Reviewed Publication:
Baillot Anne From Handwriting to Footprinting: Text and Heritage in the Age of Climate Crisis Cambridge Open Book Publishers 2023 179 Seiten ISBN 978-1-80511-089-7, https://doi.org/10.11647/OBP.0355
Schreiben, Publizieren und Archivieren sind vermutlich nicht die ersten Aktivitäten, die einem in den Sinn kommen, wenn nach den Ursachen für die Klimakrise gefragt wird. Dass es dennoch nicht abwegig ist, sich darüber Gedanken zu machen, zeigt dieses Buch. Anne Baillot, Professorin für Germanistik an der Universität Le Mans, unternimmt darin, ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen als Wissenschaftlerin, „a journey through text“. Sie beschreibt und analysiert die Zugangsmethoden zu analogen wie digitalen textuellen Materialien und spannt einen Bogen von alten Handschriften über kulturgeschichtliche Aspekte von Texten und den drei textbezogenen Praktiken Archivieren, Editieren und Publizieren zu deren Umweltauswirkungen.
Das erste Kapitel besteht aus historischen und theoretischen Anmerkungen zum Archivieren. Baillot betont die Bedeutung von Regeln (z. B. zur Sortierung) und Metadaten. Sie weist darauf hin, dass die Rolle des Archivars oder der Archivarin nicht nur darin besteht, Dokumente aufzubewahren, sondern auch zu entscheiden, welche Dokumente aufbewahrt werden sollen und dass Archivierungsstrategien oft eng mit politischen Zielen und der Konstruktion nationaler Narrative verbunden sind.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Publizieren, insbesondere von literarischen Texten. Baillot beschreibt darin das Aufkommen der Verleger im 17. und 18. Jahrhundert und wie sie im 18. und 19. Jahrhundert zu Schlüsselfiguren wurden. Das Verhältnis Autor/Verleger schildert sie am Beispiel Goethes und Cottas. In einem großen zeitlichen Sprung geht es dann um die Frage, wie der Wandel zu digitalen Formaten dieses Verhältnis sowie das Leseverhalten verändert. Die Autorin weist darauf hin, dass der Mehrwert, der vom Verlag hinzugefügt wird, im Digitalen fraglich ist, wenn Autorinnen und Autoren Texte selbst setzen, verbreiten und (z. B. über soziale Medien) bewerben können.
Im dritten Kapitel „What the climate crisis does to text“ wendet sich die Autorin schließlich der Frage der Ökobilanz von textuellen Materialien zu. Eine quantitative Analyse ist hier freilich nicht zu erwarten, Baillot weist zu Recht darauf hin, wie schwierig es ist, die bei den verschiedenen Aktivitäten entstehenden CO2-Emissionen und erst recht die Auswirkungen auf die Artenvielfalt oder den Wasserhaushalt abzuschätzen. Wie wiegt man die Produktion und den Transport von Büchern gegen die Herstellung und den Stromverbrauch von digitalen Endgeräten auf, zumal bei Letzteren ja die Art und Intensität der Nutzung eine starke Rolle spielt? Naheliegende und einfache Faustregel: Je mehr Menschen von einem Artefakt profitieren, desto geringere Auswirkungen hat die einzelne Nutzung. Ein Problem sieht die Autorin im kompetitiven akademischen Betrieb, der von den Forschenden immer mehr Aktivitäten, Reisen, Publikationen erfordert. Nachhaltigkeit bringt keine akademischen Lorbeeren, eher im Gegenteil.
Nach den allgemeinen Überlegungen im ersten Abschnitt dieses Kapitels widmet sich die Autorin im zweiten Abschnitt einem konkreten Beispiel – nämlich dem vorliegenden Buch. „Trying to make this book an environmental lightweight“ ist der Abschnitt betitelt und Baillot schildert darin, wie sie diese Herausforderung in Zusammenarbeit mit dem Verlag angegangen ist. So war beispielsweise für die Recherche nur eine Fahrt mit dem Zug von Frankreich nach Oxford und ansonsten keine weitere Reise notwendig. Das Buch enthält ausschließlich Text, es wurde, auch im Sinne der Barrierefreiheit, bewusst auf Grafiken und Diagramme verzichtet. Abgesehen von einzelnen Bibliotheks- und Rezensionsexemplaren wird das Buch nur als Print on Demand gedruckt. Der Verlag, Open Book Publishers, trägt unter anderem mit einer im Design minimalistischen Webseite, dem Verzicht auf gedruckte Kataloge und dem Verzicht auf die Teilnahme an Buchmessen aufgrund einer strikten No-Flight-Policy dazu bei. Auch wenn man die Wirksamkeit mancher Maßnahmen sicherlich hinterfragen kann, bietet der Abschnitt einen detaillierten Blick auf die möglichen Stellschrauben für eine klimafreundliche Buchproduktion. Ganz nebenbei gewährt er damit allgemeine Einblicke in die Abläufe bei der Produktion eines Buches.
Offenheit ist für Baillot ein wichtiger Aspekt bei Zugänglichkeit, Bewahrung und Nachhaltigkeit. Gemeinsame, öffentliche Infrastruktur, die Standards folgt und von vielen genutzt wird, ist nachhaltiger als proprietäre Lösungen hinter Bezahlschranken. Beim Thema Zugang zum Kulturerbe weist sie zu Recht darauf hin, dass Offenheit auch sprachliche Zugänglichkeit bedeutet und plädiert für mehrsprachige Erklärungen zumindest auf Metadaten-Ebene.
Umso ärgerlicher, dass die sonst so penible Autorin beim Thema Open Access einiges durcheinanderbringt oder zumindest ihre ungewöhnliche Verwendung der Begriffe nicht definiert, wenn sie schreibt (S. 124) „I definitely take for granted that green Open Access, with no barriers and little editorial added value, is more environmentally friendly than gold Open Access, which can only be accessed through a paywall with data tracking, relying on tailored hosting solutions and in-house formats.“ Mit „green Open Access“ ist offenbar nicht die Zweitveröffentlichung einer Verlagspublikation, sondern die Erstveröffentlichung in einem Repositorium gemeint, und selbst wenn man annimmt, dass mit „paywall“ die finanzielle Barriere beim Veröffentlichen und nicht beim Zugriff gemeint ist, bedeutet das die immer häufiger zu lesende, aber problematische Gleichsetzung von Gold Open Access mit einer Finanzierung über Artikelgebühren (APCs).
Erstaunlich ist, dass ein Schlagwort der letzten Zeit, ChatGPT (bzw. Large Language Models im allgemeinen oder künstliche Intelligenz noch allgemeiner) im ganzen Buch mit keinem Wort erwähnt wird. Unter all den Betrachtungen, was ein Text ist, was einen Text ausmacht oder wie das Verhältnis von Autor zu Text aussieht, kommt das Thema nicht zur Sprache. Bei aller Skepsis gegenüber dem aktuellen Hype sind hier sicher einschneidendere Änderungen als in der Vergangenheit zu erwarten bzw. schon zu sehen, die ganz neue philosophische Fragen aufwerfen. Ebenso wenig findet das Thema bei der Betrachtung der Umweltauswirkungen Erwähnung, obwohl auch diese sicher größer sind als von vielen anderen diskutierten Aspekten. Erklären lässt sich das vermutlich damit, dass der Schreibprozess des Buches im September 2022 beendet war, zwei Monate bevor die erste Version von ChatGPT veröffentlicht wurde.
From Handwriting to Footprinting ist manchmal eine tiefschürfende kulturgeschichtliche und philosophische Abhandlung, liest sich stellenweise wie ein Lehrbuch (etwa wenn es um die Bedeutung von Versionierung und Metadaten bei digitalen Archiven oder die Vorteile von XML für Archivierung und Maschinenlesbarkeit geht) und ist insbesondere im dritten Kapitel ein Appell, das eigene Handeln in puncto Klimaschutz auch dort zu hinterfragen, wo es nicht offensichtlich ist. Darin liegt einerseits ein Reiz, andererseits läuft das Buch damit Gefahr, für die einen zu theoretisch und für die anderen zu technisch zu sein. Dadurch ist auch die Zielgruppe nicht klar einzugrenzen, der Klappentext legt diese mit „anyone interested in textual history from a linguistic or philological perspective, as well as those working on publishing, archival and infrastructure projects that require the storing and long-term preservation of texts, or who want to know how to develop a more mindful attachment to digitised material“ entsprechend breit an und hat damit wahrscheinlich noch nicht einmal alle umfasst. Da es sich aber um einen relativ dünnen Band handelt, der im Open Access frei zugänglich ist, kann trotz mancher Schwächen bedenkenlos auch über die Genannten hinaus allen Interessierten empfohlen werden, zumindest einen Blick in das Buch zu werfen. Konkrete Antworten sind nicht unbedingt zu erwarten, aber jede Menge Denkanstöße.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- Hassan Soilihi Mzé: Geöffnet – Gelenkt – Umgebaut. Universitätsbibliothek Leipzig, Deutsche Bücherei und Leipziger Stadtbibliothek zwischen institutioneller Reorganisation und politischer Instrumentalisierung (1945–1968/69). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2023. 266 S., ISBN 978-3-96023-555-2. Hardcover € 33,–
- Madeleine C. Fombad, Collence Takaingenhamo Chisita, Omwoyo Bosire Onyancha und Mabel K. Minishi-Majanja (Hrsg.): Information Services for a Sustainable Society: Current Developments in an Era of Information Disorder. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2023. VII, 369 Seiten: Illustrationen, 129,00 €, ISBN 978-3-11-077268-5. Auch als PDF & EPUB
- Stefan Alker-Windbichler, Axel Kuhn, Benedikt Lodes, Günther Stocker (Hrsg.): Akademisches Lesen. Medien, Praktiken, Bibliotheken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, V&R unipress 2022. 370 S.
- Verena-Christin Schmidt: Digitale und hybride Lernraumgestaltung in Wissenschaftlichen Bibliotheken, Wiesbaden: b.i.t. verlag gmbh, 2023, 118 Seiten, 24,50 €, ISBN 978-3-9824425-5-6
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