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Elif Saydam – Lebensfreude gegen Klassismus, Rassismus und Sexismus

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Published/Copyright: November 10, 2025
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Welcher Kontrast zwischen unserem Titelbild und den hier zum Thema abgedruckten Arbeiten. Dort schwarz-weiß und im wahrsten Sinne todernst, hier bunt, verspielt, mit einem Hauch von Kitsch – jedenfalls auf den ersten Blick. Dort Bewegung – die Unterdrückten angefeuert von Margarete Renner, einer der wichtigsten Protagonist:innen, beim Beginn ihres Aufstands gegen die Feudalherren, hier Ruhe – Alltagsgegenstände und -orte verziert, verformt, verfremdet. Auch die künstlerischen Ausdrucksmittel ganz anders: Radierung in damals revolutionärer Druckweise auf Papier im Kontrast zu Fotografie und Miniaturmalerei auf unterschiedlichen Gegenständen – jedoch verwenden beide Künstler:innen eine Mischtechnik, legen für ihre Zeit experimentelle, überraschende, mutige Werke vor. Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit. Beiden, Käthe Kollwitz wie Elif Saydam, deren Arbeiten 120 Jahre trennt, geht es um einen lebenswerten Alltag, um Respekt und menschenwürdige Lebensbedingungen für jene, die in der Klassenhierarchie der Gesellschaft unten angesiedelt sind. Beide werfen feministische Blicke auf ihre Sujets. In Kollwitz’ Blatt »Losbruch«, einem Höhepunkt ihrer Serie zum Bauernkrieg 1524/25, steht die »Schwarze Anna« im Mittelpunkt, gestaltet nach einer der ganz wenigen namentlich bekannten Aktivistinnen der Aufstände. Sie gibt die Richtung vor für eine wütende und bewaffnete Menge unterschiedlicher Menschen im Hintergrund der Radierung, Frauen und Männer, Alte und Junge (Walter 2022).

Auf Elif Saydams Arbeiten sind keine Menschen zu sehen, keine Aufstände gegen Unrecht und Ausgrenzung und doch nimmt sie in seinen Arbeiten Partei für Migrant:innen, Arbeiter:innen, queere Lebensentwürfe. Ihre Kritik kommt auf leichten Sohlen und verstohlen daher, verbirgt sich hinter, oder vielleicht besser in Ornamentation und fröhlichen Farben, zwingt in der vordergründigen Lebensfreude zum Hinschauen und zur Reflexion. Das erste Bild: ein Herz als klassischer Kitschgegenstand, mit weiß-orangenen Blüten vor dem Hintergrund einer Fotografie, die ein Mehrparteienhaus und die Anzeigetafel einer Tankstelle zeigt. Im Mietshaus wohnen nicht die Reichen und Schönen unserer Gesellschaft und die hohen Benzinpreise weisen auf Krieg und Konflikte hin, die anderswo ausgefochten werden, – dort, wo die Privilegierten selbst nicht leben, dort, von wo mit einiger Sicherheit manche Bewohner:innen des Hauses unmenschlichen Lebensbedingungen entflohen sind.

Träger der Fotomalerei ist, wie auch bei den beiden folgenden Arbeiten, ein Küchenschwamm. Auch das mutet ein wenig albern und unernst an und ist genau deshalb wohl so entlarvend. Der Küchenschwamm als Symbol für das Putzen und die Drecksarbeit, für Arbeit, die als traditionelle Aufgabe der Frauen unbezahlt bleibt oder miserabel entlohnt und oft von Migrant:innen verrichtet wird. Das dritte Bild bildet die Brücke zu Saydams Späti-Serie, von der wir nachfolgend vier weitere Bilder zeigen. Die Späti-Arbeiten Saydams kreisen um die zahlreichen kleinen Läden und Büdchen Berlins mit Öffnungszeiten bis spät in die Nacht, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Die Ladenbesitzer:innen stammen häufig aus migrantischen Communities, fühlen sich türkischen, kurdischen, syrischen oder palästinensischen Gemeinschaften zugehörig. Ihre Läden befinden sich im Wedding, in Neukölln, Kreuzberg oder Moabit. Die Verdienstmöglichkeiten sind bei schlechten Arbeitsbedingungen gering, oft muss die ganze Familie mithelfen, um das Geschäft 24 Stunden offen zu halten. Die dort kaufen, gehören aber oft anderen Klassen und ethnischen Gruppen an. Es sind die Akteur:innen der Gentrifizierung, in deren Folge die Spätis verschwinden werden (Speed 2022). Wieder haben die Bilder verschiedene Ebenen, die sich mischen. Den Hintergrund bilden Fotos, die Ausschnitte aus einem grauen Berlin mit Miethäusern und den Eingängen der Spätis zeigen. Darauf wiederum Miniaturmalerei, mit Motiven, die sich an persische und osmanische künstlerische Traditionen anlehnen, aber auch auf dekorative Elemente zurückgreifen, wie sie im Alltag das Heim verschönern sollen. Zugleich drücken die Bilder Respekt für diejenigen aus, die in diesen Vierteln wohnen und arbeiten.

»Die gemalten Verzierungen der Arbeiten versprühen eine geradezu kindliche Freude. Aber sie sind auch eingebunden in ein immerwährendes Zwiegespräch über die Möglichkeit eines legitimen und fürsorglichen Austauschs zwischen Künstler*innen und den von Ihnen behandelten Sujets, insbesondere dann, wenn es sich hierbei um Einzelpersonen oder Communities handelt.« (Speed 2022, o. S.)

Es sind nicht nur die sozialen Hierarchien, die Elif Saydam thematisiert, sondern auch jene des Kunstbetriebs, der zwischen Künstler:in, Sujet und Betrachter:in Beziehungen der Über- und Unterordnung konstituiert. Die mit Klasse, Geschlecht und Race verbundenen Wertigkeiten unserer Gesellschaft unterlaufen seine Malereien auch in ästhetischer Hinsicht. Elif Saydam hat einen türkisch-kanadischen Hintergrund und lebt in Berlin. Schon als Kind habe sie fortwährend alle möglichen Gegenstände dekoriert, dann aber auf der Kunsthochschule erfahren, dass »dekorativ« und »ornamental« stets negativ verwendet wurde für etwas, das keinesfalls als Kunst gilt. Im Interview mit dem Kurator ihrer Soloausstellung im MIT List Visual Arts Center 2025 sagt der Künstler: »Later on, I avoided painting anything, partly out of a misguided shame for this boundless impulse – seen as gauche in a different geography – until I, thankfully, realized this gesture spoke volumes about class and belonging.« (Ngin und Saydam 2025, 03)

Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass Elif Saydam Symbole der Hochkultur mit jenen der Populärkultur verwegen durchmischt. Miniaturmalerei trägt sie auf ein banales Alltagsobjekt auf, für manche Ornamente und Farbflächen verwendet er Blattgold, westliche Kunststandards bricht sie durch die Vermischung mit anderen, etwa persischen Einflüssen auf. Das alles muss man eigentlich im Original sehen, um Subversion, Untergraben, Offenlegen im Moment des Sehens und der Freude an den Bildern zu spüren. Es stimmt, was Elif Saydam in unserem Gespräch sagt: »Es ist wie bei den ›Alten Meistern‹: Die Gemälde sind besser in der Realität.« Die unterschiedlichen Ebenen werden deutlicher, die Farben leuchten intensiver, unmittelbar ›wissen‹ wir, dass hier »a vernicular object or place to a site of devotion (through miniature painting and illumination)« (Saydam im E-Mail an d. Verf.) geworden ist. Glücklicherweise sind seine Arbeiten in Gruppenausstellungen zu sehen und inzwischen auch in zahlreichen Soloausstellungen in Deutschland, Österreich, Kanada, den USA , 2025 bei der Istanbul Biennale in der Türkei.

Die Freude, das Vergnügen, die überbordende Lust am Experimentieren mit dem Insider-Outsider-Dasein, mit den verschiedenen Orten unserer Zugehörigkeiten, auch mit den Machverhältnissen und Hierarchien kommt aber auch in den hier abgedruckten Fotografien der Werke zum Ausdruck. Im Gespräch vergleicht Elif Saydam diesen Aspekt ihrer Arbeit mit den Pride Parades, deren Überschwang, Vielfalt, Lust an der Übertreibung und Zurschaustellung. »The paintings ›perform‹ queerness, while also understanding the limitations these identity markers entail in an unjust world.« (ebd.) Es geht darum, die Rolle als Außenseiter:in anzunehmen und die vorherrschenden Normen zu übertreten, anstatt sich ihnen zu unterwerfen. So gesehen stellen Elif Saydams Malereien, ihre und seine Miniaturen Akte der Befreiung und des Widerstands dar, beharren auf Menschenwürde und wenden sich gegen Klassismus, Rassismus und Sexismus.


Die Autorin dankt Elif Saydam sehr herzlich für den spannenden Austausch und die Bereitstellung seiner Bilder sowie Stefanie Haferbeck von der Tanya Leighton Galerie Berlin für die Vermittlung des Kontakts. Elif Saydam wünscht sich eine spielerische und irritierende Verwendung von Geschlechterbezeichnungen (»Genderfuck«), weswegen die Bezeichnungen in diesem Beitrag variieren.


Literatur

Speed, Mitch (2022): Irgendwann fängt alles an, aufzuhören. In: Camera Austria, 159/2022.Search in Google Scholar

Ngin, Zach und Saydam, Elif (2025): Berlin-based artist Elif Saydam conceives of painting as a space for the projection of fantasy. Zach Ngin und Elif Saydam im Interview anlässlich ihrer Soloausstellung im MIT List Visual Arts Center, Cambridge, Massachusetts. https://listart.mit.edu/exhibitions/list-projects-32-elif-saydam (17.07.2025).Search in Google Scholar

Walter, Anna Luisa (2022): Das Kunstwerk des Monats. Münster: LWL-Museum für Kunst und Kultur. Westfälisches Landesmuseum, August 2022. https://www.lwl-museum-kunst-kultur.de/media/filer_public/f7/d6/f7d692cf-937f-4ebe-aebc-ab0b767b9a8c/02_kdm_august_22_56zeilen_hr.pdf.Search in Google Scholar

Published Online: 2025-11-10
Published in Print: 2025-11-25

©2025 Elisabeth Klaus, published by De Gruyter

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  41. Förderverein
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