Schickhaus, Tobias Akira: Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie. Studien zu deutsch- und japanischsprachigen Texten von Yoko Tawada. Bielefeld: transcript, 2017. – ISBN 978-3-8376-4086-1. 321 Seiten, € 39,99.
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Klaus Hübner
Rezensierte Publikation:
Schickhaus, Tobias Akira: Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie. Studien zu deutsch- und japanischsprachigen Texten von Yoko Tawada. Bielefeld: transcript, 2017. – ISBN 978-3-8376-4086-1. 321 Seiten, € 39,99.
Die Münchner Dissertation von Tobias Akira Schickhaus, der am Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth tätig ist, befasst sich, vornehmlich im Rückgriff auf die zentralen wissenssoziologischen Texte von Karl Mannheim (1893–1947), mit dem kollektiv-sozialen Denkstil sowohl des literarischen Schaffens als auch seiner Rezeption. Wie wird historisch repräsentatives Wissen über Interkulturalität in Literatur organisiert, vermittelt und kommentiert? Die Arbeit richtet ihr Augenmerk auf die „objektiv-vorfindbaren und weltanschaulichen Bedingungen“ für die ästhetische Autonomie eines literarischen Werks (12). Der methodisch-theoretische Ansatz Karl Mannheims könne, so die Ausgangsthese des Verfassers, mit den fachrelevanten Implikationen der Interkulturellen Literaturwissenschaft (IKLW) gewinnbringend verknüpft werden. Denn: „Das mit dem Präfix ‚Inter-‘ vorausgesetzte Bedeutungsfeld eines Zwischenraums, das den Dialog zwischen dem Eigenen und dem Fremden erst ermöglicht, korrespondiert mit dem Mannheim’schen Ansatz des konjunktiven Erkennens.“ (17). Karl Mannheims nicht unbedingt systematisches, verstreut publiziertes und – anders als das Œuvre von Niklas Luhmann – kaum mehr genauer bekanntes Werk wird im ersten Teil der Studie vorgestellt. Im zweiten Teil wird die praktische Anwendbarkeit seines Modells vorgeführt, und zwar anhand der wichtigsten Texte der 1960 in Tokyo geborenen, seit 1982 in Deutschland lebenden Schriftstellerin Yoko Tawada. Seinen ambitionierten Anspruch formuliert Schickhaus gegen Ende der Einleitung: „Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob und inwieweit Mannheims Modell der ‚Weltanschauungs-Interpretation‘ für die literaturwissenschaftlichen Analysen operationalisierbar und worin sein historiographischer Mehrwert für die IKLW zu suchen ist.“ (20).
Eine Antwort auf diese Frage setzt voraus, dass die Schnittmengen zwischen IKLW und Wissenssoziologie genau bestimmt werden. Eben dies leistet der dritte Abschnitt der Studie, der wegen seiner akkuraten Forschungsberichte zu beiden (Sub-)Disziplinen für alle unverzichtbar ist, die auf einem dieser Gebiete arbeiten – nicht zuletzt an Forschungsberichten wie denen von Schickhaus erweist sich die unverzichtbare Notwendigkeit gediegener Dissertationen. Geradezu zwingend ergibt sich aus diesem Abschnitt der Schluss: „Die Einsicht in die eigene Standortgebundenheit und seinsgebundene Denkweise sollte [...] Voraussetzung einer jeden fremdkulturellen Forschung sein [...].“ (58). Das im nun folgenden kulturwissenschaftlich-philosophischen Teil der Studie im Detail und von mehreren Blickwinkeln aus dargestellte und analysierte Werk Karl Mannheims basiert darauf, dass „Wahrheit“ überhistorisch veränderbar ist und dass „Wissen“ nicht als statische Ansammlung von Tatsachen gesehen werden kann, sondern „als Ideenreservoir, aus dem in Abhängigkeit von strukturellen Wandlungsprozessen unterschiedliche, wahrheitsfähige Perspektiven aktiviert werden“ (65). Der Verfasser hat die der theoretischen Reflexion gewidmeten Abschnitte vier bis acht seiner Arbeit bewusst auch wissenschaftsgeschichtlich angelegt, sodass man nicht allein über die Entstehung und Entwicklung der Wissenssoziologie informiert wird, sondern auch deren Verflechtungen mit den Denkgebäuden zahlreicher Philosophen und Kulturwissenschaftler nachvollziehen kann – hier seien nur Ernst Troeltsch, Georg Simmel, Max Weber und Alois Riegl genannt, auch Kunsthistoriker wie Erwin Panofsky und Max Imdahl oder der Kunstexperte und Schriftsteller Carl Einstein. Schickhaus arbeitet plausibel und gewinnbringend heraus, inwiefern die Mannheimschen „konjunktiven Erfahrungsräume“ (163) zur Begründung eines relationalen Verhältnisses von Eigenem und Fremdem nützlich sein können – und weshalb die polyvalente Perspektive auf den Gegenstand der Fremdheitswahrnehmung in der Literatur geradezu unvermeidlich wird.
Die Relation zwischen dem Eigenen und dem Fremden nimmt im literarischen Werk von Yoko Tawada den zentralen Platz ein. Insofern sind ihre Texte ein überaus geeignetes Experimentierfeld für Interpretationen im zuvor theoretisch entwickelten Sinne. Der Verfasser analysiert anhand von Das Bad (1989), Wo Europa anfängt (1991), Überseezungen (2002), Schwager in Bordeaux (2008), Talisman (2011), Etüden im Schnee (2014) und einiger anderer, auch japanischsprachiger, Texte, inwiefern und inwieweit Yoko Tawadas literarisch inszenierte „Fremdheit“ in weltanschaulichen Traditionen verschiedener Denkstile verortbar ist. Deutlich wird zunächst, dass ihre immer auch die Spannungen zwischen Japan und Europa verhandelnde Literatur von vornherein als „Ausdruck einer grundlegenden Skepsis gegenüber schnellen Konzepten interkulturellen Verstehens“ gelesen werden muss (176). „Motivation für Tawadas schriftstellerisches Werk ist vorrangig nicht die Auflösung von Differenzen, vielmehr geht es der Autorin um ein analytisches, diagnostizierendes Schreiben.“ (183). Ihre Texte seien in der Lage, ein offenes Bewusstsein für die polyvalente Bedeutungsvielfalt und Vermischung von Fremden und Eigenem zu schaffen – Möglichkeitsräume, deren Ausgestaltung unter anderem auch durch Zwei- oder gar Mehrsprachigkeit erfolgen kann. Immer gehe es dort um Relationales, niemals um starr feststehende Fixierungen, und immer, gerade bei der Beschreibung europäisch-japanischer Differenzkonstruktionen, gehe es um Diskursformationen und nicht um scheinbar unumstößliche Tatsachen. Der „essentialistische Blick auf das Eigene und Fremde“ (199) werde von der Autorin kreativ inszeniert und ästhetisch produktiv gemacht, wobei die von ihr gestalteten mehrsprachigen Identitäten „im Kontext von Machtausübung, Repräsentation und Exotisierung“ (217) durchaus eine politische Dimension erhalten können. Das bisherige Œuvre von Yoko Tawada, die sich auch intensiv mit dem Thema Übersetzungen befasst hat, lasse keinen Zweifel daran, „dass jede Frage nach einem nationalen Literaturkanon oder der Sesshaftigkeit ihrer Literatur nicht greift“, sondern dass es eher „einem offenen Kanon mit wechselseitigen Kommunikationskanälen“ zuzuordnen ist (229). In diesem Zusammenhang geht Schickhaus auch der vorrangig auf die Rezeption zielenden Frage nach, inwiefern die gängigen Überlegungen zur „Migrations-“ oder „Chamisso“-Literatur dem Werk Yoko Tawadas samt dessen Sub-, Kon- und Paratexten wirklich gerecht werden – literaturwissenschaftliche Überlegungen zunächst, aber auch und vor allem beliebte Einschätzungen der deutschen Literaturkritik, deren Schwachstelle oft ist (oder war), „mit monokulturellen Kategorien eine Begriffsdebatte zu führen, welche der heterogenen Vielfalt dieser Literaturen nicht gerecht wird“ (259). Wie genau und skrupulös der Verfasser die für die Debatten um Sinn oder Überflüssigkeit des Chamisso-Preises entscheidenden Probleme behandelt, sollte den Befürwortern der 2017 erfolgten Einstellung dieser wichtigen Auszeichnung erneut zu denken geben.
Die Studie von Tobias Akira Schickhaus ist nicht frei von Wiederholungen, und vor allem ist sie nicht frei von gespreizten Sprachmanierismen und verdrehten Sprachgirlanden. Was schade ist, weil es die Lektüre manchmal unnötig mühsam macht. Was Schickhaus zu sagen hat, sowohl in theoretischer als auch in praktischer, anwendungsbezogener Hinsicht, ist bemerkenswert. Wer bisher meinte, in der anhaltenden Debatte um Ort, Sinn und Zweck der Interkulturellen Literaturwissenschaft die Wissenssoziologie einfach vernachlässigen zu können, wird durch diese anregende Dissertation eines Bessern belehrt.
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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