »Milieudinge – von Klasse und Geschmack« und von Geschlecht?
- Rezensionsessay
- Bibliothekarinnen, Erbinnen, Feministinnen, Frauen- und Geschlechterforscherinnen im Institut für Sozialforschung zwischen 1923/24 und 2025
- Rezension
- Dagmar Hoffmann, Florian Krauß, Moritz Stock, (Hrsg.): Fernsehen und Klassenfragen
- Brigitte Aulenbacher / Helma Lutz / Ewa Palenga-Möllenbeck / Karin Schwiter (eds.), 2024: Home Care for Sale. The Transnational Brokering of Senior Care in Europe
- Vincent Streichhahn (Hrsg.): Feministische Internationale. Texte zu Geschlecht, Klasse und Emanzipation 1832–1936
- Katharina Hajek / Ina Kerner, Iwona Kocjan, Nicola Mühlhäuser: Gender Studies zur Einführung
- Beate von Miquel, Claudia Mahs, Antje Langer, Birgitt Riegraf, Katja Sabisch, Irmgard Pilgrim (Hrsg.): #Me too in Science
- Autorenverzeichnis
- Zu den Autor:innen
- Abstracts
- Abstracts
- Erratum
- Erratum zu: Sperk, Verena (2025): »Was hat uns Österreich gekostet?« Affektive Artikulationen von Klassen-, Geschlechter- und Migrationsverhältnissen in Ein schönes Ausländerkind
- Jahresinhaltsverzeichnis
- Jahresinhaltsverzeichnis
- Bestellformular
- Bestellformular
- Förderverein
- Förderverein
- Ausblick
- Ausblick auf die nächsten Hefte
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- Gesamtheft 43 ②
- Frontmatter
- Artikulationen von Klasse und Geschlecht II
- Artikulationen von Klasse und Geschlecht. Konzeptionelle Überlegungen
- Von Männerquartetten und Abgehängten: Ein Gespräch über Gender, Race, Class im Kapitalismus
- Klasse oder was? Perspektiven einer klassismuskritischen queerfeministischen Politik
- »Feminist movement cannot put forward a perspective of social change without addressing the question of class«. Wages for Housework Campaign, witch-hunting today and feminist politics of the commons
- Archiv
- Clara Zetkin und die sozialistische Frauenemanzipationstheorie
- Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Gotha (16. Oktober 1896)
- Klasse, Geschlecht und Distributionsverhältnisse
- Bilder und Zeichen
- Elif Saydam – Lebensfreude gegen Klassismus, Rassismus und Sexismus
- Malereien aus den Schwamm- und Spätiserien
- Diskussion
- Die Unaushaltbarkeit demokratischer Kontingenz? Über Angriffe auf trans* Lebensweisen und Politiken als Angriffe auf Demokratie
- Im Gespräch
- »This year the Pride represented a tipping point« – the 2025 Pride Parade in Budapest, the restrictions of LGBTIQ+ rights and gender and queer studies in Hungary
- Dank
- Regine Othmer seit 40 Jahren bei den feministischen studien – wir gratulieren!
- Ausstellungsbericht
- »Milieudinge – von Klasse und Geschmack« und von Geschlecht?
- Rezensionsessay
- Bibliothekarinnen, Erbinnen, Feministinnen, Frauen- und Geschlechterforscherinnen im Institut für Sozialforschung zwischen 1923/24 und 2025
- Rezension
- Dagmar Hoffmann, Florian Krauß, Moritz Stock, (Hrsg.): Fernsehen und Klassenfragen
- Brigitte Aulenbacher / Helma Lutz / Ewa Palenga-Möllenbeck / Karin Schwiter (eds.), 2024: Home Care for Sale. The Transnational Brokering of Senior Care in Europe
- Vincent Streichhahn (Hrsg.): Feministische Internationale. Texte zu Geschlecht, Klasse und Emanzipation 1832–1936
- Katharina Hajek / Ina Kerner, Iwona Kocjan, Nicola Mühlhäuser: Gender Studies zur Einführung
- Beate von Miquel, Claudia Mahs, Antje Langer, Birgitt Riegraf, Katja Sabisch, Irmgard Pilgrim (Hrsg.): #Me too in Science
- Autorenverzeichnis
- Zu den Autor:innen
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- Erratum
- Erratum zu: Sperk, Verena (2025): »Was hat uns Österreich gekostet?« Affektive Artikulationen von Klassen-, Geschlechter- und Migrationsverhältnissen in Ein schönes Ausländerkind
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