Braungart, Wolfgang; Köhler, Helena (Hrsg.): Subjekt und Subjektivität 1800 | 1900. München: iudicium, 2015. – ISBN 978-3-86205-425-1. 231 Seiten, € 29,00.

Achim Seiffarth

doi:10.1515/infodaf-2017-0018

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Braungart, Wolfgang; Köhler, Helena (Hrsg.): Subjekt und Subjektivität 1800 | 1900. München: iudicium, 2015. – ISBN 978-3-86205-425-1. 231 Seiten, € 29,00.

Achim Seiffarth

Published/Copyright: June 27, 2017

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From the journal Informationen Deutsch als Fremdsprache Volume 44 Issue 2-3

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Braungart Wolfgang; Köhler Helena (Hrsg.): Subjekt und Subjektivität 1800 | 1900. München: iudicium, 2015. – ISBN 978-3-86205-425-1. 231 Seiten, € 29,00.

Bücher, welche Konferenzvorträge versammeln, sind ja nicht immer die reine Freude. Doch das von Wolfgang Braungart und Helena Köhler herausgegebene Werk Subjekt und Subjektivität 1800 | 1900 ist, nun: ein Bildungs-Erlebnis. Da wird von verwegenen Weltenwanderern wie Lafcadio Hearn erzählt, werden wilde Dichter wie Wilhelm Heinse oder die musikalische Genialität Camille Saint-Saëns‘ vorgestellt, tritt Carl Schmitt als Satiriker auf. Das Ganze ist wie eingeleitet durch allgemeine Überlegungen zur Rolle des Subjekts in der deutschen Philosophie (Manfred Frank) und den Versuchen einer Überwindung der Subjektivität in der Literatur von der Frühromantik bis Hermann Broch (Satoshi Kuwahara). Das einzige, was vielleicht in diesem als interkulturelles Gespräch, unter Hinweis auf Haikus und Sufi-Dichtung, angekündigten Büchlein fehlt, wäre ‚die andere Seite‘, also so etwas wie eine Selbstdarstellung östlicher Literaturen und Philosophien sowie ihrer Sicht des Westens, wenigstens des ‚Landes der Tugend‘. Die Beitragenden aus Japan, China und Indien beschäftigen sich mit deutschen Schriften und Gedanken. Das ist nun andererseits erkenntnisträchtig genug. Denn wie sich zwischen Philosophie und Literatur abzeichnet, sucht das europäische Denken und Schreiben im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert geradezu nach etwas wie einer Rückkehr ins vormoderne Seins-Denken (nach 1806 vor allem Plotins), die ihm aber verwehrt ist, und scheint daher wie notwendig in ferne Reiche auszugreifen.

Baungart beschreibt zunächst in seiner Einleitung, wie Selbstausdruck im achtzehnten Jahrhundert zum leitenden Ziel dessen wird, was wir dann Literatur nennen. „Subjektivität“ wolle er in diesem Sinne verstanden wissen, erklärt er, und nicht im Sinne „post-kolonialistischer“ Theorien als Anspruch auf ein selbsterklärtes Recht der Weltbeherrschung. Es soll um Ästhetik gehen, um Formen der Selbsterkundung, einer Reflexivität, welche an sich keineswegs ein „Privileg westlicher Kultur“ (14) sei. Denn die brauche und könne, wie Manfred Frank auf einem wilden Ritt durch zweihundert Jahre Philosophiegeschichte vorführt, keineswegs als Dominanz eines isolierten Subjekts gedacht werden, das alles andere von sich selbst in Abhängigkeit sähe und die Außenwelt zwangsläufig vergegenständliche, wie etwa Heidegger meinte: das sich selbst sehende Subjekt setze, wie schon Hölderlin und dann Schlegel gesehen haben, etwas voraus, nämlich eine grundsätzliche Vertrautheit des denkenden Ichs mit dem Ich, das da betrachtet werde. So wäre hier kein Weg zur Idee der solipsistischen Weltbeherrschung mehr offen, sondern eher ein Übergang zu verschiedensten Spielarten der Idee eines vorgängigen Seins, wie es vielleicht in fremden Kulturen gedacht worden ist.

Parallel zu Franks Schilderung der Philosophiegeschichte arbeitet Satoshi Kuwahara heraus, wie Dichter deutscher Sprache von Novalis über Eichendorff und Musil bis Broch auf antike Bilder und Gedanken zurückgreifen, um über die Position des für sich sprechenden Subjekts hinauszukommen. Nun ist der platonische oder plotinische Einfluss auf Novalis und Musil nicht unbedingt überraschend, während Eichendorff wohl noch darauf wartete, einmal in seinem Denken ernst genommen zu werden: seine Mondnacht etwa zeige, so Kuwahara, deutlich die Wirkung Hesiods und Platons, so dass sich von der Früh- über die Spätromantik bis zur Moderne ein recht beständiges Streben nach etwas aufweisen ließe, was, je nachdem, das große Eine oder einfach die Erkenntnis genannt werden und doch nie wirklich ausgedrückt werden könne. Bei Broch scheint es klar zu werden: dieses Streben nach einem Jenseits des Subjekts führt über die Grenze der Sprache hinaus und kann sich daher für orientalisches Denken öffnen. Doch geht es in den folgenden Beiträgen zunächst um historische Gestaltungen des Selbstfühlens und Selbsterkennens, erst im achtzehnten Jahrhundert bei Albrecht von Haller, welcher sich aufs jeweilige Selbstgefühl beziehe und daher Identität als etwas auffasse, was je immer wieder neu herzustellen wäre (Lothar van Laak) und bei Wilhelm Heinse als Betonung der Einzigartigkeit des Individuums (Charis Goer).

Den Übergang ins neunzehnte Jahrhundert bestimmen zwei Aufsätze über E.T.A. Hoffmann (Michael Mandelartz und Kyoko Tsuchiya), deren erster eine Auseinandersetzung mit Friedrich Kittlers These der Bestimmung des modernen Subjektivismus durch mediale Erneuerungen enthält, während im zweiten die Spuren einer karnevalesken Identitätsbildung im Werk des Romantikers nachgezeichnet werden. Bis hier geht es nur um Männer, welche ja unsere Selbsterzählung der Literatur- und Philosophiegeschichte bestimme. Birte Giesler erörtert dies unter dem Titel der „geschlechtlichen Kodierung“ von Subjektivität im Bildungsroman. Sie stellt zwei Werke von Frauen vor: Schicksale einer Seele von Hedwig Dohm (1899) und Friederike Helene Ungers Prinz Bimbam von 1802. In beiden Werken werde Bezug auf den Wilhelm Meister im Besonderen, den Bildungsroman im Allgemeinen durch Zitate und Anspielungen hergestellt, wobei der Männerbezug des Genres klar herausgestellt und zugleich die Rezeption solcher Literatur spöttisch betrachtet werde. Selbstreflexivität werde hier als „Dialog der Texte“ (67) entwickelt, also in kritischem Gegensatz zu einer sich selbst überhebenden Subjektivität. Jin Yang schreibt über die „Funktion der Liebesbriefes“ in Fontanes Romanen, nämlich über die erzählerische Rolle der Briefe in Irrungen, Wirrungen und in Effi Briest wobei vielleicht hilfreich gewesen wäre, etwas weiter historisch auszugreifen, denn nicht immer sind Briefe, auch zärtliche, in einer reinen Ich-du-Konstellation gefangen und die Spannung zwischen Abschließung und Öffnung gegenüber einem Publikum tritt in Irrungen, Wirrungen auch zutage. Insgesamt wird in dem Aufsatz deutlich, welche Rolle das Briefschreiben bei Fontane – in dramatisch sich wandelnder Zeit – bei der Ausbildung des Einzelnen spielt. Der Liebesbrief sei nicht einfach Spiegelung, sondern wirke „konstitutiv daran mit, das Gefühlsregister des bürgerlichen Subjekts zu modifizieren und zu modellieren“, meint Yang (76). Doch will bei anderen Schriftstellern dieses Subjekt über sich hinaus – oder hinter sich zurück, je nachdem. Der innere unerfüllte Drang des westlichen Denkens und Schreibens nach einer Umorientierung vom Subjekt aufs Sein führen naturgemäß zu Erkundungsversuchen. Solchen widmet sich Barbara Potthast („Japanische Vorstellungen vom Subjekt im westlichen Denken um 1900“) in ihrer Darstellung des Bildungswegs des Schriftstellers Max Dauthendey und Lafcadio Hearns. Bei beiden werde deutlich, wie die Rede des Europäers über asiatisches Denken um die Jahrhundertwende „in besonderer Weise Auskunft über westliche Bewusstseinszustände“ gäbe. Das westliche Denken will über die Subjektivität hinaus und sucht sich dazu in Asien, was ihm passend erscheint. Dass so etwas nicht einfach als „Exotismus“ abgetan werden sollte, erläutert Rosy Singh in ihrer Studie („Rilke, Rodin und Cezanne“) über einen Brief Rilkes zu Rodins Darstellung kambodschanischer Tänzerinnen und drei seiner Gedichte, welche Buddha zum Gegenstand haben. Hier schaffe Rilke Bilder des Heiligen, derer das europäische Denken zu bedürfen scheint. Dass es im „Anderen“, Fremden sucht, stecke schließlich in der Idee des Heiligen – und der Kunst – selbst, und sei deshalb nicht als exotistisch zu kritisieren.

Mit Rilke ist das zwanzigste Jahrhundert erreicht. Jan Andres sucht in der Romantik-Kritik des jungen Carl Schmitt einen weiteren Versuch auf, das Schwanken und die Schwäche des modernen europäischen Subjektivismus zu überwinden. Schmitt kritisiert die Romantiker als „Okkasionalisten“, als Denker, welche in allem vom Gegenstand des Augenblicks abhängig blieben und daher zu keiner politisch tragfähigen Idee fähig seien. Kurios ist daran, dass Schmitt selbst vor der Veröffentlichung der Politischen Romantik eine satirische Kritik der Bilder immer neuer Systeme als Buribunken in einer Zeitschrift Franz Bleis veröffentlicht hatte. Er stand der literarischen Avantgarde also persönlich gar nicht fern, die er öffentlich so strikt zurückzuweisen sich bemühte.

Der letzte Artikel von Werner Keil ist der Frage gewidmet, ob das „musikalische Genie“ als Subjekt oder als Medium eines Größeren verstanden werde. Im theosophischen Denken (wieder so eine europäische Lehre mit mehr oder weniger asiatischen Wurzeln) des Komponisten Cyril Scotts komme es zu einer Verschmelzung beider Gedanken. Das Genie zeige sich im Wahrnehmen des Heiligen, welches gerade darin sich selbst äußere, dass es erkannt werde.

Ein weiterer Aufsatz des Bandes behandelt ohne Anspruch darauf, etwas Neues zu sagen, die „Idee der Bildung um 1800 und ihre mögliche Bedeutung für Indien in der Gegenwart“ (193). Chandrika Kumar erläutert dort zunächst Grundzüge des Bildungsgedankens und stellt dann einige Aspekte der Schulsituation in Indien dar. Das ist vielleicht weit weg, aber auch für uns Deutschlehrer könnte sich damit die Frage stellen, ob wir tatsächlich nur kommunikative Sprachkurse von A1 bis C2 anbieten sollen, in welchen das Funktionieren im Mittelpunkt steht, oder ob wir nicht besser andere Formen suchen sollten, um Fragen des gelungenen Ausdrucks, des mehrfach gespiegelten Selbstbildes, des praktischen Verhandelns in den Mittelpunkt zu stellen, also etwas, was zur Idee der Bildung in Beziehung gesetzt werden kann.

Online erschienen: 2017-6-27

Erschienen im Druck: 2017-6-8

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https://doi.org/10.1515/infodaf-2017-0018