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»Milieudinge – von Klasse und Geschmack« und von Geschlecht?

Zur Sonderausstellung der Sammlung Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin 19.6.25 bis 2.3.26
  • Birgitt Riegraf EMAIL logo
Published/Copyright: November 10, 2025
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In der Ausstellung des Werkbundarchivs – Museum der Dinge in Berlin steht die Frage im Zentrum, wie Design und Funktionalität in der Gestaltung von Alltagsgegenständen zusammenkommen. Die Exponate reichen von Möbeln über Haushaltswaren bis hin zu innovativen Designstücken, die die Entwicklung des Designs im 20. und 21. Jahrhundert widerspiegeln. Das Museum in Berlin wurde 2005 gegründet. Die Geschichte des Werkbunds selbst reicht allerdings bis ins Jahr 1907 zurück. Zu dieser Zeit schlossen sich Künstler:innen, Architekt:innen, Unternehmer:innen und andere Sachverständige mit dem Ziel zusammen zu einer neuen Warenästhetik beizutragen. Bis heute will der Werkbund die Qualität von Alltagsdingen verbessern, indem er auf eine engere Verbindung zwischen ästhetischen und funktionalen Aspekten von Alltagsdingen hinarbeitet. Im Museum der Dinge findet in wechselnden Ausstellungen, Veranstaltungen und Bildungsangeboten eine Auseinandersetzung damit statt, wie Kunst, Handwerk und Industrie das tägliche Leben in Gesellschaften beeinflussen – und umgekehrt.

In der Dauerausstellung des Werkbundarchivs werden in einem offenen Depot rund 15.000 Objekte gezeigt, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erfunden und entworfen, produziert und gehandelt, gekauft und genutzt, repariert und entsorgt wurden. Dass asymmetrische Geschlechterkonstruktionen in das Design der Alltagsdinge einfließen und diese durch ihre Anwendung immer wieder neu reproduzieren werden, wird zwar an der einen oder anderen Stelle in der Dauerausstellung angedeutet, aber insgesamt nicht nachvollziehbar und systematisch entwickelt. Dabei machen die Exponate und ihre Entwicklungsgeschichte vielfältige Angebote zu solchen Reflexionen. So gehört zur Sammlung des Museums der Dinge eine Frankfurter Küche, die als Vorläuferin der Einbauküche gilt und die als bedeutendes Beispiel für modernes Design sowie funktionale Raumgestaltung im 20. Jahrhundert gezeigt wird. Die Frankfurter Küche wurde von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) in den 1926er Jahren im Rahmen des Projektes Neues Frankfurt gestaltet, einem Städteplanungsprogramm, das unter anderem zur Bekämpfung der Wohnungsnot diente. Margarete Schütte-Lihotzky schloss 1919 als eine der ersten Frauen in Österreich ihr Studium der Architektur ab. Als erklärte Feministin wollte sie mit der Frankfurter Küche zu einer Verbesserung der Arbeitssituation vor allem von Arbeiterinnen beitragen.

Der Gestaltung der Frankfurter Küche lag die Idee zugrunde, die Küchenarbeit so rational und effizient wie einen industriellen Arbeitsplatz zu gestalten, um so zur Entlastung und Vereinfachung der Haushaltsführung für berufstätige Frauen beizutragen. In ihrer Konzeption orientierte sich Schütte-Lihotzky unter anderem an tayloristischen Modellen und an der Speisewagenküche der Eisenbahn: Durch genaue Messungen von Schritten und Bewegungsmustern sollten etwa die Abstände in der Küche optimiert und platzsparend auf die Arbeitsprozesse zugeschnitten werden. Alle wichtigen Dinge sollten mit einem Handgriff erreichbar sein und die Arbeitsgänge mit einer Vielzahl von Geräten effizient organisiert werden können.

Im Museum der Dinge wird die Frankfurter Küche als kulturelles Artefakt präsentiert, das die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Zeit widerspiegelt. Angesichts der Grundidee der Erfinderin, der Geschichte der Frankfurter Küche und der sozialhistorischen Veränderungen von Küchenarbeit läge nichts näher als die Verbindung zwischen Geschlecht und gesellschaftlicher Haus- und Industriearbeit, zwischen Geschlecht und Architektur, zwischen Geschlecht und Alltagsgegenständen, zwischen geschlechtlicher Ungleichheit und Design offensiv herzustellen und aufzuarbeiten. Geschlechterbezogene Perspektiven werden allerdings in der Präsentation der Sammlung, wenn sie überhaupt thematisiert werden, lediglich angedeutet. Diese Verknüpfung herzustellen bleibt den Besucher:innen, ihren Interessen, ihren vorhandenen oder nicht vorhandenen Kenntnissen überlassen.

Weitgehend geschlechtsblind bleibt auch die Sonderausstellung des Werkbundes zu »Milieudinge – von Klasse und Geschmack« (Juni 2025 bis März 2026). Auch diese Ausstellung spart das Naheliegendste aus: Eine systematische Integration der Kategorie Geschlecht findet nicht statt. Die Sonderausstellung »Milieudinge – von Klasse und Geschmack« zeigt, dass alltägliche Gegenstände nicht lediglich dazu da sind, uns den Alltag angenehmer zu gestalten und uns in der Alltagsarbeit zu entlasten: Hanteln, Socken, Handtaschen oder Trüffelöl transportieren auch soziale Bedeutungen, die weit über ihren Dingcharakter hinausgehen. Über ihren Besitz und über die Verwendung dieser Alltagsgegenstände positionieren sich Gesellschaftsmitglieder, und sie werden anhand dieser Gegenstände von anderen Gesellschaftsmitgliedern im sozialen Raum verortet. Der Besitz, die Nutzung und die Klassifizierung von Alltagsgegenständen offenbaren tief verwurzelte soziale Ungleichheitsstrukturen und Klassenunterschiede und fungieren auch als Statussymbole. Alle von uns täglich verwendeten Dinge erzählen also Geschichten von gesellschaftlichen Ungleichheits- und Machtverhältnissen, von sozialen Zugehörigkeiten und von sozialen Abgrenzungen. Dabei kann sich die soziale Bedeutung der Alltagsdinge im Laufe gesellschaftlicher und biographischer Wandlungsprozesse verändern, und sie entziehen sich dann und wann ihrer ursprünglichen Bedeutung und Zuordnung. So können Statussymbole der Reichen wie bestimmte Schweizer Luxusuhren dadurch beträchtlich an symbolischem Wert verlieren, dass sie in Gestalt von billigen Kopien mit gefaktem Markennamen plötzlich als Massenware den Markt überschwemmen. Ein Beispiel für Wertsteigerung ist dagegen die Neuschöpfung eines ursprünglich einfachen Spielzeugs aus Luftballons als Kunstfigur von Jeff Koons. Sie wurde zu einer hochgehandelten Ikone. In der Ausstellung wird sie wiederum als Imitat aus China gezeigt.

 »Balloon Dog«-Figur, hergestellt in China, ca. 2020
Foto: Armin Herrmann (Quelle: Pressemappe)

»Balloon Dog«-Figur, hergestellt in China, ca. 2020

Foto: Armin Herrmann (Quelle: Pressemappe)

Die Sonderausstellung »Milieudinge – von Klasse und Geschmack« möchte die Besucher:innen dazu einladen, den Geschichten zuzuhören, die die Gebrauchsgegenstände erzählen, mit denen wir uns alltäglich umgeben und sie fordert uns auf darüber zu reflektiveren, in welcher Weise wir uns durch den Gebrauch welcher Alltagsgegenständen alltäglich an der komplexen Dynamik der Herstellung von gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen beteiligen.

 »Luxus Leder Handtasche für Damen« in Birkin Bag-Optik, Sandberg, Hongkong, 2024
Foto: Armin Herrmann (Quelle: Pressemappe)

»Luxus Leder Handtasche für Damen« in Birkin Bag-Optik, Sandberg, Hongkong, 2024

Foto: Armin Herrmann (Quelle: Pressemappe)

Die Kurator:innen der Sonderausstellung verfolgen einen interdisziplinären Ansatz, das Team setzt sich aus Vertreter:innen der Kunstgeschichte, des Designs, der Soziologie und der Kulturwissenschaften zusammen. Ihnen geht es darum – um es in der Sprache von Pierre Bourdieu zu formulieren –, die Verbindung zwischen dem Geschmack sozialer Gruppen und ihrer sozialen Herkunft herzustellen. In der Ausstellung werden nicht nur Gebrauchsgegenstände, wie Geschirr, Textilien, Accessoires in ihrer Gestaltung und ihrer gesellschaftlichen Klassifizierung etwa am Beispiel von Lampen als Kitsch, Luxus oder als rein pragmatisch und funktional vorgestellt. Parallel zur Darstellung der Alltagsgegenstände führt die Ausstellung in Ungleichheits- und Sozialstrukturanalysen ein, erläutert anhand von Schaubildern die Ständepyramide, das sogenannte Dahrendorfhäuschen oder die Kartoffelgebilde der Sinus-Milieustudien und führt über einen Film in das Bourdieu’sche Habituskonzept ein.

Anhand verschiedener Ungleichheitskonzepte und Sozialstrukturmodelle wird visualisiert und erläutert, wie die Ausdifferenzierung von Gesellschaften jeweils begriffen wird, etwa als Schichten, Klassen oder Milieus. Darüber, dass Alltagsgegenstände und Sozialstrukturanalysen in der Sonderausstellung nebeneinander gestellt werden, soll den Besucher:innen die Verbindung zwischen den Alltagsdingen und ihrer symbolischen Bedeutung sowie der sozialen Herkunft und des Lebensstils der Anwender:innen greifbar gemacht werden. So wird anhand von Materialien, der Verarbeitung und den Markennamen von Taschen gezeigt, wie diese in verschiedenen Milieus aufgenommen oder bevorzugt werden, z. B. einfache, funktionale Varianten versus hochwertige, statusorientierte Taschen. Es wird auch dargestellt, wie das Design einer eher funktionalen Tasche im Laufe der Zeit durch Verwendung hochwertiger Materialen eine Umdefinition zum Statusobjekt erfahren kann. Zugleich laden die Aussteller:innen zur Selbstreflexion ein: Wie ordnen wir uns und andere entlang dieser Gegenstände ein? Warum erhalten welche Dinge welche Bedeutungen?

Die Sonderausstellung »Milieudinge« zeigt aber auch, wie soziologische Kenntnisse in die Gestaltung sozialer Umwelten eingreifen: So wird anhand eines Wohnungsbauprojekts veranschaulicht, wie die Milieu-Einteilungen des Sinus-Instituts für Markt- und Sozialforschung bei der Gestaltung von Wohnquartieren genutzt werden. Die regelmäßig durchgeführte Sinus-Milieu-Studie teilt gesellschaftliche Gruppen entlang von ähnlichen Lebensauffassungen, Wertvorstellungen und Lebensstilen ein. Die Ergebnisse dieser Milieu-Studien dienen wiederum Architekt:innen und Stadtplaner:innen dazu, (Wohn)Räume entlang der Wertvorstellungen und Lebensstile der einzelnen Milieus zu gestalten. Die Frage, ob damit nicht auch zur Verfestigung von sozialen Ungleichheits- und Distinktionsmechanismen beigetragen werden kann, wird in der Ausstellung leider ausgespart. Die Diskussion einer solchen mindestens ambivalenten Rückwirkung von Ungleichheits- und Sozialstrukturanalysen, bleibt den Besucher:innen selbst überlassen.

Auch in der Sonderausstellung wird die Tatsache, dass etwa asymmetrische Geschlechterkonstruktionen in das Design der Alltagsdinge einfließen und diese Geschlechterkonstruktionen durch ihre Anwendungen immer wieder neu reproduzieren werden, dass Geschlechter unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Normen an ihren Geschmack und ihre ästhetischen Entscheidungen ausgesetzt sind, zwar an der einen oder anderen Stelle angedeutet, aber eben nicht nachvollziehbar und systematisch entwickelt. So galt die Frankfurter Küche in ihrer Zeit als fortschrittlich, aber sie war zugleich daran ausgerichtet, Arbeiterinnen in beiden Bereichen zu halten: Sowohl in der Hausarbeit als auch in der Industriearbeit. Diese weitgehende Geschlechtsblindheit zeigt sich zudem in der Auswahl der soziologischen Analysen: Keinem der vorgestellten Gesellschaftsmodelle liegt eine durchdachte Verbindung zwischen Klasse und Geschlecht zugrunde. So inspirierend die Sonderausstellung in der Frage, wie Klasse, soziale Milieus und Lebensstile und die Verwendung von Alltagsdingen miteinander verwoben sind, auch sein mag, die weitgehende Aussparung der Kategorie Geschlecht bleibt in der Sammlung und in der Sonderausstellung eine unverzeihliche Leerstelle. Geschlechterungleichheiten können sich etwa in der Gestaltung von Möbeln, Kleidung und Kunstwerken manifestieren, die in ihrer Nutzung wiederum jeweils als »typisch«, »passend« oder »unpassend«, »geschmackvoll« oder »weniger geschmackvoll« klassifiziert werden. Viel deutlicher hätte herausgearbeitet werden müssen, wie Geschlecht den Zugang zu kulturellen Dingen kanalisiert und wie männliche Dominanz die Vorstellungen von Geschmack und die Wahrnehmung von Ästhetik beeinflusst. Diese Leerstelle regt aber zugleich zu weiterführenden Überlegungen wie etwa den folgenden an: Was bedeutet dieser Geschlechterbias für die Arbeit des Werkbundes und für die Gestaltung von Alltagsdingen? Wie wirkt sich diese Leerstelle auf Designs und Architektur aus und wie auf die Gestaltung von (Wohn)Quartieren? Inwiefern wird durch diese De-Thematisierung Geschlechterungleichheit wiederum ständig (re)produziert?

Es gibt ein ausführliches Begleitprogramm zur Ausstellung mit Vorträgen, Lesungen und Diskussionen, u. a. mit Daniela Dröscher (»Zeige deine Klasse«), Texten von Didier Eribon, Annie Ernaux, Édouard Louis, mit Anke Stelling (»Bodentiefe Fenster«, »Schäfchen im Trockenen«) und Jutta Allmendinger (»Klassismus und mangelnde Bildungsgerechtigkeit«).

Ausstellungsort: Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Leipziger Straße 54, D-10117 Berlin

Published Online: 2025-11-10
Published in Print: 2025-11-25

©2025 Birgitt Riegraf, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

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  42. Förderverein
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Downloaded on 31.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fs-2025-0038/html
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